London 1873. Mrs. Eliza Touchet ist die schottische Haushälterin und angeheiratete Cousine des einstmals erfolgreichen Schriftstellers William Ainsworth. Eliza ist aufgeweckt und kritisch. Sie zweifelt daran, dass Ainsworth Talent hat. Und sie fürchtet, dass England ein Land der Fassaden ist, in dem nichts so ist, wie es scheint.
Mit ihrer Schwägerin besucht sie die Gerichtsverhandlungen des Tichborne-Falls, in der ein ungehobelter Mann behauptet, der seit zehn Jahren verschollene Sohn der reichen Lady Tichborne zu sein. Andrew Bogle, ehemaliger Sklave aus Jamaika, ist einer der Hauptzeugen des Prozesses. Eliza und Bogle kommen ins Gespräch und der Wahrheit näher. Doch wessen Wahrheit zählt?
Basierend auf realen historischen Ereignissen ist »Betrug« ein schillernder Roman über Wahrheit und Fiktion, Jamaika und Großbritannien, Betrug und Authentizität und das Geheimnis des Andersseins.
Mit ihrer Schwägerin besucht sie die Gerichtsverhandlungen des Tichborne-Falls, in der ein ungehobelter Mann behauptet, der seit zehn Jahren verschollene Sohn der reichen Lady Tichborne zu sein. Andrew Bogle, ehemaliger Sklave aus Jamaika, ist einer der Hauptzeugen des Prozesses. Eliza und Bogle kommen ins Gespräch und der Wahrheit näher. Doch wessen Wahrheit zählt?
Basierend auf realen historischen Ereignissen ist »Betrug« ein schillernder Roman über Wahrheit und Fiktion, Jamaika und Großbritannien, Betrug und Authentizität und das Geheimnis des Andersseins.
Perlentaucher-Notiz zur Süddeutsche Zeitung-Rezension
Rezensentin Nele Pollatschek versucht, sich einen Reim darauf zu machen, dass Zadie Smith 2023 ausgerechnet einen viktorianischen Roman veröffentlicht hat, was angesichts der aktuellen Krisen auch als Verfehlung betrachtet werden könne. Überraschend kommt es für die Kritikerin aber angesichts des ausgeprägten Kultur- und Literaturpessimismus Smiths aber nicht, dessen Entwicklung seit 9/11 sie hier nochmals ausführlich rekapituliert. Der neue Roman nun, der um den historisch belegten Tichborne-Fall herum von der adeligen Erbin Eliza Touchet und dem Sohn eines ehemaligen Sklaven erzählt, greife mit zweifelhaften Erbgeschichten, Schilderungen von jamaikanischen Sklavenplantagen und moralischen Verwicklungen zwar einerseits ganz typische Themen aus dem viktorianischen Roman auf, und auch die "Multiplot"-Erzählform mit kurzen Kapiteln und verzahnten Erzählsträngen entspreche dem. Andererseits hätten, etwa mit der Akzeptanz von Homosexualität oder der postkolonialen Perspektive, auch eindeutig jüngere Paradigmen hier Einzug gehalten. In dieser Mischung und in Smiths differenzierter Verhandlung moralischer, nicht politischer, Fragen liefere die Autorin zwar an keiner Stelle Antworten auf aktuelle Probleme, aber plädiere für ein "humanistisches" Schreiben im Stile George Eliots, schlussfolgert die Kritikerin.
© Perlentaucher Medien GmbH
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Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 30.12.2023Und wir tun es doch
Welchen Sinn hat Literatur in Zeiten von Terror und Krieg? Mit ihrem Roman „Betrug“ sucht Zadie Smith
eine Antwort auf diese schwierige Frage in einer Epoche, in der das Schreiben noch geholfen hat.
VON NELE POLLATSCHEK
Wir schreiben das Jahr 2001. Es ist keinen Monat her, dass islamistische Terroristen zwei Passagiermaschinen entführten und die Türme des World Trade Centers zum Einsturz brachten. Und während New York seine Leichen birgt, die amerikanische Regierung ihren „Krieg gegen den Terror“ plant und Sicherheitsbeamte auf der ganzen Welt ihren Beruf neu lernen, fordert der Literaturkritiker James Wood: In Anbetracht der Katastrophe des 11. September muss Zadie Smith (und einige ihrer Schriftstellerkollegen) endlich besser schreiben!
Smith’ im Vorjahr erschienenen Debütroman „Zähne zeigen“ kritisiert Wood als „hysterischen Realismus“: eine Form, in der die Aneinanderreihung aberwitziger Handlungselemente (genmanipulierte Mäuse, Terrororganisationen namens KEVIN) menschliche Tiefe vorgaukele. Eine Form, in der Autoren, die alles zu wissen scheinen, außer was es heißt, ein Mensch zu sein, kulturelles Kapital stapeln, als wäre es die Aufgabe von Schriftstellern zu erklären, „wie die Welt funktioniert“, und nicht, wie es sich anfühlt, in ihr zu leben. Nach dem 11. September könne man so nicht mehr schreiben, denn jetzt stehe fest, dass sich die Welt nicht nach dem Wissen der Angeber-Autoren richte. Jetzt, wo wir ahnungslos und ängstlich in eine neue Welt stolpern, argumentiert Wood, hört auf, so zu tun, als wüsstet ihr, wo es langgeht. Sagt uns, „wie es sich anfühlt“.
Natürlich kann man Woods Brief wichtigtuerisch finden; kurz nach dem Terror ist vielleicht nicht die Zeit für Literaturkritik. Man kann ihn problematisch finden – weißer Literaturkritiker mittleren Alters erklärt schwarzer Bestseller-Debütantin, wie sie zu schreiben hat. Wenn man sein Leben mit Literatur verbringt – Bücher schreibt, kritisiert oder sogar liest –, kann er einen aber auch zu Tränen rühren. Wie groß muss der Glaube an Literatur sein, dass man im Anbetracht des Terrors denkt: Was die Welt jetzt braucht, sind gute Bücher?
Entgegen aller PR-Vernunft antwortete Smith damals ihrem Angreifer und gab ihm (mit ein paar Rügen) in vielem recht. Aber während Wood durchdrungen ist vom Glauben an die Literatur, fühlt Smith sich „angeekelt vom Klang ihrer Stimme ... Angeekelt davon, dem Agenten und der Familie zuliebe so tun zu müssen, als fühlte es sich wichtig an, Wörter auf Papier zu bringen.“ Der Roman sei das falsche Medium zur falschen Zeit. Schließlich müsse man die simplen Motive der jüngsten Weltgeschichte („Glaube. Rache. Armut. Gott. Hass.“) und die anscheinend doch recht simplen Verbindungen „vom 11. September nach Saudi-Arabien und Palästina, zurück nach Israel, weiter zurück zum Zweiten Weltkrieg, noch weiter zum Ersten“ wohl kaum literarisch erklären. Smith fragt: „Interessiert es irgendjemanden, was Schriftsteller darüber denken? Hilft das?“
Trotz ihres Selbst- und Literaturekels bleibt Smith vor dem leeren Bildschirm sitzen, um die Möglichkeit zu verteidigen, so schreibt sie, dass es irgendwann in der Zukunft eine Literatur geben könnte, die der Gegenwart gerecht wird. Auf Woods „Erzählt uns, wie es sich anfühlt“ antwortet Smith: „Nun ja, wir versuchen es. Ich versuche es.“
22 Jahre später hat sich viel getan, aber wenig verbessert. Wer sich nach dem 11. September davon angeekelt fühlte, Wörter auf Papier zu bringen, für den hält die Gegenwart – Putin oder Trump, die Klimakrise und die Hamas – schlechte Nachrichten bereit. Wer sich damals fragte, ob es eigentlich sinnvoll oder hilfreich sei, wenn Schriftsteller sich zu den Krisen der Gegenwart äußern, dem stellt sich diese Frage heute umso lauter. Tatsächlich wäre die Gegenwartsliteratur wohl besser, wenn sich mehr Schriftsteller diese Frage stellen würden – zumindest gäbe es weniger offene Briefe.
Wer den Roman aus der Smith’schen Perspektive betrachtet, der sieht eine Gattung in der Krise. Zum einen, weil die Realität, die der Roman spiegelt, krisenhafter zu werden scheint. Zum anderen, weil der Roman nicht mehr ist, was er vor über hundert Jahren einmal war. In einem Essay von 2008 schrieb Smith über eine „siechende Literaturkultur“, in der dem Roman nicht mehr viele verschiedene Wege offenstünden, weil das Wegerecht seit Langem einer Form lyrischen Realismus gehöre. Dieses von Smith beschriebene Genre ist nach wie vor international so dominant, dass man auch einfach „normale“ Literatur dazu sagen könnte: Geschichten, die zwar fiktional sind, deren Fiktionalität aber nicht zur Schau gestellt wird – zum Beispiel durch Metaebenen, überdeutliche Erzählerkommentare oder melancholische Androiden. Geschichten also, die auch „wirklich“ passieren könnten, deren Anspruch darauf, Literatur zu sein, sich vor allem in einer bestimmten, „lyrischen“ Sprache begründet und nicht in markierter Fiktionalität.
Die von Smith diagnostizierte Verengung des Romans hat sich in den letzten Dekaden eher verschlimmert. Wie Smith in einem Essay 2019 schreibt: „Es könnte sein, dass die gesamte Kategorie dessen, was wir einst Fiktion nannten, uns gerade abhandenkommt.“ Wo Geschichten zunehmend autobiografisch beglaubigt sein sollen, schreibt Smith, Autofiktion das Genre der Stunde ist und literarische Identitätsabweichungen (Weiße, zum Beispiel, die über Hispanoamerikaner schreiben) Kritik garantieren, ist das Kerngeschäft der Fiktion in Gefahr. Vor allem für jamaikanische Engländerinnen, die auch mal aus der Perspektive jüdischer Asiaten schreiben (wie Smith es in ihrem zweiten Roman „The Autograph Man“ tat). Dass sich der von Smith vorgeschlagene Begriff „Profound Other-Fascination“ (tiefschürfende Faszination für den Anderen) als Alternative für „Kulturelle Aneignung“ nicht durchgesetzt hat, ist vielleicht auch ein Zeichen dafür, dass Smith nicht falschliegt mit der Vermutung, die Gegenwart habe kein großes Verlangen nach Fiktion in ihrem Sinne.
Wenn Zadie Smith jetzt, nach mehr als zwei Dekaden gelebtem Kulturpessimismus und sieben Jahre nach ihrem letzten literarischen Werk, mit „Betrug“ einen Roman vorlegt, der fast genauso auch in England um 1880 hätte erscheinen können, dann wirkt das erst mal wie ein Fluchtversuch am Rock Bottom der Belletristik. Als wollte Smith sagen: Gegenwartsliteratur ist durch, ich mach jetzt 19. Jahrhundert.
Und Smith macht tatsächlich 19. Jahrhundert: Sie erzählt einen (klassisch viktorianischen) Multiplot-Roman, in dem verschiedene Erzählstränge teilweise achronologisch miteinander verzahnt werden, in kurzen Kapiteln, wie sie literarischer Standard waren in einer Zeit, in der Romane oft seriell (wie Fernsehserien) veröffentlicht wurden. Dabei geht es um Eliza Touchet, Cousine und Geliebte des (zu Recht) vergessenen Schriftstellers William Ainsworth, die im zweiten Erzählstrang gemeinsam mit Ainsworth’ Frau den ebenso historisch belegten Gerichtsprozess im Tichborne-Fall besucht. Da geht es um einen nicht adligen Mann, der vorgibt, der lang verschollene Erbe der Lady Tichborne zu sein. Das Einzige, was für den Hochstapler spricht, ist sein Hauptzeuge, der offensichtlich ehrliche ehemalige jamaikanische Sklave Andrew Bogle, dessen Familiengeschichte auf einer jamaikanischen Plantage im dritten Strang erzählt wird.
Wenn Smith ihrer Mrs Touchet ein Erbe mit ungeklärter Provenienz zuschustert und die Sklaverei-Gegnerin so moralisch in den Sklavenhandel und die Vergehen ihres verstorbenen Mannes verwickelt, dann bedient sich Smith eines Klischees viktorianischer Literatur (siehe „Great Expectations“ oder „Jane Eyre“). Und wenn sie einen Gerichtsprozess detailliert nacherzählt, dann im Schatten von Dickens’ „Bleak House“. Auch viktorianisch: Schriftsteller, die sich selbst überschätzen (George Eliots „Middlemarch“), (Frauen-)Leben, die nichts Großes hervorbringen und es trotzdem explizit verdienen, erzählt zu werden (auch Eliot), literarische Metakommentare (Eliot) und Erzählerweisheiten wie Smith’ Feststellung, Spiegel fußten auf einem „System grausamer Verzögerung“, weil sie die eigene Schönheit immer erst da offenbaren, wo sie bereits verloren sei (sehr, sehr Eliot). Und ja, auch dass Smith ihre Heldin Eliots „Middlemarch“ im Roman verteidigen lässt und so unsubtil deutlich macht, in welcher Tradition sie sich befindet, ist ein Eliot-Manöver. Smith flüchtet sich also nicht, oder nicht nur, in den „gemütlichen“ viktorianischen Roman. Innerhalb der angelsächsischen Literatur, die Smith in Cambridge studierte, ist der viktorianische Roman, wie Smith in einem Essay über Eliot schrieb, der Roman, den „wir vergöttern“, und George Eliot ist seine säkulare Prophetin. Bei Eliots „Middlemarch“ – ergab auch eine BBC-Umfrage unter 81 Literaturkritikern – handelt es sich schlicht um den besten Roman der englischen Literatur. Wenn Smith also zurückgreift, ein Verfahren, mit dem immer auch die Hoffnung einer Renaissance, eines Neustarts mit anderen Vorzeichen verbunden ist, dann auf den Roman am Höhepunkt seiner Möglichkeiten. In eine Zeit, in der der Roman Vormachtstellung genoss, als bildungsbürgerliches Unterhaltungsmedium (man hatte ja nichts in Sachen Streaming und soziale Medien), aber auch als Kirchenersatz einer säkularisierten Gesellschaft. Eine Zeit, in der die gesellschaftliche Aufgabe der Literatur deutlich klarer war: humanistische Werte zu vermitteln – Eliot fand sie bei Goethe und Spinoza –, die religiöse Leerstellen füllen sollten. „Das sind menschliche Erfahrungen“, schreibt Smith über Eliots Romane, „und deshalb heilig.“
Natürlich kann auch der größte Liebhaber des viktorianischen Realismus nicht erwarten, dass wir in alle Ewigkeiten Multiplot-Romane über zweifelhafte Erbschaften schreiben. Eine Ethik des Lebens und des Schreibens lässt sich aber transferieren – eine Antwort auf die Frage, wie Autoren sich zu den Krisen der Gegenwart verhalten können, was „hilft“.
Am deutlichsten macht Smith das in „Betrug“ mit der finalen Konfrontation zwischen Mrs Touchet und dem Sohn des ehemaligen Sklaven Bogle. Der junge, radikale Bogle (dessen Familiengeschichte Smith zuvor in schmerzhaften Details schilderte) fordert sofortige, absolute Gerechtigkeit, denn es ändere schließlich nichts, ob derjenige, der seine Freiheit einschränke, das mit lieben Worten tue oder Steine nach ihm werfe. Mrs Touchet antwortet: „Es ändert alles! Unsere Sünden haben verschiedene Grade, wie alles, was wir tun. Warum sollten wir sonst überhaupt etwas verbessern, überhaupt etwas unternehmen? ... unsere Seelen liegen weiter in der Waagschale. Und in der Zeit zwischen diesem gegenwärtigen Moment und einer künftigen moralischen Vollkommenheit müssen wir schließlich alle …“ Mrs Touchet wird von Bogle unterbrochen, reiner Zweifel kann niemals siegen – er kann sich nur als menschliche Alternative zu dogmatischen Perspektiven anbieten.
Nichts von dem, was Smith hier erzählt, ist ein direkter Kommentar auf spezifische Krisen der Gegenwart – weder kann man aus dem Betrüger Tichborne etwas über Trump lernen (auch wenn sich ein Trump-Roman besser vermarkten lässt,als ein ethisches Viktorianismus-Experiment), noch ist dieses ambivalente Plädoyer gegen moralischen Absolutismus eine Attacke auf das, was manche „Wokeness“ nennen. Tatsächlich ist der wohl klarste Unterschied zwischen Smith’ Roman und ihren viktorianischen Vorbildern, dass sie bestimmte Errungenschaften der progressiven Linken (die Akzeptanz von Homosexualität und kink) als gegeben erachtet, die im 19. Jahrhundert zu Zensur geführt hätten. Genauso lassen die jamaikanischen Passagen keinerlei Zweifel an der Falschheit der Sklaverei, ergänzen diese postkoloniale Perspektive nur eben mit dem unbedingten Glauben an Besserung.
Wie Eliot schreibt Smith nicht politisch, aber moralisch. Wendet sich ab, wie sie einst selbst über Eliot sagte „von falschen, abstrakten Moralvorstellungen“ und hin zu einer tiefschürfenden Faszination für den Anderen. Und so wie Mrs Touchet ihren Ainsworth gleichzeitig wirklich lieben kann und jede seiner Unzulänglichkeiten bemerken, so wie Mrs Touchet in Andrew Bogle gleichzeitig einen ehrlichen Mann und den Hauptzeugen eines Betrügers sehen kann, betrachtet Smith ihre Figuren mit einer beständigen Mischung aus Zärtlichkeit und Misstrauen. In dieser Welt gibt es keine guten oder bösen Menschen, aber es ist auch nicht alles moralisch grau (wie modernes Erzählen manchmal behauptet), denn es gibt endlose Schattierungen des Bemühens. Güte ist das Streben nach dem Guten. „Betrug“ liest sich, als würde Smith aus einer kriselnden Gegenwart und einer siechenden Gegenwartsliteratur aufschauen und sagen: Können wir noch mal bei Eliot anfangen? Was bedeutet: Können wir wieder humanistischer schreiben? Können wir einander als Menschen betrachten? Nun ja, wir versuchen es.
Da sind viele Gründe,
sich vor Worten auf
Papier zu ekeln
Wie Eliot schreibt
Smith nicht politisch,
aber moralisch
Die britische
Schriftstellerin Zadie Smith wurde im Jahr 2000 mit ihrem ersten
Roman „White Teeth“ schlagartig weltberühmt. Im Jahr darauf folgte das Ereignis, das Welt und Kunst verändern sollte. Foto: Eva Tedesjö/DN/TT/imago
Zadie Smith: Betrug.
Aus dem Englischen von Tanja Handels. Kiepenheuer & Witsch, Köln 2023. 528 Seiten,
26 Euro.
DIZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.sz-content.de
Welchen Sinn hat Literatur in Zeiten von Terror und Krieg? Mit ihrem Roman „Betrug“ sucht Zadie Smith
eine Antwort auf diese schwierige Frage in einer Epoche, in der das Schreiben noch geholfen hat.
VON NELE POLLATSCHEK
Wir schreiben das Jahr 2001. Es ist keinen Monat her, dass islamistische Terroristen zwei Passagiermaschinen entführten und die Türme des World Trade Centers zum Einsturz brachten. Und während New York seine Leichen birgt, die amerikanische Regierung ihren „Krieg gegen den Terror“ plant und Sicherheitsbeamte auf der ganzen Welt ihren Beruf neu lernen, fordert der Literaturkritiker James Wood: In Anbetracht der Katastrophe des 11. September muss Zadie Smith (und einige ihrer Schriftstellerkollegen) endlich besser schreiben!
Smith’ im Vorjahr erschienenen Debütroman „Zähne zeigen“ kritisiert Wood als „hysterischen Realismus“: eine Form, in der die Aneinanderreihung aberwitziger Handlungselemente (genmanipulierte Mäuse, Terrororganisationen namens KEVIN) menschliche Tiefe vorgaukele. Eine Form, in der Autoren, die alles zu wissen scheinen, außer was es heißt, ein Mensch zu sein, kulturelles Kapital stapeln, als wäre es die Aufgabe von Schriftstellern zu erklären, „wie die Welt funktioniert“, und nicht, wie es sich anfühlt, in ihr zu leben. Nach dem 11. September könne man so nicht mehr schreiben, denn jetzt stehe fest, dass sich die Welt nicht nach dem Wissen der Angeber-Autoren richte. Jetzt, wo wir ahnungslos und ängstlich in eine neue Welt stolpern, argumentiert Wood, hört auf, so zu tun, als wüsstet ihr, wo es langgeht. Sagt uns, „wie es sich anfühlt“.
Natürlich kann man Woods Brief wichtigtuerisch finden; kurz nach dem Terror ist vielleicht nicht die Zeit für Literaturkritik. Man kann ihn problematisch finden – weißer Literaturkritiker mittleren Alters erklärt schwarzer Bestseller-Debütantin, wie sie zu schreiben hat. Wenn man sein Leben mit Literatur verbringt – Bücher schreibt, kritisiert oder sogar liest –, kann er einen aber auch zu Tränen rühren. Wie groß muss der Glaube an Literatur sein, dass man im Anbetracht des Terrors denkt: Was die Welt jetzt braucht, sind gute Bücher?
Entgegen aller PR-Vernunft antwortete Smith damals ihrem Angreifer und gab ihm (mit ein paar Rügen) in vielem recht. Aber während Wood durchdrungen ist vom Glauben an die Literatur, fühlt Smith sich „angeekelt vom Klang ihrer Stimme ... Angeekelt davon, dem Agenten und der Familie zuliebe so tun zu müssen, als fühlte es sich wichtig an, Wörter auf Papier zu bringen.“ Der Roman sei das falsche Medium zur falschen Zeit. Schließlich müsse man die simplen Motive der jüngsten Weltgeschichte („Glaube. Rache. Armut. Gott. Hass.“) und die anscheinend doch recht simplen Verbindungen „vom 11. September nach Saudi-Arabien und Palästina, zurück nach Israel, weiter zurück zum Zweiten Weltkrieg, noch weiter zum Ersten“ wohl kaum literarisch erklären. Smith fragt: „Interessiert es irgendjemanden, was Schriftsteller darüber denken? Hilft das?“
Trotz ihres Selbst- und Literaturekels bleibt Smith vor dem leeren Bildschirm sitzen, um die Möglichkeit zu verteidigen, so schreibt sie, dass es irgendwann in der Zukunft eine Literatur geben könnte, die der Gegenwart gerecht wird. Auf Woods „Erzählt uns, wie es sich anfühlt“ antwortet Smith: „Nun ja, wir versuchen es. Ich versuche es.“
22 Jahre später hat sich viel getan, aber wenig verbessert. Wer sich nach dem 11. September davon angeekelt fühlte, Wörter auf Papier zu bringen, für den hält die Gegenwart – Putin oder Trump, die Klimakrise und die Hamas – schlechte Nachrichten bereit. Wer sich damals fragte, ob es eigentlich sinnvoll oder hilfreich sei, wenn Schriftsteller sich zu den Krisen der Gegenwart äußern, dem stellt sich diese Frage heute umso lauter. Tatsächlich wäre die Gegenwartsliteratur wohl besser, wenn sich mehr Schriftsteller diese Frage stellen würden – zumindest gäbe es weniger offene Briefe.
Wer den Roman aus der Smith’schen Perspektive betrachtet, der sieht eine Gattung in der Krise. Zum einen, weil die Realität, die der Roman spiegelt, krisenhafter zu werden scheint. Zum anderen, weil der Roman nicht mehr ist, was er vor über hundert Jahren einmal war. In einem Essay von 2008 schrieb Smith über eine „siechende Literaturkultur“, in der dem Roman nicht mehr viele verschiedene Wege offenstünden, weil das Wegerecht seit Langem einer Form lyrischen Realismus gehöre. Dieses von Smith beschriebene Genre ist nach wie vor international so dominant, dass man auch einfach „normale“ Literatur dazu sagen könnte: Geschichten, die zwar fiktional sind, deren Fiktionalität aber nicht zur Schau gestellt wird – zum Beispiel durch Metaebenen, überdeutliche Erzählerkommentare oder melancholische Androiden. Geschichten also, die auch „wirklich“ passieren könnten, deren Anspruch darauf, Literatur zu sein, sich vor allem in einer bestimmten, „lyrischen“ Sprache begründet und nicht in markierter Fiktionalität.
Die von Smith diagnostizierte Verengung des Romans hat sich in den letzten Dekaden eher verschlimmert. Wie Smith in einem Essay 2019 schreibt: „Es könnte sein, dass die gesamte Kategorie dessen, was wir einst Fiktion nannten, uns gerade abhandenkommt.“ Wo Geschichten zunehmend autobiografisch beglaubigt sein sollen, schreibt Smith, Autofiktion das Genre der Stunde ist und literarische Identitätsabweichungen (Weiße, zum Beispiel, die über Hispanoamerikaner schreiben) Kritik garantieren, ist das Kerngeschäft der Fiktion in Gefahr. Vor allem für jamaikanische Engländerinnen, die auch mal aus der Perspektive jüdischer Asiaten schreiben (wie Smith es in ihrem zweiten Roman „The Autograph Man“ tat). Dass sich der von Smith vorgeschlagene Begriff „Profound Other-Fascination“ (tiefschürfende Faszination für den Anderen) als Alternative für „Kulturelle Aneignung“ nicht durchgesetzt hat, ist vielleicht auch ein Zeichen dafür, dass Smith nicht falschliegt mit der Vermutung, die Gegenwart habe kein großes Verlangen nach Fiktion in ihrem Sinne.
Wenn Zadie Smith jetzt, nach mehr als zwei Dekaden gelebtem Kulturpessimismus und sieben Jahre nach ihrem letzten literarischen Werk, mit „Betrug“ einen Roman vorlegt, der fast genauso auch in England um 1880 hätte erscheinen können, dann wirkt das erst mal wie ein Fluchtversuch am Rock Bottom der Belletristik. Als wollte Smith sagen: Gegenwartsliteratur ist durch, ich mach jetzt 19. Jahrhundert.
Und Smith macht tatsächlich 19. Jahrhundert: Sie erzählt einen (klassisch viktorianischen) Multiplot-Roman, in dem verschiedene Erzählstränge teilweise achronologisch miteinander verzahnt werden, in kurzen Kapiteln, wie sie literarischer Standard waren in einer Zeit, in der Romane oft seriell (wie Fernsehserien) veröffentlicht wurden. Dabei geht es um Eliza Touchet, Cousine und Geliebte des (zu Recht) vergessenen Schriftstellers William Ainsworth, die im zweiten Erzählstrang gemeinsam mit Ainsworth’ Frau den ebenso historisch belegten Gerichtsprozess im Tichborne-Fall besucht. Da geht es um einen nicht adligen Mann, der vorgibt, der lang verschollene Erbe der Lady Tichborne zu sein. Das Einzige, was für den Hochstapler spricht, ist sein Hauptzeuge, der offensichtlich ehrliche ehemalige jamaikanische Sklave Andrew Bogle, dessen Familiengeschichte auf einer jamaikanischen Plantage im dritten Strang erzählt wird.
Wenn Smith ihrer Mrs Touchet ein Erbe mit ungeklärter Provenienz zuschustert und die Sklaverei-Gegnerin so moralisch in den Sklavenhandel und die Vergehen ihres verstorbenen Mannes verwickelt, dann bedient sich Smith eines Klischees viktorianischer Literatur (siehe „Great Expectations“ oder „Jane Eyre“). Und wenn sie einen Gerichtsprozess detailliert nacherzählt, dann im Schatten von Dickens’ „Bleak House“. Auch viktorianisch: Schriftsteller, die sich selbst überschätzen (George Eliots „Middlemarch“), (Frauen-)Leben, die nichts Großes hervorbringen und es trotzdem explizit verdienen, erzählt zu werden (auch Eliot), literarische Metakommentare (Eliot) und Erzählerweisheiten wie Smith’ Feststellung, Spiegel fußten auf einem „System grausamer Verzögerung“, weil sie die eigene Schönheit immer erst da offenbaren, wo sie bereits verloren sei (sehr, sehr Eliot). Und ja, auch dass Smith ihre Heldin Eliots „Middlemarch“ im Roman verteidigen lässt und so unsubtil deutlich macht, in welcher Tradition sie sich befindet, ist ein Eliot-Manöver. Smith flüchtet sich also nicht, oder nicht nur, in den „gemütlichen“ viktorianischen Roman. Innerhalb der angelsächsischen Literatur, die Smith in Cambridge studierte, ist der viktorianische Roman, wie Smith in einem Essay über Eliot schrieb, der Roman, den „wir vergöttern“, und George Eliot ist seine säkulare Prophetin. Bei Eliots „Middlemarch“ – ergab auch eine BBC-Umfrage unter 81 Literaturkritikern – handelt es sich schlicht um den besten Roman der englischen Literatur. Wenn Smith also zurückgreift, ein Verfahren, mit dem immer auch die Hoffnung einer Renaissance, eines Neustarts mit anderen Vorzeichen verbunden ist, dann auf den Roman am Höhepunkt seiner Möglichkeiten. In eine Zeit, in der der Roman Vormachtstellung genoss, als bildungsbürgerliches Unterhaltungsmedium (man hatte ja nichts in Sachen Streaming und soziale Medien), aber auch als Kirchenersatz einer säkularisierten Gesellschaft. Eine Zeit, in der die gesellschaftliche Aufgabe der Literatur deutlich klarer war: humanistische Werte zu vermitteln – Eliot fand sie bei Goethe und Spinoza –, die religiöse Leerstellen füllen sollten. „Das sind menschliche Erfahrungen“, schreibt Smith über Eliots Romane, „und deshalb heilig.“
Natürlich kann auch der größte Liebhaber des viktorianischen Realismus nicht erwarten, dass wir in alle Ewigkeiten Multiplot-Romane über zweifelhafte Erbschaften schreiben. Eine Ethik des Lebens und des Schreibens lässt sich aber transferieren – eine Antwort auf die Frage, wie Autoren sich zu den Krisen der Gegenwart verhalten können, was „hilft“.
Am deutlichsten macht Smith das in „Betrug“ mit der finalen Konfrontation zwischen Mrs Touchet und dem Sohn des ehemaligen Sklaven Bogle. Der junge, radikale Bogle (dessen Familiengeschichte Smith zuvor in schmerzhaften Details schilderte) fordert sofortige, absolute Gerechtigkeit, denn es ändere schließlich nichts, ob derjenige, der seine Freiheit einschränke, das mit lieben Worten tue oder Steine nach ihm werfe. Mrs Touchet antwortet: „Es ändert alles! Unsere Sünden haben verschiedene Grade, wie alles, was wir tun. Warum sollten wir sonst überhaupt etwas verbessern, überhaupt etwas unternehmen? ... unsere Seelen liegen weiter in der Waagschale. Und in der Zeit zwischen diesem gegenwärtigen Moment und einer künftigen moralischen Vollkommenheit müssen wir schließlich alle …“ Mrs Touchet wird von Bogle unterbrochen, reiner Zweifel kann niemals siegen – er kann sich nur als menschliche Alternative zu dogmatischen Perspektiven anbieten.
Nichts von dem, was Smith hier erzählt, ist ein direkter Kommentar auf spezifische Krisen der Gegenwart – weder kann man aus dem Betrüger Tichborne etwas über Trump lernen (auch wenn sich ein Trump-Roman besser vermarkten lässt,als ein ethisches Viktorianismus-Experiment), noch ist dieses ambivalente Plädoyer gegen moralischen Absolutismus eine Attacke auf das, was manche „Wokeness“ nennen. Tatsächlich ist der wohl klarste Unterschied zwischen Smith’ Roman und ihren viktorianischen Vorbildern, dass sie bestimmte Errungenschaften der progressiven Linken (die Akzeptanz von Homosexualität und kink) als gegeben erachtet, die im 19. Jahrhundert zu Zensur geführt hätten. Genauso lassen die jamaikanischen Passagen keinerlei Zweifel an der Falschheit der Sklaverei, ergänzen diese postkoloniale Perspektive nur eben mit dem unbedingten Glauben an Besserung.
Wie Eliot schreibt Smith nicht politisch, aber moralisch. Wendet sich ab, wie sie einst selbst über Eliot sagte „von falschen, abstrakten Moralvorstellungen“ und hin zu einer tiefschürfenden Faszination für den Anderen. Und so wie Mrs Touchet ihren Ainsworth gleichzeitig wirklich lieben kann und jede seiner Unzulänglichkeiten bemerken, so wie Mrs Touchet in Andrew Bogle gleichzeitig einen ehrlichen Mann und den Hauptzeugen eines Betrügers sehen kann, betrachtet Smith ihre Figuren mit einer beständigen Mischung aus Zärtlichkeit und Misstrauen. In dieser Welt gibt es keine guten oder bösen Menschen, aber es ist auch nicht alles moralisch grau (wie modernes Erzählen manchmal behauptet), denn es gibt endlose Schattierungen des Bemühens. Güte ist das Streben nach dem Guten. „Betrug“ liest sich, als würde Smith aus einer kriselnden Gegenwart und einer siechenden Gegenwartsliteratur aufschauen und sagen: Können wir noch mal bei Eliot anfangen? Was bedeutet: Können wir wieder humanistischer schreiben? Können wir einander als Menschen betrachten? Nun ja, wir versuchen es.
Da sind viele Gründe,
sich vor Worten auf
Papier zu ekeln
Wie Eliot schreibt
Smith nicht politisch,
aber moralisch
Die britische
Schriftstellerin Zadie Smith wurde im Jahr 2000 mit ihrem ersten
Roman „White Teeth“ schlagartig weltberühmt. Im Jahr darauf folgte das Ereignis, das Welt und Kunst verändern sollte. Foto: Eva Tedesjö/DN/TT/imago
Zadie Smith: Betrug.
Aus dem Englischen von Tanja Handels. Kiepenheuer & Witsch, Köln 2023. 528 Seiten,
26 Euro.
DIZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.sz-content.de
In Zadie Smiths Roman wird, wenn man so will, De-Kolonisierung betrieben, die Geschichtsschreibung erweitert, um die Perspektive der Ver-Sklavten, ausgegrenzter Individuen, von denen es kaum Zeugnisse gibt. Zadie Smiths Kunst besteht darin, dass sie Bogles Berichte seiner aus Afrika verschleppten Familie, die furchtbaren Gräuel, die ihr angetan wurden, zu Literatur macht. Markus Mayer Bayern 2 Diwan 20240128