Als Didier Eribons Betrachtungen zur Schwulenfrage 1999 in Frankreich erschienen, wurde das als Ereignis gefeiert. Schnell etabliert sich das Buch als Klassiker und Gründungsdokument der Queer Studies. Eribon legt darin eine neue Analyse der Bildung von Minderheitenidentitäten vor, an deren Anfang die Beleidigung steht. Es geht um die Macht der Sprache und der Stigmatisierung, um die Gewalt verletzender Worte im Rahmen einer allgemeinen Theorie der Gesellschaft und der Mechanismen ihrer Reproduktion. Nun liegt das Werk erstmals in deutscher Übersetzung vor.
Eribons Analyse setzt ein mit einer fulminanten »Sozialanthropologie« der gelebten Erfahrung, in der zentrale Etappen der Konstitution einer homosexuellen Identität nachgezeichnet werden. Auf sie folgt eine historische Rekonstruktion der literarischen und intellektuellen Dissidenz sowie der »homosexuellen« Rede - von den Oxforder Hellenisten in der Mitte des 19. Jahrhunderts über Oscar Wilde und Marcel Proust bis zuAndré Gide im 20. Jahrhundert. Die Untersuchung mündet in einer Neuinterpretation von Michel Foucaults philosophischem Denken über Sexualität, Macht und Widerstand. In der brillanten Verknüpfung von Soziologie, Literatur und Philosophie bietet dieses große Buch mehr denn je Werkzeuge für all jene, die über Differenz und Emanzipation nachdenken wollen.
Eribons Analyse setzt ein mit einer fulminanten »Sozialanthropologie« der gelebten Erfahrung, in der zentrale Etappen der Konstitution einer homosexuellen Identität nachgezeichnet werden. Auf sie folgt eine historische Rekonstruktion der literarischen und intellektuellen Dissidenz sowie der »homosexuellen« Rede - von den Oxforder Hellenisten in der Mitte des 19. Jahrhunderts über Oscar Wilde und Marcel Proust bis zuAndré Gide im 20. Jahrhundert. Die Untersuchung mündet in einer Neuinterpretation von Michel Foucaults philosophischem Denken über Sexualität, Macht und Widerstand. In der brillanten Verknüpfung von Soziologie, Literatur und Philosophie bietet dieses große Buch mehr denn je Werkzeuge für all jene, die über Differenz und Emanzipation nachdenken wollen.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 25.02.2020Umwege über die dorische Liebe
Didier Eribons Buch zur Schwulenfrage liegt nach zwanzig Jahren auf Deutsch vor
Der Nachbarsjunge war nur wenig älter. Er sah gut aus und war dennoch ein Einzelgänger. Nach dem Abitur ging er nach Frankfurt, kurze Zeit später war er tot. Bald hieß es in unserer Straße, er sei an Aids gestorben. Seine Eltern lebten danach noch lange in der Kleinstadt, die einen Bischof hatte, für den Homosexualität eine Degeneration war.
Am Anfang war die Beleidigung. So lautet der erste Satz eines Buchs, das schon vor zwanzig Jahren in Frankreich erschienen ist. Nun liegen Didier Eribons "Betrachtungen zur Schwulenfrage" erstmals auch in deutscher Übersetzung vor. Schon im Vorwort schreibt der französische Soziologe und Philosoph, worum es ihm geht: Er wolle zeigen, welch große Rolle die Beleidigung "heute wie gestern" im Leben der Schwulen spielt, und auch die Art und Weise, wie sie einerseits von der herrschenden "Sexualordnung ,unterworfen' werden" und sich andererseits, "zu jedem Zeitpunkt anders", dieser Herrschaft widersetzt haben, "indem sie Lebensweisen, Spielräume, eine ,Schwulenwelt' produziert haben".
Eribon ist in Deutschland mit seinem autobiographischen Roman "Rückkehr nach Reims" (2016) bekannt geworden. In ihm setzt sich der in Reims geborene Autor, der selbst homosexuell ist, auch mit den am eigenen Leib erfahrenen Beleidigungen auseinander. Selbst in Paris, wo er lebt, sei er immer wieder ein Opfer von Diskriminierung und Gewalt geworden, schreibt Eribon. Paris ist keine Ausnahme: Überall auf der Welt werden Jungen und Männer auf Schulhöfen und Fußballplätzen mit Worten wie "Schwuchtel" oder "Tunte" bedacht, wenn sie sich vermeintlich nicht "männlich" genug verhalten.
Eribon wie auch der nicht fiktive Nachbarsjunge taten, was fast alle Homosexuellen über die Jahrhunderte getan haben: Sie traten die Flucht in eine Großstadt an, wo sie die Möglichkeit hatten, sich der Beleidigung weitestmöglich zu entziehen. Eribon beschreibt im ersten Teil seiner "Betrachtungen" die typische Lebenswelt Homosexueller. Dabei beruft er sich auf Autoren, die als Männer Männer liebten und allesamt dasselbe erlebt haben. "Warum schämst du dich?", lässt Jean-Paul Sartre in "Zeit der Reife" Mathieu den schwulen Daniel fragen. Er antwortet: "Ich schäme mich, homosexuell zu sein, weil ich homosexuell bin."
Die Folgen sind oft genug Selbsthass, Hass auf seinesgleichen und der Zwang zu lügen. Manche Schwule geben sich besonders heterosexuell, Maskulinisierung und Virilität, ein übertriebener Körperkult werden ihnen zur Obsession. Zugleich wird die Kluft zwischen dem privaten und dem öffentlichen Leben immer größer. Eine Subkultur entsteht, in der sich schwule Männer ausleben. So war es noch vor einigen Jahren überall in Europa, und so ist es an vielen Orten im Rest der Welt, wo Homosexualität bis heute sogar kriminalisiert wird.
Gewissermaßen aus dem Untergrund heraus erwuchs aber auch neues Selbstbewusstsein. Eribon geht in seinem Buch auf die Suche nach den "Geburtsorten der modernen homosexuellen Identitäten". Er findet sie im frühen neunzehnten Jahrhundert bei Autoren, die ihre Selbstvergewisserung in der "dorischen Liebe" der Antike fanden. Einer der Ersten, der deutsche Gräzist Karl Otfried Müller, nobilitierte in seinem Buch "Die Dorier" (1820/1824) die Liebe zwischen Männern "als virile, martialische Beziehung". Das Buch wurde 1830 ins Englische übersetzt und blieb nicht unbemerkt. Es folgten "Eros. Die Männerliebe der Griechen" vom Schweizer Heinrich Hößli (1836), die Gedichtsammlung "Leaves of Grass" (1855) von Walt Whitman und "A Problem in Greek Ethics" (1883) von John Addington Symonds.
Über die Autoren wird sich Marcel Proust später in "Sodom und Gomorra", dem vierten Teil seines Romanzyklus "Auf der Suche nach der verlorenen Zeit", lustig machen, weil sie sich auf Platon und die vermeintlich von ihm propagierte, päderastische Liebe beriefen. Doch selbst Oscar Wilde wählte den titelgebenden Namen Dorian in seinem einzigen Roman "Das Bildnis des Dorian Gray" als Verweis auf die "griechische Liebe", einen Euphemismus für Homosexualität. Wilde zählte zu den Oxforder Hellenisten um Walter Pater und John Addington Symonds, bei denen Eribon "eine der modernen Geburtsstätten der modernen Homosexuellenkultur" ausmacht, die sich dann bis André Gide entfalten sollte.
Erst Oscar Wildes Verurteilung 1895 wegen Unzucht mit männlichen Prostituierten setzte dem Versuch, "gleichgeschlechtliche Liebschaften öffentlich artikulierbar zu machen", ein abruptes Ende. Im zweiten Kapitel, überschrieben mit "Oscar Wildes Gespenster", schildert Eribon, wie die Verurteilung des berühmten Schriftstellers und sein früher Tod zum Wendepunkt wurden - auch für die Wissenschaft: "Wir stehen mitten in einer schweren geistigen Volkskrankheit, in einer Art schwarzen Pest von Entartung und Hysterie", schrieb Max Nordau in seinem Buch "Entartung" 1893 mit Bezug auf Oscar Wilde. Handlungen zwischen Personen desselben Geschlechts wurden danach in einen Krankheitskatalog von Perversionen und Identitätsstörungen eingeordnet. Für Eribon steht außer Frage, das die Psychiatrie auf die homosexuelle Literatur jener Jahre reagierte und versuchte, "sie vermittels ihres klinischen Blicks auf einen bloßen Ausdruck ungesunder oder kranker Gehirne zu reduzieren".
Damit leitet Eribon in den dritten Teil seiner "Betrachtungen" über, den er "Die Heterotopien des Michel Foucault" nennt. Auch er sieht in dem psychiatrischen Diskurs Ende des neunzehnten Jahrhunderts einen Wendepunkt, denn erst er hat zur "Erfindung der ,homosexuellen Persönlichkeit'" geführt, wie Foucault in "Der Wille zum Wissen" schrieb. Fünfzehn Jahre zuvor, in "Wahnsinn und Gesellschaft", hatte Foucault die Erfindung der "Figur des Homosexuellen" noch ins siebzehnte Jahrhundert verlegt. Im Grunde spielt es keine Rolle, ob hundert oder dreihundert Jahre vergangen sind: Die Existenz von Schwulen wird auch heute noch oft in Frage gestellt, ihr Tun als verwerflicher Akt von irregeleiteten, kranken Personen dargestellt, und das nicht nur von Teilen der katholischen Kirche.
Die Emanzipation der vergangenen Jahrzehnte aber trägt doch auch Früchte. In Frankreich wie in Deutschland ist die Ehe für Homosexuelle möglich, sie sind heterosexuellen Paaren fast gleichgestellt. Die Strukturen der Repression aber sind weiterhin intakt. Deshalb ist Eribons Ansicht immer noch gültig, die Arbeit an der Emanzipation könne nur als Aufgabe begriffen werden, "die stets von neuem zu beginnen ist: eine im Grunde unendliche Aufgabe".
PETER-PHILIPP SCHMITT
Didier Eribon: "Betrachtungen zur Schwulenfrage".
Aus dem Französischen von Achim Russer und Bernd Schwibs.
Suhrkamp Verlag, Berlin 2019. 622 S., geb., 38,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Didier Eribons Buch zur Schwulenfrage liegt nach zwanzig Jahren auf Deutsch vor
Der Nachbarsjunge war nur wenig älter. Er sah gut aus und war dennoch ein Einzelgänger. Nach dem Abitur ging er nach Frankfurt, kurze Zeit später war er tot. Bald hieß es in unserer Straße, er sei an Aids gestorben. Seine Eltern lebten danach noch lange in der Kleinstadt, die einen Bischof hatte, für den Homosexualität eine Degeneration war.
Am Anfang war die Beleidigung. So lautet der erste Satz eines Buchs, das schon vor zwanzig Jahren in Frankreich erschienen ist. Nun liegen Didier Eribons "Betrachtungen zur Schwulenfrage" erstmals auch in deutscher Übersetzung vor. Schon im Vorwort schreibt der französische Soziologe und Philosoph, worum es ihm geht: Er wolle zeigen, welch große Rolle die Beleidigung "heute wie gestern" im Leben der Schwulen spielt, und auch die Art und Weise, wie sie einerseits von der herrschenden "Sexualordnung ,unterworfen' werden" und sich andererseits, "zu jedem Zeitpunkt anders", dieser Herrschaft widersetzt haben, "indem sie Lebensweisen, Spielräume, eine ,Schwulenwelt' produziert haben".
Eribon ist in Deutschland mit seinem autobiographischen Roman "Rückkehr nach Reims" (2016) bekannt geworden. In ihm setzt sich der in Reims geborene Autor, der selbst homosexuell ist, auch mit den am eigenen Leib erfahrenen Beleidigungen auseinander. Selbst in Paris, wo er lebt, sei er immer wieder ein Opfer von Diskriminierung und Gewalt geworden, schreibt Eribon. Paris ist keine Ausnahme: Überall auf der Welt werden Jungen und Männer auf Schulhöfen und Fußballplätzen mit Worten wie "Schwuchtel" oder "Tunte" bedacht, wenn sie sich vermeintlich nicht "männlich" genug verhalten.
Eribon wie auch der nicht fiktive Nachbarsjunge taten, was fast alle Homosexuellen über die Jahrhunderte getan haben: Sie traten die Flucht in eine Großstadt an, wo sie die Möglichkeit hatten, sich der Beleidigung weitestmöglich zu entziehen. Eribon beschreibt im ersten Teil seiner "Betrachtungen" die typische Lebenswelt Homosexueller. Dabei beruft er sich auf Autoren, die als Männer Männer liebten und allesamt dasselbe erlebt haben. "Warum schämst du dich?", lässt Jean-Paul Sartre in "Zeit der Reife" Mathieu den schwulen Daniel fragen. Er antwortet: "Ich schäme mich, homosexuell zu sein, weil ich homosexuell bin."
Die Folgen sind oft genug Selbsthass, Hass auf seinesgleichen und der Zwang zu lügen. Manche Schwule geben sich besonders heterosexuell, Maskulinisierung und Virilität, ein übertriebener Körperkult werden ihnen zur Obsession. Zugleich wird die Kluft zwischen dem privaten und dem öffentlichen Leben immer größer. Eine Subkultur entsteht, in der sich schwule Männer ausleben. So war es noch vor einigen Jahren überall in Europa, und so ist es an vielen Orten im Rest der Welt, wo Homosexualität bis heute sogar kriminalisiert wird.
Gewissermaßen aus dem Untergrund heraus erwuchs aber auch neues Selbstbewusstsein. Eribon geht in seinem Buch auf die Suche nach den "Geburtsorten der modernen homosexuellen Identitäten". Er findet sie im frühen neunzehnten Jahrhundert bei Autoren, die ihre Selbstvergewisserung in der "dorischen Liebe" der Antike fanden. Einer der Ersten, der deutsche Gräzist Karl Otfried Müller, nobilitierte in seinem Buch "Die Dorier" (1820/1824) die Liebe zwischen Männern "als virile, martialische Beziehung". Das Buch wurde 1830 ins Englische übersetzt und blieb nicht unbemerkt. Es folgten "Eros. Die Männerliebe der Griechen" vom Schweizer Heinrich Hößli (1836), die Gedichtsammlung "Leaves of Grass" (1855) von Walt Whitman und "A Problem in Greek Ethics" (1883) von John Addington Symonds.
Über die Autoren wird sich Marcel Proust später in "Sodom und Gomorra", dem vierten Teil seines Romanzyklus "Auf der Suche nach der verlorenen Zeit", lustig machen, weil sie sich auf Platon und die vermeintlich von ihm propagierte, päderastische Liebe beriefen. Doch selbst Oscar Wilde wählte den titelgebenden Namen Dorian in seinem einzigen Roman "Das Bildnis des Dorian Gray" als Verweis auf die "griechische Liebe", einen Euphemismus für Homosexualität. Wilde zählte zu den Oxforder Hellenisten um Walter Pater und John Addington Symonds, bei denen Eribon "eine der modernen Geburtsstätten der modernen Homosexuellenkultur" ausmacht, die sich dann bis André Gide entfalten sollte.
Erst Oscar Wildes Verurteilung 1895 wegen Unzucht mit männlichen Prostituierten setzte dem Versuch, "gleichgeschlechtliche Liebschaften öffentlich artikulierbar zu machen", ein abruptes Ende. Im zweiten Kapitel, überschrieben mit "Oscar Wildes Gespenster", schildert Eribon, wie die Verurteilung des berühmten Schriftstellers und sein früher Tod zum Wendepunkt wurden - auch für die Wissenschaft: "Wir stehen mitten in einer schweren geistigen Volkskrankheit, in einer Art schwarzen Pest von Entartung und Hysterie", schrieb Max Nordau in seinem Buch "Entartung" 1893 mit Bezug auf Oscar Wilde. Handlungen zwischen Personen desselben Geschlechts wurden danach in einen Krankheitskatalog von Perversionen und Identitätsstörungen eingeordnet. Für Eribon steht außer Frage, das die Psychiatrie auf die homosexuelle Literatur jener Jahre reagierte und versuchte, "sie vermittels ihres klinischen Blicks auf einen bloßen Ausdruck ungesunder oder kranker Gehirne zu reduzieren".
Damit leitet Eribon in den dritten Teil seiner "Betrachtungen" über, den er "Die Heterotopien des Michel Foucault" nennt. Auch er sieht in dem psychiatrischen Diskurs Ende des neunzehnten Jahrhunderts einen Wendepunkt, denn erst er hat zur "Erfindung der ,homosexuellen Persönlichkeit'" geführt, wie Foucault in "Der Wille zum Wissen" schrieb. Fünfzehn Jahre zuvor, in "Wahnsinn und Gesellschaft", hatte Foucault die Erfindung der "Figur des Homosexuellen" noch ins siebzehnte Jahrhundert verlegt. Im Grunde spielt es keine Rolle, ob hundert oder dreihundert Jahre vergangen sind: Die Existenz von Schwulen wird auch heute noch oft in Frage gestellt, ihr Tun als verwerflicher Akt von irregeleiteten, kranken Personen dargestellt, und das nicht nur von Teilen der katholischen Kirche.
Die Emanzipation der vergangenen Jahrzehnte aber trägt doch auch Früchte. In Frankreich wie in Deutschland ist die Ehe für Homosexuelle möglich, sie sind heterosexuellen Paaren fast gleichgestellt. Die Strukturen der Repression aber sind weiterhin intakt. Deshalb ist Eribons Ansicht immer noch gültig, die Arbeit an der Emanzipation könne nur als Aufgabe begriffen werden, "die stets von neuem zu beginnen ist: eine im Grunde unendliche Aufgabe".
PETER-PHILIPP SCHMITT
Didier Eribon: "Betrachtungen zur Schwulenfrage".
Aus dem Französischen von Achim Russer und Bernd Schwibs.
Suhrkamp Verlag, Berlin 2019. 622 S., geb., 38,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
»Alle, die erst die Rückkehr nach Reims gelesen haben und dann die frühe Studie [Betrachtungen zur Schwulenfrage] zur Hand nehmen, werden rasch feststellen, wie eng beide Bücher zusammenhängen, wie gut sie einander ergänzen.« Jens Bisky Süddeutsche Zeitung 20200211