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Das ganze Jahr über freuen sich die Münchner auf ihr Oktoberfest. Ist es endlich soweit, werfen sich Einheimische und eigens angereiste Touristen in Lederhose und Dirndl und stürzen sich ins Getümmel auf der Wiesn. Wo in kürzester Zeit sieben Millionen Maß Bier fließen, sind Grenzen schnell überschritten: Bierleichen, die ihren Rausch ausschlafen, säumen die als Aborte benutzten Grünflächen hinter den Festzelten. Polizei und Notärzte haben Hochsaison. Von Jahr zu Jahr sinkt die Hemmschwelle, und der Ausnahmezustand verschärft sich. Michael von Graffenried zeigt die abgründigen Seiten des wohl…mehr

Produktbeschreibung
Das ganze Jahr über freuen sich die Münchner auf ihr Oktoberfest. Ist es endlich soweit, werfen sich Einheimische und eigens angereiste Touristen in Lederhose und Dirndl und stürzen sich ins Getümmel auf der Wiesn. Wo in kürzester Zeit sieben Millionen Maß Bier fließen, sind Grenzen schnell überschritten: Bierleichen, die ihren Rausch ausschlafen, säumen die als Aborte benutzten Grünflächen hinter den Festzelten. Polizei und Notärzte haben Hochsaison. Von Jahr zu Jahr sinkt die Hemmschwelle, und der Ausnahmezustand verschärft sich. Michael von Graffenried zeigt die abgründigen Seiten des wohl berühmtesten Volksfests der Welt. Seine Bilder machen

keinen Unterschied zwischen der Gaudi im Bierzelt und dem Delirium abseits der Menschenmassen.
Autorenporträt
Graffenried, Michael
Michael von Graffenried wurde 1957 in Bern geboren und lebt in Paris. Aus dem Fotojournalismus kommend, arbeitet er heute an Langzeitprojekten, die er medienübergreifend präsentiert. Seine Bilder waren in Ausstellungen sowohl in Frankreich und der Schweiz als auch in New York, Algier, Hong Kong und Beirut zu sehen und sind in zahlreichen internationalen Sammlungen vertreten. Nach Robert Frank und René Burri ist er der dritte Schweizer Dr.-Erich-Salomon-Preisträger der deutschen Gesellschaft für Photographie.
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 24.09.2015

Mass für Mass - it's a must

Zeig mir deine Schleife, Dirndl: Sechzehn Tage regiert auf der Münchner Theresienwiese die reine Entäußerung. Der Fotograf Michael von Graffenried hat sie in Bilder gebannt.

Von Hannes Hintermeier

Es ist ein Geheimnis rund um das bayerische Weibsbild, aber man darf darauf wetten, dass das wieder keiner merkt. Reden wir also vom Dirndl, dem Wort für "Mädchen" einerseits und jenem für das trachtige Kleidungsstück andererseits. Schon Mahatma Gandhi hat eingeräumt, dass nächst dem Sari das Dirndl "the most sexy dress on earth" ist. Weil es nämlich aus so gut wie jedem weiblichen Wesen eine Frau machen kann, sofern diese bei der Auswahl ein gutes Händchen beweist. Will sagen, das ist keine Frage von möglichst freizügig zur Schau gestellter Oberweite - jedenfalls nicht nur. Es ist vielmehr eine von Geschmack, Schnitt und Preisklasse. Dieser universale Ansatz, den das Dirndl mit der langen Stoffbahn des Saris teilt, gerät gern in den Hintergrund, weil dieses aufwendig verarbeitete Kleidungsstück im volkstümelnden Disneyland der Triebe für ungenierte Ausschnittglotzerei missbraucht wird. Holz vor der Hütt'n und so, host mi?

Dabei böte gerade eine restlos globalisierte Massenveranstaltung wie das Münchner Oktoberfest die Chance, die wahren Dirndlwerte in den Mittelpunkt zu rücken - tragen doch mittlerweile die allermeisten Besucherinnen Tracht oder jedenfalls Tracht imitierende Billigfetzen. Seit ein paar Jahren kommen auch durchsichtige Schürzen zum Einsatz, die mit Perlen verziert und mit Gold- und Silberfäden durchwirkt sind. Die Fabrikanten solcher Zeitgeisteleien behaupten, diese "Glitzerdirndl" seien nicht mehr aus der Trachtenmode wegzudenken. Nach kurzem Nachdenken kommt man jedoch zu einer gegenteiligen Beurteilung.

Der Zeichencharakter des Dirndls bleibt dabei nicht erst nach ein paar Mass auf der Strecke, sondern schon beim Anziehen. Deshalb hier in Kürze eine Anleitung zum richtigen Binden der Dirndlschleife: Wird diese auf der Vorderseite mittig geknöpft, will die Trägerin signalisieren, dass sie sich noch im Zustand der Virginität befindet. Gleiches auf der Rückseite veranstaltet, kündet dagegen von Witwenschaft. Ausnahme: Kellnerinnen.

Die Dirndlforscherinnen Heide und Kathrin Hollmer haben Frauen, die die Schleife rechts tragen, als verheiratet respektive verlobt oder wenigstens vergeben ausgemacht. Also, Burschen, Finger weg! Anbandeln schickt sich demnach nur bei Linksträgerinnen. Bleibt die Frage, von wo aus links und rechts zu bewerten ist - von Seite der Trägerin oder der des Betrachters aus; für Missverständnisse in alkoholisiertem Zustand bleibt mehr Spielraum als ein Emmentaler Löcher hat.

Und so pilgern sie derzeit wieder hinaus auf die Theresienwiese, am kommenden Samstag und Sonntag ist Italiener-Wochenende, dann schnurcheln in Karawanen Tausende von Wohnmobilen über den Brenner gen Monaco di Baviera. Ein Schauspiel mit ganz eigenem Reiz, das man durchaus als Kompliment unserer arkadischen Nachbarn nehmen darf. Mehr als 6,3 Millionen Besucher kamen im vergangenen Jahr und tranken 6,6 Millionen Mass, recht viel weniger werden es in diesem Durchgang nicht werden. Aus dem Volksfest von einst ist ein Umsatzbringer der Spitzenklasse geworden, mehr als fünfzig Euro lässt jeder Besucher mindestens liegen. Der Bierpreis hat seine Aufregerqualität längst eingebüßt, die Zehn-Euro-Marke wurde schon durchbrochen. Zum Telefonieren geht man aufs Klo, was dazu führt, dass die Schlangen noch länger werden. Downgeloaded ist schnell was, aber abgeschlagen eben nicht.

Wären die syrischen Flüchtlinge Anfang September nicht am Hauptbahnhof, sondern an der U-Bahn-Station Theresienwiese angekommen, sie hätten die Welt endgültig nicht mehr verstanden. Oder wenigstens gedacht, sie wären an Germany vorbeigefahren. Einen munteren Eindruck von diesem kollektiven Besäufnis kann man sich in dem Bildband "Bierfest" machen. Dessen Autor, der Fotograf Michael von Graffenried, hat es vorgezogen, seinen doppelseitigen Reportagebildern kein einziges erklärendes Wort hinzuzufügen. Ein Querformat sagt mehr als jeder Essay?

Der Rundgang beginnt am Morgen, wenn sich die Frühansteher beim Vorglühen in Stimmung bringen, um einen langen Tag anzugehen, der erst mit dem Zapfenstreich um 22.30 Uhr offiziell beendet sein wird; eine Stunde später schließen die Zelte. So weit will der Fotograf nicht mitgehen, er begnügt sich mit Tageslicht, um am Ende bei Sanitätern, Sicherheitsdiensten und Polizei zu landen, die sich um Wildbiesler, Bierleichen und andere öffentlich erregte Ärgernisse kümmern müssen.

Geschäft ist Geschäft, und wenn es einem Wiesnwirt in dem ganzen Trubel nicht gelingt, steuerlich die Übersicht zu behalten, dann ist das menschlich doch nur allzu begreiflich. Dann verspricht er eben spätestens vor Gericht umfangreiche Compliance-Maßnahmen, um das Auftreten solcher Schwachstellen künftig zu vermeiden. Und wenn das alles nicht hinhaut, rückt ein anderer nach, benennt das Zelt um, und weiter geht es - es muss ja weitergehen. Es ist ja immer weitergegangen, gell. Nur die Bavaria schweigt eisern zu all den festlichen Entgleisungen, die sich zu ihren Füßen abspielen.

"Bierfest" von Michael von Graffenried. Steidl Verlag, Göttingen 2014. Unpaginiert, zahlreiche Farbfotografien. Gebunden, 34 Euro. Die Bilder dieser Seite sind diesem Band entnommen.

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