Der Big Bang war der heißeste Augenblick der Weltgeschichte. Der Rest ist Abkühlung. Und die hatte Folgen: Atome und Sterne entstanden, die Erde und wir. Eingebettet in die Geschichte des Universums ist auch die Geschichte der Menschheit. David Christian erzählt die Historie der Welt anhand von acht Schwellenmomenten: von der Entstehung des Lebens bis zur Fotosynthese, von der Sprache bis zum menschgemachten Klimawandel. Sein Buch ist eine brillante Synthese der Erkenntnisse aus Astronomie, Biologie, Chemie und Physik. Und eine atemberaubende moderne Ursprungsgeschichte, die mit einem Ausblick auf die Zukunft endet, in der wir endlich die Verantwortung für den Planeten Erde übernehmen müssen.
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 01.09.2018Kosmopolitisch
Big History verbindet Menschheitsgeschichte und Weltall.
Ihr Begründer David Christian erklärt sie auf 400 Seiten
VON GUSTAV SEIBT
Chroniken begannen früher üblicherweise mit der Erschaffung der Welt. Auch die Bibel ist zunächst ein Geschichtsbuch. Später legte die verwissenschaftlichte Historie einen Graben zwischen Natur und Geschichte, dann sogar zwischen Geschichte und Vorgeschichte. Vorgeschichte, das war das schriftlose, überlieferungsarme Leben des Menschen, mehr Anthropologie als Historie. Die Kolonisierung fremder Kulturen wurde als deren „Eintritt in die Geschichte“ gefeiert. Die Geschichte von Erde und Weltall fand ohnehin in anderen Dimensionen statt.
Allerdings sind diese Trennungen erst jungen Datums. Noch im 18. Jahrhundert konnten Naturgeschichte und Historie organisch ineinander übergehen. Johann Gottfried Herder beginnt seine „Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit“ mit einer Prosa, die an Joseph Haydns Schöpfungsmusik erinnert. „Unsere Erde ist ein Stern unter Sternen“ lautet das erste Kapitel: „Mit unsichtbaren, ewigen Banden ist sie an ihren Mittelpunkt, die Sonne, gebunden, von der sie Licht, Wärme, Leben und Gedeihen erhält.“
Es wirkt wie eine der vielen Reprisen der Ideengeschichte, wenn seit anderthalb Jahrzehnten mit dem Konzept der „Big History“ diese Einheit von Weltall und Geschichte wieder auf den Plan tritt. Denn „Big History“, das ist die Disziplin, die die Geschichte von „allem“ erzählen will, vom Urknall bis zum Anthropozän, und zwar wirklich als Geschichte.
Sie verfährt in zeitlicher Reihenfolge, beginnt vor 13,8 Milliarden Jahren mit der urplötzlichen Ausdehnung eines Energiepunkts, womit das bis heute andauernde Auseinandertreiben des Weltalls einsetzt. Sie verfolgt danach die Energieumschichtungen und Teilchenmetamorphosen, die vor 13,2 Milliarden Jahren erste Sterne glühen lassen, begleitet die seither andauernde Entstehung neuer Elemente auf sterbenden Sternen und gelangt bei unserer Sonne vor 4,5 Milliarden Jahren zu einer ersten Form von Anschaulichkeit für uns Erdenbewohner. Die Sonne, das war Herders Ausgangspunkt.
Auf einem ihrer Trabanten kann sich bei ebenso zufälligen wie instabilen Atmosphäreverhältnissen vor 3,8 Milliarden Jahren erstes Leben bilden, das sich vor 600 Millionen Jahren in größeren Organismen aus arbeitsteiligen Zellverbänden entwickelt. Irgendwann schaffen es diese komplexen Lebewesen vom Wasser aufs Land, in einer Operation, die der Kolonisierung eines neuen Planeten gleicht, so mühsam, langwierig und riskant war sie. Da sind wir bei 600 Millionen Jahren vor unserer Zeit. Der schöne Vergleich von Landnahme mit Planetenbesiedelung stammt von David Christian, dem eigentlichen Begründer und wichtigsten Vertreter der „Big History“. Soeben hat er eine neue Synthese seines Fachs vorgelegt: „Big History. Die Geschichte der Welt – vom Urknall bis zur Zukunft der Menschheit“ (Hanser-Verlag).
Ein Prinzip dieser Geschichte ist die rasende Beschleunigung. Denn schon 65 Millionen Jahre vor unserer Zeit kann ein Asteroideneinschlag höchstentwickelte Riesentiere wie die Dinosaurier innerhalb weniger Stunden vernichten. Gemessen an den Gesamtdimensionen fand das erst vor drei Wochen statt, wenn man nämlich die Zeitleiste durch den Faktor 1 Milliarde teilt. Geradezu intim nah ist die Trennung von Schimpansen und Hominiden, menschenähnlichen Affen also, vor etwa sieben Millionen Jahren – was 2,5 Tagen entspräche.
Den Homo erectus, einen aufrecht gehenden Menschen, soll es vor 200 000 Jahren gegeben haben, und damit sind wir schon fast bei dem Zeitmaß, über das der Mensch sich traditionell Rechenschaft geben soll: Vor 10 000 Jahren endete die letzte Eiszeit, eine von mehreren: Immer wieder vergletscherte der Erdball und wurde wieder überschwemmt.
Der Rest ist vergleichsweise bekannt: Vor 5000 Jahren begannen jene Agrarzivilisationen, die vom Überschuss des Landanbaus große Städte und Staaten ernähren, die schriftkundig sind, Wissen akkumulieren, Traditionen weitergeben und übers Menschsein überhaupt nachdenken können. Der aus fernster Tiefe stammende Kosmos schlägt im Menschen das Auge auf und wird sich an einem winzigen Punkt seiner selbst bewusst – wer aber will wissen, an wie viel anderen noch? Wo es Milliarden Galaxien mit Abermilliarden Planetensystemen gibt, können auch anderswo die Bedingungen für Leben und Bewusstsein entstehen. Die Weltchronik wird lokal.
Aber bigger geht es doch nicht. Zumal wenn diese Geschichte nur einen mittellangen Band von knapp 400 Seiten umfasst, und dabei nicht einfach Zeitspannen durchmisst, sondern ganze Wissensgebiete aufschlüsselt, Sternenkunde, Erdkunde, Klimakunde, Biologie. Der kosmische Vorlauf mündet in die Fotosynthese, die raffinierte Verwandlung von Sonnenlichtenergie in Pflanzenwachstum, für Organismen also, die der Schwerkraft mit stabilen hochhausartigen Strukturen entgegenarbeiten, um sich zur Sonne zu recken: Gräser, Blumen und Bäume. Erde und Sonne, das ist unser Link zum Kosmos. Denn mit der Fotosynthese beginnt die terrestrische Nahrungskette, weil Pflanzen und ihre Früchte von Tieren gefressen werden können, die sich wiederum gegenseitig verspeisen. Aus dem Roman des Weltalls wird der Roman der Evolution.
Der 1946 in Australien geborene David Christian ist der Gründer dieser großräumigen Naturgeschichtswissenschaft und begann als Historiker, nicht als Naturwissenschaftler. Doch inzwischen beherrscht er deren Disziplinen so gut, dass er den essayistischen Zugriff auf „alles“ wagen kann. Bill Gates fand Gefallen an dieser Übersichtlichkeit und ließ sich die Verbreitung des Wissensagglomerats viel Geld kosten. Es gibt Kurse und Vorträge im Netz davon, ein Programm für Schulen und Universitäten. In kürzester Fassung hat Christian eine „Big History in 18 Minuten“ auf einer Ted-Konferenz abgeliefert. Das Video dürfte das Geschichtsbewusstsein der globalen Nerd-Klasse mehr geprägt haben als ganze Bibliotheken.
Wer sein neues Buch liest, wird nicht zuletzt seine metaphorische Sprache bestaunen, die bewusst oder unwillkürlich an klassische Weltentstehungspoesie anknüpft. Kosmische Kräfte erscheinen wie handelnde Figuren oder wie Allegorien. Die Entropie „verlangt Steuern“ für höhere Organismen, deren Ausbildung höchst energieaufwendig ist, wo doch die Drift des Universums im Allgemeinen ins Zerstäuben geht, in den Strukturverlust. Strukturen, Ordnungen bildeten sich nach Christian ohnehin immer nur zufällig, aus randständigen Überbleibseln. Die Materietrümmer, die durch einen eisig-düster-leeren Kosmos mit allerlei Hintergrundstrahlungen, kaum messbaren Energien und Teilchenmeeren segeln – die sichtbare Welt der Galaxien also –, bestehen nur aus Brotkrumen vom großen Energiekollaps, in dem der Kosmos sich verschlingt.
Selbst der Anschaulichkeit ist hier schwer zu folgen, und am Ende läuft es auf wunderbares Pappmaché aus Worten hinaus, wie auf einer Bretterbühne, wo drei Erzengel Verse singen. Aber wir Menschen haben eben nichts anderes als solche Modelle, eine Second World, die die Umwelt gerade so greifbar macht, dass sie sich bearbeiten und ein wenig verstehen lässt. Dieses Wissenkönnen, wie beschränkt es auch sei, ist die eigentümliche Stärke des Lebewesens Mensch, das seine Umwelt damit methodisch verwandeln kann.
Bewusstsein ist eine aufs Höchste gesteigerte Aufmerksamkeit, sagt Christian, es ermöglicht Kooperationen von immer größeren Gruppen, speicherndes Lernen, eine „Noosphäre“, die kosmologisch einen kaum weniger großen Schritt bedeutet als die Eroberung des Landes durch patschende Wasserwesen. Gesellschaften und Staaten gleichen in dieser Perspektive gewaltigen arbeitsteiligen Lebewesen, durch allerlei biologisch-geistige Klebstoffe zusammengehalten, durch Verkehr und Kommunikationen, die immer weltumspannender werden: Vor 500 Jahren traten alle Erdteile miteinander in Verbindung.
Christian arbeitet mit dem Begriff der „Schwellen“, insgesamt zählt er acht. Die drei letzten betreffen die Menschheitsgeschichte: Mensch, Landwirtschaft, Anthropozän. Die letzte Schwelle, das Anthropozän, hat die Menschheit mit der Ausbeutung der fossilen Brennstoffe überschritten. In einem erdgeschichtlichen Ausnahmemoment sind wir gerade dabei, die gespeicherte Sonnenenergie von Milliarden Jahren zu verfeuern. Das kann man als einen allerdings nur in menschlichen Zeitmaßen langsamen Feuersturm in der Atmosphäre beschreiben. Anders als Yuval Noah Harari, der andere populäre Vertreter der Big History, hält Christian diese ökologische Revolution für wichtiger als die Entwicklung der künstlichen Intelligenz, mit der Harari die Zukunft schon begonnen sein lässt.
Christians Modell bleibt bei dem Punkt, an dem die Geschichte der Zivilisation mit dem Kosmos zusammenhängt. Was ist Reichtum? Er besteht, so Christian, „nie wirklich aus Dingen, sondern aus der Kontrolle über die Energieflüsse, die Dinge machen, bewegen, abbauen und verwandeln. Reichtum ist gewissermaßen komprimiertes Sonnenlicht, genauso wie Materie in Wirklichkeit geronnene Energie ist“. Soziale Ungleichheit, Herrschaft, Hierarchien sind der erfolgreiche Versuch, der Masse der Bevölkerung diese komprimierte Energie einschließlich der sie ermöglichenden Ressourcenflüsse zu entziehen. Wenn es erstmals eine globale Mittelklasse gibt, die nicht mehr nur knapp am Energieminimum lebt wie in früheren Epochen fast alle Menschen, dann heißt das für den Naturhistoriker: Allmählich wird das Sonnenlicht paritätisch verteilt.
Das Anthropozän bedeutet, dass die Gattung Mensch zu einem erdgeschichtlichen Faktor wurde. Wir haben, so Christian am Ende, die Wahl zwischen einem schlechten und einem guten Anthropozän: Im schlechten werden wir die Möglichkeit unseres Stoffwechsels mit der Natur in Gefahr bringen. Im guten schaffen wir den Übergang zu einem Gleichgewicht. Das muss angesichts heutiger Möglichkeiten der physikalischen Energiegewinnung nicht allein auf stabilen Verbrauch von Sonnenenergie hinauslaufen. Und doch wird sie, das nachwachsende Leben, der Kern der Erhaltung unseres Lebens bleiben müssen. Wie viel Zeit bleibt uns? Hundert Jahre, schätzt Christian, in seinem Milliardenmaßstab sind das drei Sekunden.
„Big History“ ist auch der Versuch, ein Menschheitsbewusstsein zu begründen. Dass Menschen sich wegen biologisch minimaler Unterschiede im Phänotyp, wegen kultureller Differenzen, die schon angesichts unserer Gattungsgeschichte nur Fußnoten sind, die Köpfe einschlagen, während der Thermostat der Erde außer Kontrolle gerät, hat etwas Erbärmliches. Das Wort „Kosmopolitismus“ erhält im Blick der Big History eine unerhörte Ausdehnung.
Bill Gates
fand
Gefallen
an den
Ideen.
Und
verbreitete
sie weiter
Wie viel
Zeit
bleibt den
Menschen?
Hundert
Jahre,
schätzt
Christian
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Big History verbindet Menschheitsgeschichte und Weltall.
Ihr Begründer David Christian erklärt sie auf 400 Seiten
VON GUSTAV SEIBT
Chroniken begannen früher üblicherweise mit der Erschaffung der Welt. Auch die Bibel ist zunächst ein Geschichtsbuch. Später legte die verwissenschaftlichte Historie einen Graben zwischen Natur und Geschichte, dann sogar zwischen Geschichte und Vorgeschichte. Vorgeschichte, das war das schriftlose, überlieferungsarme Leben des Menschen, mehr Anthropologie als Historie. Die Kolonisierung fremder Kulturen wurde als deren „Eintritt in die Geschichte“ gefeiert. Die Geschichte von Erde und Weltall fand ohnehin in anderen Dimensionen statt.
Allerdings sind diese Trennungen erst jungen Datums. Noch im 18. Jahrhundert konnten Naturgeschichte und Historie organisch ineinander übergehen. Johann Gottfried Herder beginnt seine „Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit“ mit einer Prosa, die an Joseph Haydns Schöpfungsmusik erinnert. „Unsere Erde ist ein Stern unter Sternen“ lautet das erste Kapitel: „Mit unsichtbaren, ewigen Banden ist sie an ihren Mittelpunkt, die Sonne, gebunden, von der sie Licht, Wärme, Leben und Gedeihen erhält.“
Es wirkt wie eine der vielen Reprisen der Ideengeschichte, wenn seit anderthalb Jahrzehnten mit dem Konzept der „Big History“ diese Einheit von Weltall und Geschichte wieder auf den Plan tritt. Denn „Big History“, das ist die Disziplin, die die Geschichte von „allem“ erzählen will, vom Urknall bis zum Anthropozän, und zwar wirklich als Geschichte.
Sie verfährt in zeitlicher Reihenfolge, beginnt vor 13,8 Milliarden Jahren mit der urplötzlichen Ausdehnung eines Energiepunkts, womit das bis heute andauernde Auseinandertreiben des Weltalls einsetzt. Sie verfolgt danach die Energieumschichtungen und Teilchenmetamorphosen, die vor 13,2 Milliarden Jahren erste Sterne glühen lassen, begleitet die seither andauernde Entstehung neuer Elemente auf sterbenden Sternen und gelangt bei unserer Sonne vor 4,5 Milliarden Jahren zu einer ersten Form von Anschaulichkeit für uns Erdenbewohner. Die Sonne, das war Herders Ausgangspunkt.
Auf einem ihrer Trabanten kann sich bei ebenso zufälligen wie instabilen Atmosphäreverhältnissen vor 3,8 Milliarden Jahren erstes Leben bilden, das sich vor 600 Millionen Jahren in größeren Organismen aus arbeitsteiligen Zellverbänden entwickelt. Irgendwann schaffen es diese komplexen Lebewesen vom Wasser aufs Land, in einer Operation, die der Kolonisierung eines neuen Planeten gleicht, so mühsam, langwierig und riskant war sie. Da sind wir bei 600 Millionen Jahren vor unserer Zeit. Der schöne Vergleich von Landnahme mit Planetenbesiedelung stammt von David Christian, dem eigentlichen Begründer und wichtigsten Vertreter der „Big History“. Soeben hat er eine neue Synthese seines Fachs vorgelegt: „Big History. Die Geschichte der Welt – vom Urknall bis zur Zukunft der Menschheit“ (Hanser-Verlag).
Ein Prinzip dieser Geschichte ist die rasende Beschleunigung. Denn schon 65 Millionen Jahre vor unserer Zeit kann ein Asteroideneinschlag höchstentwickelte Riesentiere wie die Dinosaurier innerhalb weniger Stunden vernichten. Gemessen an den Gesamtdimensionen fand das erst vor drei Wochen statt, wenn man nämlich die Zeitleiste durch den Faktor 1 Milliarde teilt. Geradezu intim nah ist die Trennung von Schimpansen und Hominiden, menschenähnlichen Affen also, vor etwa sieben Millionen Jahren – was 2,5 Tagen entspräche.
Den Homo erectus, einen aufrecht gehenden Menschen, soll es vor 200 000 Jahren gegeben haben, und damit sind wir schon fast bei dem Zeitmaß, über das der Mensch sich traditionell Rechenschaft geben soll: Vor 10 000 Jahren endete die letzte Eiszeit, eine von mehreren: Immer wieder vergletscherte der Erdball und wurde wieder überschwemmt.
Der Rest ist vergleichsweise bekannt: Vor 5000 Jahren begannen jene Agrarzivilisationen, die vom Überschuss des Landanbaus große Städte und Staaten ernähren, die schriftkundig sind, Wissen akkumulieren, Traditionen weitergeben und übers Menschsein überhaupt nachdenken können. Der aus fernster Tiefe stammende Kosmos schlägt im Menschen das Auge auf und wird sich an einem winzigen Punkt seiner selbst bewusst – wer aber will wissen, an wie viel anderen noch? Wo es Milliarden Galaxien mit Abermilliarden Planetensystemen gibt, können auch anderswo die Bedingungen für Leben und Bewusstsein entstehen. Die Weltchronik wird lokal.
Aber bigger geht es doch nicht. Zumal wenn diese Geschichte nur einen mittellangen Band von knapp 400 Seiten umfasst, und dabei nicht einfach Zeitspannen durchmisst, sondern ganze Wissensgebiete aufschlüsselt, Sternenkunde, Erdkunde, Klimakunde, Biologie. Der kosmische Vorlauf mündet in die Fotosynthese, die raffinierte Verwandlung von Sonnenlichtenergie in Pflanzenwachstum, für Organismen also, die der Schwerkraft mit stabilen hochhausartigen Strukturen entgegenarbeiten, um sich zur Sonne zu recken: Gräser, Blumen und Bäume. Erde und Sonne, das ist unser Link zum Kosmos. Denn mit der Fotosynthese beginnt die terrestrische Nahrungskette, weil Pflanzen und ihre Früchte von Tieren gefressen werden können, die sich wiederum gegenseitig verspeisen. Aus dem Roman des Weltalls wird der Roman der Evolution.
Der 1946 in Australien geborene David Christian ist der Gründer dieser großräumigen Naturgeschichtswissenschaft und begann als Historiker, nicht als Naturwissenschaftler. Doch inzwischen beherrscht er deren Disziplinen so gut, dass er den essayistischen Zugriff auf „alles“ wagen kann. Bill Gates fand Gefallen an dieser Übersichtlichkeit und ließ sich die Verbreitung des Wissensagglomerats viel Geld kosten. Es gibt Kurse und Vorträge im Netz davon, ein Programm für Schulen und Universitäten. In kürzester Fassung hat Christian eine „Big History in 18 Minuten“ auf einer Ted-Konferenz abgeliefert. Das Video dürfte das Geschichtsbewusstsein der globalen Nerd-Klasse mehr geprägt haben als ganze Bibliotheken.
Wer sein neues Buch liest, wird nicht zuletzt seine metaphorische Sprache bestaunen, die bewusst oder unwillkürlich an klassische Weltentstehungspoesie anknüpft. Kosmische Kräfte erscheinen wie handelnde Figuren oder wie Allegorien. Die Entropie „verlangt Steuern“ für höhere Organismen, deren Ausbildung höchst energieaufwendig ist, wo doch die Drift des Universums im Allgemeinen ins Zerstäuben geht, in den Strukturverlust. Strukturen, Ordnungen bildeten sich nach Christian ohnehin immer nur zufällig, aus randständigen Überbleibseln. Die Materietrümmer, die durch einen eisig-düster-leeren Kosmos mit allerlei Hintergrundstrahlungen, kaum messbaren Energien und Teilchenmeeren segeln – die sichtbare Welt der Galaxien also –, bestehen nur aus Brotkrumen vom großen Energiekollaps, in dem der Kosmos sich verschlingt.
Selbst der Anschaulichkeit ist hier schwer zu folgen, und am Ende läuft es auf wunderbares Pappmaché aus Worten hinaus, wie auf einer Bretterbühne, wo drei Erzengel Verse singen. Aber wir Menschen haben eben nichts anderes als solche Modelle, eine Second World, die die Umwelt gerade so greifbar macht, dass sie sich bearbeiten und ein wenig verstehen lässt. Dieses Wissenkönnen, wie beschränkt es auch sei, ist die eigentümliche Stärke des Lebewesens Mensch, das seine Umwelt damit methodisch verwandeln kann.
Bewusstsein ist eine aufs Höchste gesteigerte Aufmerksamkeit, sagt Christian, es ermöglicht Kooperationen von immer größeren Gruppen, speicherndes Lernen, eine „Noosphäre“, die kosmologisch einen kaum weniger großen Schritt bedeutet als die Eroberung des Landes durch patschende Wasserwesen. Gesellschaften und Staaten gleichen in dieser Perspektive gewaltigen arbeitsteiligen Lebewesen, durch allerlei biologisch-geistige Klebstoffe zusammengehalten, durch Verkehr und Kommunikationen, die immer weltumspannender werden: Vor 500 Jahren traten alle Erdteile miteinander in Verbindung.
Christian arbeitet mit dem Begriff der „Schwellen“, insgesamt zählt er acht. Die drei letzten betreffen die Menschheitsgeschichte: Mensch, Landwirtschaft, Anthropozän. Die letzte Schwelle, das Anthropozän, hat die Menschheit mit der Ausbeutung der fossilen Brennstoffe überschritten. In einem erdgeschichtlichen Ausnahmemoment sind wir gerade dabei, die gespeicherte Sonnenenergie von Milliarden Jahren zu verfeuern. Das kann man als einen allerdings nur in menschlichen Zeitmaßen langsamen Feuersturm in der Atmosphäre beschreiben. Anders als Yuval Noah Harari, der andere populäre Vertreter der Big History, hält Christian diese ökologische Revolution für wichtiger als die Entwicklung der künstlichen Intelligenz, mit der Harari die Zukunft schon begonnen sein lässt.
Christians Modell bleibt bei dem Punkt, an dem die Geschichte der Zivilisation mit dem Kosmos zusammenhängt. Was ist Reichtum? Er besteht, so Christian, „nie wirklich aus Dingen, sondern aus der Kontrolle über die Energieflüsse, die Dinge machen, bewegen, abbauen und verwandeln. Reichtum ist gewissermaßen komprimiertes Sonnenlicht, genauso wie Materie in Wirklichkeit geronnene Energie ist“. Soziale Ungleichheit, Herrschaft, Hierarchien sind der erfolgreiche Versuch, der Masse der Bevölkerung diese komprimierte Energie einschließlich der sie ermöglichenden Ressourcenflüsse zu entziehen. Wenn es erstmals eine globale Mittelklasse gibt, die nicht mehr nur knapp am Energieminimum lebt wie in früheren Epochen fast alle Menschen, dann heißt das für den Naturhistoriker: Allmählich wird das Sonnenlicht paritätisch verteilt.
Das Anthropozän bedeutet, dass die Gattung Mensch zu einem erdgeschichtlichen Faktor wurde. Wir haben, so Christian am Ende, die Wahl zwischen einem schlechten und einem guten Anthropozän: Im schlechten werden wir die Möglichkeit unseres Stoffwechsels mit der Natur in Gefahr bringen. Im guten schaffen wir den Übergang zu einem Gleichgewicht. Das muss angesichts heutiger Möglichkeiten der physikalischen Energiegewinnung nicht allein auf stabilen Verbrauch von Sonnenenergie hinauslaufen. Und doch wird sie, das nachwachsende Leben, der Kern der Erhaltung unseres Lebens bleiben müssen. Wie viel Zeit bleibt uns? Hundert Jahre, schätzt Christian, in seinem Milliardenmaßstab sind das drei Sekunden.
„Big History“ ist auch der Versuch, ein Menschheitsbewusstsein zu begründen. Dass Menschen sich wegen biologisch minimaler Unterschiede im Phänotyp, wegen kultureller Differenzen, die schon angesichts unserer Gattungsgeschichte nur Fußnoten sind, die Köpfe einschlagen, während der Thermostat der Erde außer Kontrolle gerät, hat etwas Erbärmliches. Das Wort „Kosmopolitismus“ erhält im Blick der Big History eine unerhörte Ausdehnung.
Bill Gates
fand
Gefallen
an den
Ideen.
Und
verbreitete
sie weiter
Wie viel
Zeit
bleibt den
Menschen?
Hundert
Jahre,
schätzt
Christian
DIZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
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Perlentaucher-Notiz zur Süddeutsche Zeitung-Rezension
13,8 Milliarden Jahre Geschichte auf 400 Seiten zu erzählen - das schafft nur der australische Historiker und Naturwissenschaftler David Christian, der Begründer der Big History, der hier das bisherige Resümee seines Faches vorlegt, staunt Rezensent Gustav Seibt. Der Kritiker reist hier vom "Urknall bis zum Anthropozän", vorbei an ersten Zellverbänden, Dinosauriern und Hominiden, erfährt Wissenswertes aus Biologie, Sternen-, Erd- und Klimakunde und bewundert nicht zuletzt Christians "metaphorische", an "klassische Weltentstehungspoesie" angelehnte Sprache. Dass nicht künstliche Intelligenz, sondern die Ausbeutung der fossilen Brennstoffe die größte Bedrohung des Menschen im Anthropozän ist, lernt der Kritiker hier ebenfalls.
© Perlentaucher Medien GmbH
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"Mit großem Schwung versteht es Christian tatsächlich, die naturwissenschaftlichen Grundlagen ebenso wie die atemberaubenden Dimensionen von Raum und Zeit ... verständlich zu machen." Kathrin Meier-Rust, NZZ am Sonntag, 30.09.18
"Wer Christians neues Buch liest, wird nicht zuletzt seine metaphorische Sprache bestaunen, die bewusst oder unwillkürlich an klassische Weltentstehungspoesie anknüpft." Gustav Seibt, Süddeutsche Zeitung, 01.09.18
"Auf schmissig geschriebenen 380 Seiten führt der Historiker in die Entstehung des Universums ein, deckt die Bedingungen des Lebens auf und zeichnet den zusehends von 'destruktiver Veränderlichkeit' begleiteten Werdegang unserer Spezies bis in die Jetztzeit nach." Claudia Mäder, Neue Zürcher Zeitung, 22.08.18
"Es ist wirklich eine Global-, eine Universal-, eine Weltgeschichte ... Das ist eine große prächtige Erzählung." Arno Widmann, Frankfurter Rundschau, 04.08.18
"David Christian bettet die Geschichte der Menschheit ein in die Geschichte des Universums und des Lebens allgemein; er erzählt sie als gewaltige, komplexe, schöne und beflügelnde Geschichte, und ja, auch als Erfolgsgeschichte." Helmut Petzold, BR Diwan, 05.08.18
"Wer Christians neues Buch liest, wird nicht zuletzt seine metaphorische Sprache bestaunen, die bewusst oder unwillkürlich an klassische Weltentstehungspoesie anknüpft." Gustav Seibt, Süddeutsche Zeitung, 01.09.18
"Auf schmissig geschriebenen 380 Seiten führt der Historiker in die Entstehung des Universums ein, deckt die Bedingungen des Lebens auf und zeichnet den zusehends von 'destruktiver Veränderlichkeit' begleiteten Werdegang unserer Spezies bis in die Jetztzeit nach." Claudia Mäder, Neue Zürcher Zeitung, 22.08.18
"Es ist wirklich eine Global-, eine Universal-, eine Weltgeschichte ... Das ist eine große prächtige Erzählung." Arno Widmann, Frankfurter Rundschau, 04.08.18
"David Christian bettet die Geschichte der Menschheit ein in die Geschichte des Universums und des Lebens allgemein; er erzählt sie als gewaltige, komplexe, schöne und beflügelnde Geschichte, und ja, auch als Erfolgsgeschichte." Helmut Petzold, BR Diwan, 05.08.18