»Die Betrachtungen waren also eine Kampfschrift, aber doch zugleich schon ein leidenschaftliches Stück Arbeit der Selbsterforschung und der Revision meiner Grundlagen... Aber Selbsterforschung ist meist schon der erste Schritt zur Wandlung, und ich erfuhr, daß niemand ganz der bleibt, der er war, indem er sich erkennt.« Thomas Mann, On Myself
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 15.11.2009Auf dem verlassenen Schlachtfeld
Es ist das Buch, über das auch Thomas-Mann-Freunde betreten schweigen. Jetzt erscheinen die "Betrachtungen eines Unpolitischen" in der kommentierten Ausgabe von Hermann Kurzke - und können völlig neu gelesen werden
Ende September 1918. Thomas Mann schläft schlecht: "Mir träumte, ich sei in bester Freundschaft mit Heinrich zusammen und ließe ihn aus Gutmütigkeit eine ganze Anzahl Kuchen, kleine à la crème und zwei Bäcker-Tortenstücke, allein aufessen, indem ich auf meinen Anteil verzichtete. Gefühl der Ratlosigkeit, wie sich denn diese Freundschaft mit dem Erscheinen der Betrachtungen vertrage. Das gehe doch nicht an und sei eine völlig unmögliche Lage. Gefühl der Erleichterung beim Erwachen, daß es ein Traum gewesen."
Am Tag zuvor hatte er das erste Exemplar seines neuen Buches in den Händen gehalten, sorgenvoll. Er hatte die Auslieferung noch stoppen wollen, hatte ein Telegramm an seinen Verleger Samuel Fischer geschickt, doch der schrieb zurück, es lägen schon 3000 Vorbestellungen für das Buch vor, da sei jetzt wirklich nichts mehr zu machen. "Die Betrachtungen eines Unpolitischen" erscheinen zum denkbar ungünstigsten Zeitpunkt. Der Krieg geht zu Ende, Deutschland steht vor der totalen Niederlage, der Kaiser wird abtreten, die Republik wird kommen, Heinrich Mann wird ihr Repräsentationsschriftsteller sein, und Thomas Mann ist mit einem Buch auf dem Markt, in dem all dies erbittert bekämpft wird: Frankreich, die Demokratie und Heinrich Mann. Das Buch eines Verlierers erscheint im Augenblick seiner größten Niederlage. Was für ein Albtraum!
"Die Betrachtungen eines Unpolitischen" führen bis heute ein Schattendasein im Werk Thomas Manns. Es ist das peinliche Buch im Schaffen des späteren Vorbilddemokraten, die "Generalrevision seiner geistigen Grundlagen", wie er es selber nannte: ein reaktionäres Manifest mit einem "herzhaft herausfahrenden Patriotismus" auf über 600 Seiten. Und also ist es natürlich das Buch, dessen Erscheinen im Rahmen der "Großen kommentierten Frankfurter Ausgabe" der Werke Thomas Manns mit der größten Spannung erwartet wurde. Jetzt ist es da, herausgegeben und kommentiert von Hermann Kurzke, dem hellsichtigsten und leserzugewandtesten unter den Thomas-Mann-Forschern der Welt. Die "Betrachtungen" sind sein Lebensthema, schon in seiner Dissertation vor beinahe vierzig Jahren hat er sich mit diesem monolithischen Großessay auseinandergesetzt.
Mit der kommentierten Ausgabe verfolgt Kurzke ein großes Ziel: dieses unbekannte Buch Thomas Manns neu zu lesen und zu deuten, ja, im Grunde den ganzen Thomas Mann. Im Nachwort schreibt Kurzke: "Ohne die ,Betrachtungen eines Unpolitischen' weiß man nicht, wer Thomas Mann wirklich war. Dennoch sind sie das mit Abstand unbekannteste unter seinen Hauptwerken. Geschrieben von 1915 bis 1918, sind sie das dunkle Zentrum, das alle Anziehungen und Abstoßungen organisiert. Sie kommen aus dem Krieg und sind verrufen wie ein verlassenes Schlachtfeld, über dem noch die Geier kreisen. Sie gelten als reaktionär und werden deshalb oft ausgegrenzt, aber es ist möglich und es wird Zeit, sie endlich in den liberalen Diskurs einzuspeisen."
Ein solch ehrgeiziges Ziel wurde im Rahmen dieser Thomas-Mann-Ausgabe noch bei keinem Band erhoben. Ja, es ist überhaupt entschieden ungewöhnlich, einundneunzig Jahre nach dem Erscheinen eines Buches, über das sich mit der Zeit ein Interpretationskonsens eingependelt hat, diesen Konsens im Rahmen der amtlichen Ausgabe nicht nur in Frage zu stellen, sondern das Buch quasi testamentarisch neu zu deuten. Denn diese Ausgabe kommt in ihren schwarzen Glanzschubern, in denen jeweils Text- und Kommentarband vereint erscheinen, schon optisch als eine Art Gesetzbuchsammlung daher. Die Ausgabe wird auf unabsehbare Zeit die amtliche Thomas-Mann-Ausgabe sein.
Aber der Reihe nach: Die "Betrachtungen eines Unpolitischen" sind Thomas Manns Kriegsbuch. Es ist das Buch, das er schrieb, als ihn die Zeitereignisse so bedrängten, dass er den "Zauberberg", an dem er beim Ausbruch des Krieges arbeitete, nicht fortführen konnte, weil er fürchtete, den Roman mit Diskursen und Empörungen zu überladen. Vor allem fürchtete er die eigene Parteilichkeit. Roman-Schreiben ist für Thomas Mann immer das Gegenteil von Parteilichkeit gewesen. Wer im Roman gerade redet, hat recht. Das ist die Gerechtigkeit des Romanweltschöpfers. Doch Mann war zur Weltkriegszeit nicht nach Gerechtigkeit und Überparteilichkeit zumute. Ihm war nach unbedingter Parteinahme, das hätte den "Zauberberg" zerstört, also schrieb er die "Betrachtungen" und leistete "seinen Kriegsdienst am Schreibtisch". Diesem Produkt soll nun also Gerechtigkeit widerfahren.
Zitate als Waffe
Es ist ein schwieriges und heikles Unterfangen, das Kurzke sich da vorgenommen hat. Natürlich sind die "Betrachtungen" an keiner Stelle so geschmacklos, waffenstarrend, nationalistisch begeistert wie die Texte, die Mann in den ersten Kriegsmonaten schrieb. Im Gegenteil. Man kann die Entstehungsphasen des Buches schon anhand einer immer weiter fortschreitenden Zurücknahme des nationalen Pathos erkennen. Das ganz am Ende geschriebene Vorwort ist von einer so defensiven Rückzugsdialektik, dass man viele Sätze mehrfach lesen muss, um zu verstehen, was da jetzt wieder halb zurückgenommen wurde, um es im nächsten Satz dann doch wieder mit schlechtem Gewissen behaupten zu können. Je klarer Thomas Mann sieht, dass er bald auf der Verliererseite stehen wird, desto verdrechselter wird sein Stil. Hinzu kommt, dass der Zitat- und Montagekünstler Thomas Mann in diesem Buch Zitate in bislang ungeahnter Menge versteckte. Er selbst schreibt dazu: "Zitieren wurde als Kunst empfunden, ähnlich derjenigen, den Dialog in die Erzählung zu spannen, und mit ähnlich rhythmischer Wirkung zu üben gesucht." Mehr als um den Rhythmus ging es ihm aber natürlich darum, einerseits Zitatgeber als Eideshelfer und Unterstützer herbeizurufen. Andererseits sollte, wenn hier schon, anders als im Roman, nur einer spricht und einer recht hat, dieser wenigstens in vielen Zungen reden. Kurzke hatte nun die Freude und philologische Ameisenarbeit, all diese Zitate, die zum großen Teil nicht einmal als Zitate gekennzeichnet sind, den ursprünglichen Sprechern zuzuordnen. Die zu Recht stolz präsentierten Rekordzahlen des Buches lauten: "2561 doppelte Gänsefüßchen", "4000 Zitate" von "400 Personen". Und am staunenswertesten: "2 Prozent ungelöste Rätsel" am Ende. Kurzke und seine Helfer haben ganze Zeitungsjahrgänge nach Fundstellen durchsucht, Bibliotheken, Werke. Man liest beeindruckt die Stellenkommentare. Es ist ja auch in den Romanen immer wieder schön zu lesen, wie Mann mitunter seitenweise aus Zeitungsartikeln, Sachbüchern, Lexika abschrieb und dazu so schön erklärte: "Erfinden", das sei für ihn "höheres Finden". Von vielen der zitierten Bücher kannte Mann natürlich nur die zitierten Stellen oder entnahm sie auch nur Sekundärquellen oder dem Hörensagen. Kurzke schreibt dazu: "Die Erschaffung des Größenselbst am Geisterhimmel kommt nicht ohne Hochstapelei aus." Das in den Komentaren zu verfolgen macht großen Spaß. Obwohl es dem normalen, unmikroskopischen Leser natürlich im Detail unglaublich egal ist, wo jetzt welches Zitat genau gefunden wurde. In manchen Fällen möchte man auf keinen Fall genau wissen, wie viele Wochen Arbeitszeit in die Suche nach der Quelle eines Mikrozitats investiert wurden. Aber es ist nicht nur Dekonstruktionslust und Freude am Geister-Detektivspiel, das Kurzke auch noch die entferntesten Zitate suchen lässt. Sondern er nutzt es auch für seine zentrale These, wenn er am Ende schreibt: "So zeigt die Analyse der Quellen, dass sein Horizont ein ganz eigenständiger ist und dass die Traditionen, in denen er sich bewegt, nur ein relativ kleines Deckungssegment mit denen der konservativen Bewegung teilen."
Es ist Teil von Kurzkes Plan, den wahren Thomas Mann hinter den bloßen Kriegsmeinungen hervortreten zu lassen. "Es ist leicht" schreibt er, "große Bereiche dieser Sinnstiftung als bloße Ideologie zu entlarven." Und es ist in der Tat interessant und mitunter furios, wie Kurzke dieses Kriegsbuch, eines der entschlossensten, bösartigsten Bücher der deutsch-französischen Feindschaft, als das Werk eines liberalen Ironikers liest, der unter dem Druck der Umstände, aus Ehrgeizgründen, aus Gründen künstlerischer Erschöpfung zu diesen forschen Kriegsmeinungen fand.
Mein Gegner bin ich
Meinungen - hier setzt Kurzke an. Man habe die "Betrachtungen" immer anhand der Meinungen gemessen, "aber das Buch unterscheidet zwischen Sein und Meinen". Und er, Kurzke, setzt auf jenes "Sein". Das ist natürlich sehr feinsinnig und hat seine Berechtigung vor allem darin, dass Thomas Mann sich in diesem Buch tatsächlich unaufhörlich selbst widerspricht, eine eben noch feurig vorgetragene Verfluchung auf der nächsten Seite schon wieder zurücknimmt. Er beschreibt auch immer wieder seine eigene Rolle als "Zivilisationsliterat", als jener Mann also, der doch eigentlich der Hauptgegner des ganzen Buches ist und in dem er eigentlich seinen Bruder Heinrich karikiert hatte. Ja, er erkennt den Zwiespalt, in dem er steckt, und dass ihm als müdem Décadent die feurig-nationalistischen Meinungen im Grunde gar nicht zustehen. Er bezichtigt sich selbst, dass im Jahr 1900, als die "Buddenbrooks" erschienen, in Deutschland ein "bei keinem Kulturvolk je gehörter Fruchtbarkeitsrückgang beginnt", und erkennt da einen direkten Zusammenhang. Aber gleichzeitig habe er doch immer auch Gegenkräfte gesetzt, habe doch im "Tonio Kröger" deutlich gemacht, dass man "Leute, die viel lieber in Pferdebüchern mit Momentaufnahmen lesen" nicht zur Poesie verführen soll.
Ja, die "Betrachtungen" sind auch heute noch ein unglaublich interessantes, schillerndes, entlarvendes, gelehrtes, böses, hanebüchenes Buch, und Thomas Manns Wirken und Wollen war schwankend und zweifelnd, so sehr er sich auch um eine militärische Haltung bemühte. Aber Kurzke ist so sehr bemüht, dieses Buch ganz anders zu lesen, dass er es übertreibt. Wenn er im Nachwort von dem "wirklichen Thomas Mann" schreibt, den man hier erkenne; wenn er in den Kommentaren erklärt, wie man die "Betrachtungen" "richtig liest", dann sträubt sich im Leser alles gegen diese neue, verharmlosende Zwangslektüre. Auch Kurzke weiß nicht, wie man dieses komplizierte Buch "richtig" liest, auch er kennt, trotz lebenslanger Extremlektüre, leider nicht "den wirklichen Thomas Mann".
Aber er stellt hier entschlossen einen anderen vor, als wir ihn bislang kannten. Das ist ungemein anregend und interessant und hält das Werk Thomas Manns auch an seinen scheinbar dunkelsten Stellen lebendig. Es ist auch interessant, an dieser Stelle noch einmal darauf hinzuweisen, dass sich in diesem deutsch-nationalen, kriegerischen Kampfbuch nicht eine antisemitische Stelle findet. Sondern dass im Gegenteil vor der möglichen Machtübernahme antisemitischer Straßenredner in einer zukünftigen Demokratie gewarnt wird.
Und die Kuchen à la creme und zwei Bäcker-Tortenstücke, die haben die Brüder später ja wahrscheinlich auch noch geteilt. Heinrich Mann sagte zu seiner Nichte Erika, als sie ihn 1946 in Amerika im Auto nach Hause brachte: "Mit deinem Vater verstehe ich mich politisch jetzt wirklich recht gut. Etwas radikaler ist er, als ich."
VOLKER WEIDERMANN
Thomas Mann: "Betrachtungen eines Unpolitischen". Herausgegeben und kommentiert von Hermann Kurzke. Zwei Bände, 1420 Seiten, Verlag S. Fischer, 80 Euro
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Es ist das Buch, über das auch Thomas-Mann-Freunde betreten schweigen. Jetzt erscheinen die "Betrachtungen eines Unpolitischen" in der kommentierten Ausgabe von Hermann Kurzke - und können völlig neu gelesen werden
Ende September 1918. Thomas Mann schläft schlecht: "Mir träumte, ich sei in bester Freundschaft mit Heinrich zusammen und ließe ihn aus Gutmütigkeit eine ganze Anzahl Kuchen, kleine à la crème und zwei Bäcker-Tortenstücke, allein aufessen, indem ich auf meinen Anteil verzichtete. Gefühl der Ratlosigkeit, wie sich denn diese Freundschaft mit dem Erscheinen der Betrachtungen vertrage. Das gehe doch nicht an und sei eine völlig unmögliche Lage. Gefühl der Erleichterung beim Erwachen, daß es ein Traum gewesen."
Am Tag zuvor hatte er das erste Exemplar seines neuen Buches in den Händen gehalten, sorgenvoll. Er hatte die Auslieferung noch stoppen wollen, hatte ein Telegramm an seinen Verleger Samuel Fischer geschickt, doch der schrieb zurück, es lägen schon 3000 Vorbestellungen für das Buch vor, da sei jetzt wirklich nichts mehr zu machen. "Die Betrachtungen eines Unpolitischen" erscheinen zum denkbar ungünstigsten Zeitpunkt. Der Krieg geht zu Ende, Deutschland steht vor der totalen Niederlage, der Kaiser wird abtreten, die Republik wird kommen, Heinrich Mann wird ihr Repräsentationsschriftsteller sein, und Thomas Mann ist mit einem Buch auf dem Markt, in dem all dies erbittert bekämpft wird: Frankreich, die Demokratie und Heinrich Mann. Das Buch eines Verlierers erscheint im Augenblick seiner größten Niederlage. Was für ein Albtraum!
"Die Betrachtungen eines Unpolitischen" führen bis heute ein Schattendasein im Werk Thomas Manns. Es ist das peinliche Buch im Schaffen des späteren Vorbilddemokraten, die "Generalrevision seiner geistigen Grundlagen", wie er es selber nannte: ein reaktionäres Manifest mit einem "herzhaft herausfahrenden Patriotismus" auf über 600 Seiten. Und also ist es natürlich das Buch, dessen Erscheinen im Rahmen der "Großen kommentierten Frankfurter Ausgabe" der Werke Thomas Manns mit der größten Spannung erwartet wurde. Jetzt ist es da, herausgegeben und kommentiert von Hermann Kurzke, dem hellsichtigsten und leserzugewandtesten unter den Thomas-Mann-Forschern der Welt. Die "Betrachtungen" sind sein Lebensthema, schon in seiner Dissertation vor beinahe vierzig Jahren hat er sich mit diesem monolithischen Großessay auseinandergesetzt.
Mit der kommentierten Ausgabe verfolgt Kurzke ein großes Ziel: dieses unbekannte Buch Thomas Manns neu zu lesen und zu deuten, ja, im Grunde den ganzen Thomas Mann. Im Nachwort schreibt Kurzke: "Ohne die ,Betrachtungen eines Unpolitischen' weiß man nicht, wer Thomas Mann wirklich war. Dennoch sind sie das mit Abstand unbekannteste unter seinen Hauptwerken. Geschrieben von 1915 bis 1918, sind sie das dunkle Zentrum, das alle Anziehungen und Abstoßungen organisiert. Sie kommen aus dem Krieg und sind verrufen wie ein verlassenes Schlachtfeld, über dem noch die Geier kreisen. Sie gelten als reaktionär und werden deshalb oft ausgegrenzt, aber es ist möglich und es wird Zeit, sie endlich in den liberalen Diskurs einzuspeisen."
Ein solch ehrgeiziges Ziel wurde im Rahmen dieser Thomas-Mann-Ausgabe noch bei keinem Band erhoben. Ja, es ist überhaupt entschieden ungewöhnlich, einundneunzig Jahre nach dem Erscheinen eines Buches, über das sich mit der Zeit ein Interpretationskonsens eingependelt hat, diesen Konsens im Rahmen der amtlichen Ausgabe nicht nur in Frage zu stellen, sondern das Buch quasi testamentarisch neu zu deuten. Denn diese Ausgabe kommt in ihren schwarzen Glanzschubern, in denen jeweils Text- und Kommentarband vereint erscheinen, schon optisch als eine Art Gesetzbuchsammlung daher. Die Ausgabe wird auf unabsehbare Zeit die amtliche Thomas-Mann-Ausgabe sein.
Aber der Reihe nach: Die "Betrachtungen eines Unpolitischen" sind Thomas Manns Kriegsbuch. Es ist das Buch, das er schrieb, als ihn die Zeitereignisse so bedrängten, dass er den "Zauberberg", an dem er beim Ausbruch des Krieges arbeitete, nicht fortführen konnte, weil er fürchtete, den Roman mit Diskursen und Empörungen zu überladen. Vor allem fürchtete er die eigene Parteilichkeit. Roman-Schreiben ist für Thomas Mann immer das Gegenteil von Parteilichkeit gewesen. Wer im Roman gerade redet, hat recht. Das ist die Gerechtigkeit des Romanweltschöpfers. Doch Mann war zur Weltkriegszeit nicht nach Gerechtigkeit und Überparteilichkeit zumute. Ihm war nach unbedingter Parteinahme, das hätte den "Zauberberg" zerstört, also schrieb er die "Betrachtungen" und leistete "seinen Kriegsdienst am Schreibtisch". Diesem Produkt soll nun also Gerechtigkeit widerfahren.
Zitate als Waffe
Es ist ein schwieriges und heikles Unterfangen, das Kurzke sich da vorgenommen hat. Natürlich sind die "Betrachtungen" an keiner Stelle so geschmacklos, waffenstarrend, nationalistisch begeistert wie die Texte, die Mann in den ersten Kriegsmonaten schrieb. Im Gegenteil. Man kann die Entstehungsphasen des Buches schon anhand einer immer weiter fortschreitenden Zurücknahme des nationalen Pathos erkennen. Das ganz am Ende geschriebene Vorwort ist von einer so defensiven Rückzugsdialektik, dass man viele Sätze mehrfach lesen muss, um zu verstehen, was da jetzt wieder halb zurückgenommen wurde, um es im nächsten Satz dann doch wieder mit schlechtem Gewissen behaupten zu können. Je klarer Thomas Mann sieht, dass er bald auf der Verliererseite stehen wird, desto verdrechselter wird sein Stil. Hinzu kommt, dass der Zitat- und Montagekünstler Thomas Mann in diesem Buch Zitate in bislang ungeahnter Menge versteckte. Er selbst schreibt dazu: "Zitieren wurde als Kunst empfunden, ähnlich derjenigen, den Dialog in die Erzählung zu spannen, und mit ähnlich rhythmischer Wirkung zu üben gesucht." Mehr als um den Rhythmus ging es ihm aber natürlich darum, einerseits Zitatgeber als Eideshelfer und Unterstützer herbeizurufen. Andererseits sollte, wenn hier schon, anders als im Roman, nur einer spricht und einer recht hat, dieser wenigstens in vielen Zungen reden. Kurzke hatte nun die Freude und philologische Ameisenarbeit, all diese Zitate, die zum großen Teil nicht einmal als Zitate gekennzeichnet sind, den ursprünglichen Sprechern zuzuordnen. Die zu Recht stolz präsentierten Rekordzahlen des Buches lauten: "2561 doppelte Gänsefüßchen", "4000 Zitate" von "400 Personen". Und am staunenswertesten: "2 Prozent ungelöste Rätsel" am Ende. Kurzke und seine Helfer haben ganze Zeitungsjahrgänge nach Fundstellen durchsucht, Bibliotheken, Werke. Man liest beeindruckt die Stellenkommentare. Es ist ja auch in den Romanen immer wieder schön zu lesen, wie Mann mitunter seitenweise aus Zeitungsartikeln, Sachbüchern, Lexika abschrieb und dazu so schön erklärte: "Erfinden", das sei für ihn "höheres Finden". Von vielen der zitierten Bücher kannte Mann natürlich nur die zitierten Stellen oder entnahm sie auch nur Sekundärquellen oder dem Hörensagen. Kurzke schreibt dazu: "Die Erschaffung des Größenselbst am Geisterhimmel kommt nicht ohne Hochstapelei aus." Das in den Komentaren zu verfolgen macht großen Spaß. Obwohl es dem normalen, unmikroskopischen Leser natürlich im Detail unglaublich egal ist, wo jetzt welches Zitat genau gefunden wurde. In manchen Fällen möchte man auf keinen Fall genau wissen, wie viele Wochen Arbeitszeit in die Suche nach der Quelle eines Mikrozitats investiert wurden. Aber es ist nicht nur Dekonstruktionslust und Freude am Geister-Detektivspiel, das Kurzke auch noch die entferntesten Zitate suchen lässt. Sondern er nutzt es auch für seine zentrale These, wenn er am Ende schreibt: "So zeigt die Analyse der Quellen, dass sein Horizont ein ganz eigenständiger ist und dass die Traditionen, in denen er sich bewegt, nur ein relativ kleines Deckungssegment mit denen der konservativen Bewegung teilen."
Es ist Teil von Kurzkes Plan, den wahren Thomas Mann hinter den bloßen Kriegsmeinungen hervortreten zu lassen. "Es ist leicht" schreibt er, "große Bereiche dieser Sinnstiftung als bloße Ideologie zu entlarven." Und es ist in der Tat interessant und mitunter furios, wie Kurzke dieses Kriegsbuch, eines der entschlossensten, bösartigsten Bücher der deutsch-französischen Feindschaft, als das Werk eines liberalen Ironikers liest, der unter dem Druck der Umstände, aus Ehrgeizgründen, aus Gründen künstlerischer Erschöpfung zu diesen forschen Kriegsmeinungen fand.
Mein Gegner bin ich
Meinungen - hier setzt Kurzke an. Man habe die "Betrachtungen" immer anhand der Meinungen gemessen, "aber das Buch unterscheidet zwischen Sein und Meinen". Und er, Kurzke, setzt auf jenes "Sein". Das ist natürlich sehr feinsinnig und hat seine Berechtigung vor allem darin, dass Thomas Mann sich in diesem Buch tatsächlich unaufhörlich selbst widerspricht, eine eben noch feurig vorgetragene Verfluchung auf der nächsten Seite schon wieder zurücknimmt. Er beschreibt auch immer wieder seine eigene Rolle als "Zivilisationsliterat", als jener Mann also, der doch eigentlich der Hauptgegner des ganzen Buches ist und in dem er eigentlich seinen Bruder Heinrich karikiert hatte. Ja, er erkennt den Zwiespalt, in dem er steckt, und dass ihm als müdem Décadent die feurig-nationalistischen Meinungen im Grunde gar nicht zustehen. Er bezichtigt sich selbst, dass im Jahr 1900, als die "Buddenbrooks" erschienen, in Deutschland ein "bei keinem Kulturvolk je gehörter Fruchtbarkeitsrückgang beginnt", und erkennt da einen direkten Zusammenhang. Aber gleichzeitig habe er doch immer auch Gegenkräfte gesetzt, habe doch im "Tonio Kröger" deutlich gemacht, dass man "Leute, die viel lieber in Pferdebüchern mit Momentaufnahmen lesen" nicht zur Poesie verführen soll.
Ja, die "Betrachtungen" sind auch heute noch ein unglaublich interessantes, schillerndes, entlarvendes, gelehrtes, böses, hanebüchenes Buch, und Thomas Manns Wirken und Wollen war schwankend und zweifelnd, so sehr er sich auch um eine militärische Haltung bemühte. Aber Kurzke ist so sehr bemüht, dieses Buch ganz anders zu lesen, dass er es übertreibt. Wenn er im Nachwort von dem "wirklichen Thomas Mann" schreibt, den man hier erkenne; wenn er in den Kommentaren erklärt, wie man die "Betrachtungen" "richtig liest", dann sträubt sich im Leser alles gegen diese neue, verharmlosende Zwangslektüre. Auch Kurzke weiß nicht, wie man dieses komplizierte Buch "richtig" liest, auch er kennt, trotz lebenslanger Extremlektüre, leider nicht "den wirklichen Thomas Mann".
Aber er stellt hier entschlossen einen anderen vor, als wir ihn bislang kannten. Das ist ungemein anregend und interessant und hält das Werk Thomas Manns auch an seinen scheinbar dunkelsten Stellen lebendig. Es ist auch interessant, an dieser Stelle noch einmal darauf hinzuweisen, dass sich in diesem deutsch-nationalen, kriegerischen Kampfbuch nicht eine antisemitische Stelle findet. Sondern dass im Gegenteil vor der möglichen Machtübernahme antisemitischer Straßenredner in einer zukünftigen Demokratie gewarnt wird.
Und die Kuchen à la creme und zwei Bäcker-Tortenstücke, die haben die Brüder später ja wahrscheinlich auch noch geteilt. Heinrich Mann sagte zu seiner Nichte Erika, als sie ihn 1946 in Amerika im Auto nach Hause brachte: "Mit deinem Vater verstehe ich mich politisch jetzt wirklich recht gut. Etwas radikaler ist er, als ich."
VOLKER WEIDERMANN
Thomas Mann: "Betrachtungen eines Unpolitischen". Herausgegeben und kommentiert von Hermann Kurzke. Zwei Bände, 1420 Seiten, Verlag S. Fischer, 80 Euro
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Der vielleicht beste Kenner, Interpret und Vermittler von Thomas Manns Werk legt [...] ein zweites Opus Magnum vor, dem uneingeschränkte Anerkennung gebührt. Jochen Strobel literaturkritik.de