Wie kann man Worte finden für das Unaussprechliche? Als Cherry neun Jahre ist, bringt sich ihre Mutter durch einen Sprung aus dem Fenster um. Und das Mädchen quält ein Leben lang die Frage: Hätte sie anders gehandelt, wenn Cherry sich an jenem letzten Abend, als die Mutter sie ins Bett brachte, nicht trotzig von ihr weggedreht hätte?
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 29.11.2012Ein paar Atemzüge jeden Tag
In ihrem Buch "Bevor ich falle" erzählt Lilly Lindner, wofür es sich zu leben lohnt
Es gibt da diesen leicht überdrehten Ton, diese Kraft aus der Sprachwurzel, wenn Wörter fallen wie "Auszeitschweigen". Oder "Abseitsstille". Man kennt diese Gewichte schon von Lilly Lindners Erstling: "Splitterfasernackt", als Autobiographie lanciert, schildert den Missbrauch der Sechsjährigen durch einen Nachbarn. Mit 13 Jahren fängt sie an zu hungern. Als junge Frau treibt sie ihren Körper durch die Mühlen der Prostitution. Eine Geschichte, so brutal, dass sie ausgedacht wirkt. Das Buch hat es 2011 zum Bestseller gebracht. Jetzt legt die 27 Jahre alte Berlinerin einen Roman vor, nicht minder roh im Stoff und aus dem innersten Dunkel kommend: "Bevor ich falle" wirkt fast noch ausgedachter. Aber es gibt solche Leben.
Wieder geht es um ein Mädchen, das zu viel aushalten muss und zu unterkühlen droht. Sie ist neun Jahre alt, als die Mutter aus dem Fenster springt. Tiefen ziehen die kleine Cherry fortan magisch an. Der Vater, ein Großverleger, der Worte und depressive Künstler hasst, kümmert sich nicht. Mit zwölf schimpft sie jeden gegen die Wand, versteckt hinter einem fulminanten Wortkorsett, das von blitzender Verknüpfungsleistung zeugt. Innen aber wächst das Schuldgefühl, die große Wunde. "Ich war so verletzt, dass ich angefangen habe, mich selbst zu verletzen - dabei wollte ich beim ersten Mal eigentlich nur austesten, ob ich ein Mensch bin und ob ich blute, wenn ich den schmalen Grat zwischen Verstand und Verfall zerschneide."
Das sind starke Sätze jenseits aller Lehrbücher. Sie fassen diese beginnende Sucht nach Selbstzerstörung wie enge Metallringe. Es braucht zwar eine Weile, bis die Ich-Erzählerin mit sich selbst im Zentrum auch die anderen bemerkt, bis sie herausfindet aus dem allzu frechen, verführerisch klingenden, aber leicht gekünstelten Haudraufton. Aber es gibt auch das Innehalten, die Punkte, die das brutale Abgeschnittensein vom Leben markieren und die hohle Stille ausleuchten. Manche Gespräche werden noch etwas breit- und plattgetreten. Und die Lebensretter dieser waidwunden jungen Erzählerin klappen etwas zu lautstark im Roman auf wie Pop-up-Figuren, die eben schnell gebastelt wurden, damit es weitergeht. Aber dann füllen sie sich eben doch mit Wärme, mit Leben.
Sie sprechen mit ihrem Hasen, wie Scratch, der Rockstar, für den Cherry Songtexte schreibt. Oder sie betreiben geradezu vorbildhaft, ganz ohne Übergriffe, Fürsorge aus großzügigem Herzen, wie Landon, Cherrys ehemaliger Schwimmtrainer, der sie an einem trostlosen Weihnachtsabend im Berliner Grunewald von der Straße aufliest. Einige Jahre wohnt Cherry bei ihm und übersteht so diese verschwommene Zeit bis zum Schulabschluss, immer mit Auffangbecken. In der ersten eigenen Wohnung trifft sie beim Ritzen die Pulsschlagader. Aber es geht doch immer irgendwie weiter, und es zieht einen auch weiter, der kühlen, klaren Sprache wegen, die auch der Erzählerin den Weg zurück ins Leben weist. "Ich habe mich großartig über die Zeit verteilt. Jeden Tag ein paar Atemzüge. So schwer ist das gar nicht." Lilly Lindner erzählt schonungslos offen vom täglichen Kampf gegen das Verschwindenwollen. Sie sagt, wofür es sich lohnt, trotzdem zu bleiben.
ANJA HIRSCH
Lilly Lindner: "Bevor ich falle". Roman.
Droemer Verlag, München 2012. 312 S., geb., 16,99 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
In ihrem Buch "Bevor ich falle" erzählt Lilly Lindner, wofür es sich zu leben lohnt
Es gibt da diesen leicht überdrehten Ton, diese Kraft aus der Sprachwurzel, wenn Wörter fallen wie "Auszeitschweigen". Oder "Abseitsstille". Man kennt diese Gewichte schon von Lilly Lindners Erstling: "Splitterfasernackt", als Autobiographie lanciert, schildert den Missbrauch der Sechsjährigen durch einen Nachbarn. Mit 13 Jahren fängt sie an zu hungern. Als junge Frau treibt sie ihren Körper durch die Mühlen der Prostitution. Eine Geschichte, so brutal, dass sie ausgedacht wirkt. Das Buch hat es 2011 zum Bestseller gebracht. Jetzt legt die 27 Jahre alte Berlinerin einen Roman vor, nicht minder roh im Stoff und aus dem innersten Dunkel kommend: "Bevor ich falle" wirkt fast noch ausgedachter. Aber es gibt solche Leben.
Wieder geht es um ein Mädchen, das zu viel aushalten muss und zu unterkühlen droht. Sie ist neun Jahre alt, als die Mutter aus dem Fenster springt. Tiefen ziehen die kleine Cherry fortan magisch an. Der Vater, ein Großverleger, der Worte und depressive Künstler hasst, kümmert sich nicht. Mit zwölf schimpft sie jeden gegen die Wand, versteckt hinter einem fulminanten Wortkorsett, das von blitzender Verknüpfungsleistung zeugt. Innen aber wächst das Schuldgefühl, die große Wunde. "Ich war so verletzt, dass ich angefangen habe, mich selbst zu verletzen - dabei wollte ich beim ersten Mal eigentlich nur austesten, ob ich ein Mensch bin und ob ich blute, wenn ich den schmalen Grat zwischen Verstand und Verfall zerschneide."
Das sind starke Sätze jenseits aller Lehrbücher. Sie fassen diese beginnende Sucht nach Selbstzerstörung wie enge Metallringe. Es braucht zwar eine Weile, bis die Ich-Erzählerin mit sich selbst im Zentrum auch die anderen bemerkt, bis sie herausfindet aus dem allzu frechen, verführerisch klingenden, aber leicht gekünstelten Haudraufton. Aber es gibt auch das Innehalten, die Punkte, die das brutale Abgeschnittensein vom Leben markieren und die hohle Stille ausleuchten. Manche Gespräche werden noch etwas breit- und plattgetreten. Und die Lebensretter dieser waidwunden jungen Erzählerin klappen etwas zu lautstark im Roman auf wie Pop-up-Figuren, die eben schnell gebastelt wurden, damit es weitergeht. Aber dann füllen sie sich eben doch mit Wärme, mit Leben.
Sie sprechen mit ihrem Hasen, wie Scratch, der Rockstar, für den Cherry Songtexte schreibt. Oder sie betreiben geradezu vorbildhaft, ganz ohne Übergriffe, Fürsorge aus großzügigem Herzen, wie Landon, Cherrys ehemaliger Schwimmtrainer, der sie an einem trostlosen Weihnachtsabend im Berliner Grunewald von der Straße aufliest. Einige Jahre wohnt Cherry bei ihm und übersteht so diese verschwommene Zeit bis zum Schulabschluss, immer mit Auffangbecken. In der ersten eigenen Wohnung trifft sie beim Ritzen die Pulsschlagader. Aber es geht doch immer irgendwie weiter, und es zieht einen auch weiter, der kühlen, klaren Sprache wegen, die auch der Erzählerin den Weg zurück ins Leben weist. "Ich habe mich großartig über die Zeit verteilt. Jeden Tag ein paar Atemzüge. So schwer ist das gar nicht." Lilly Lindner erzählt schonungslos offen vom täglichen Kampf gegen das Verschwindenwollen. Sie sagt, wofür es sich lohnt, trotzdem zu bleiben.
ANJA HIRSCH
Lilly Lindner: "Bevor ich falle". Roman.
Droemer Verlag, München 2012. 312 S., geb., 16,99 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
Anja Hirsch hat sich an den immer etwas überdrehten Ton dieser Autorin gewöhnt. Was wie Lilly Lindners Debüt zum Beststeller wird, muss zwar nicht gleich gut sein, Hirsch jedoch nimmt sich das neue Buch der Autorin möglichst unvoreingenommen vor. Und siehe da: Das Dunkel von frühem Missbrauch, Prostitution und Todessehnsucht, das Lindner wiederum durchmisst, wirkt echt auf die Rezensentin. Sogar die zunächst wie Pappkameraden auftretenden Nebenfiguren erwachen zum Leben, meint Hirsch. Die kühle Sprache fesselt sie an die Story, die am Ende gar nicht so hoffnungsfrei scheint.
© Perlentaucher Medien GmbH
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Anja Hirsch hat sich an den immer etwas überdrehten Ton dieser Autorin gewöhnt. Was wie Lilly Lindners Debüt zum Beststeller wird, muss zwar nicht gleich gut sein, Hirsch jedoch nimmt sich das neue Buch der Autorin möglichst unvoreingenommen vor. Und siehe da: Das Dunkel von frühem Missbrauch, Prostitution und Todessehnsucht, das Lindner wiederum durchmisst, wirkt echt auf die Rezensentin. Sogar die zunächst wie Pappkameraden auftretenden Nebenfiguren erwachen zum Leben, meint Hirsch. Die kühle Sprache fesselt sie an die Story, die am Ende gar nicht so hoffnungsfrei scheint.
© Perlentaucher Medien GmbH
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