Digitale Monopole bringen immer größere Teile unserer Lebenswelt unter ihre Kontrolle. Die Plattformen dominieren zunehmend die politische Meinungsbildung und schaffen zugleich unsere freie Marktwirtschaft ab. Man fragt sich: Ist das überhaupt noch legal? Warum sollten wir uns das noch länger gefallen lassen? Der Medienwissenschaftler Martin Andree zeigt messerscharf, wie weit die feindliche Übernahme unserer Geselsschaft durch die Tech-Giganten schon fortgeschritten ist - und wie wir uns das Internet zurückerobern können.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 13.08.2023Holt Euch das Netz zurück!
Der Medienwissenschaftler Martin Andree zeigt in seinem neuen Buch, woher die Macht der Tech-Riesen kommt. Und regt an, wie man sie brechen könnte.
Von Harald Staun
Wie geht es eigentlich den großen Plattformen? Seit die ganze Welt über KI redet, kommen einem die klassischen Tech-Riesen fast schon wie die Dinosaurier von morgen vor. Aber keine Sorge: Noch ist die Dominanz der GAFAM, wie man die Big Five Google, Amazon, Facebook, Apple und Microsoft auch nennt, ungebrochen (wobei man nach der Umbenennung von Google in Alphabet und Facebook in Meta vielleicht allmählich von MAMAA sprechen sollte). Sie wird allenfalls von der asiatischen Konkurrenz bedroht, die auch schon ein eigenes Akronym hat: Baidu, Alibaba, Tencent und Xiaomi (BATX) holen auf dem globalen Markt auf, da wird Bytedance, die Firma hinter Tiktok, noch gar nicht mit aufgeführt.
Trotz allem aber sind die amerikanischen Weltkonzerne nicht kleinzukriegen, zumindest nicht, solange kein selbstherrlicher Milliardär sie mit aller Kraft von innen zerstört. Alphabet hat im jüngsten Quartalsbericht einen Nettogewinn von 18,37 Milliarden US-Dollar verkündet und damit gegenüber dem Vorjahr um 14,8 Prozent zugelegt, Meta seinen um 12 Prozent auf 9,39 Milliarden Dollar gesteigert. Sogar die Nutzerzahlen von Oldie-Netzwerk Facebook steigen noch immer, und zwar im letzten Quartal auf 3,03 Milliarden aktive Nutzer monatlich.
Wie massiv die Dominanz der großen Fünf ist, hat auch der Kölner Medienwissenschaftler Martin Andree vor drei Jahren in seinem "Atlas der digitalen Welt" gezeigt: Sie ist noch viel schlimmer, als man vermutet hätte. Das jedenfalls war die Diagnose, die sich aus seiner Statistik ergab, eine der wenigen, die sich auf eine tatsächliche Messung des Medienkonsums stützte statt auf tendenziell unzuverlässige Befragungen. Und die als Maßstab für die Relevanz der digitalen Angebote (sowohl Websites als auch Apps) nicht auf Klicks oder Reichweite schaute, sondern auf die Nutzungsdauer. So blieb selbst von der leichten Hoffnung, dass auch traditionelle Medien in Zukunft relevant bleiben könnten, nicht viel übrig. Der reichweitenstarke "Spiegel" schaffte es immerhin auf Platz 49 der Top 100. 18 Minuten verbringen die Leser dort laut der Studie. Im Monat. Bei Spitzenreiter Youtube sind es 21 Minuten am Tag. Die Hälfte ihrer Zeit aber widmen die Medienkonsumenten dabei den Inhalten von zehn Unternehmen. Die ersten acht sind amerikanische Plattformen, auf Platz neun kommt "Web.de" als bestes deutsches Unternehmen. Noch heftiger kann man die Konzentration nur an den Werbeeinnahmen ablesen: 80 bis 90 Prozent gehen an Alphabet, Meta und Amazon.
Nun hat Andree, gelegentlicher Gastautor dieser Zeitung, ein neues Buch veröffentlicht. "Big Tech muss weg!" heißt es, und so wenig subtil wie der Titel ist es, einerseits, auch gemeint. Es ist eine energische Kampfschrift gegen die Macht der Tech-Riesen und deren Missbrauch, die im Zweifelsfall lieber zur drastischen Formulierung greift. Die Digitalkonzerne, schreibt Andree, hätten das Internet "gestohlen", könnten "schalten und walten, wie sie wollen", erzeugten eine "digitale Kernschmelze" und hätten überhaupt nur ein Ziel: "die maximale Akkumulation von Macht, Geld und Herrschaft". Andree ist sich sicher, dass die Tech-Riesen sämtliche Nutzer für "Dumb Fucks" halten, wie Mark Zuckerberg seine Kommilitonen einst beschrieb. Wenn er die Verhältnisse an fiktiven Firmen veranschaulichen will, nennt er sie schon mal "DARTH, FAT und EVIL". Und streut, um gar keine Missverständnisse aufkommen zu lassen, auch mal ein paar Scheiße-Emojis ein.
Doch anderseits ist dieser Ton vielleicht genau das, was der end- und folgenlosen Debatte über die Macht der Plattformen fehlt. Seit Jahren werden selbst die krassesten Enthüllungen von Nutzern schulterzuckend hingenommen. Die Wettbewerber haben ohnehin schon kapituliert und kämpfen nur noch um den besten Platz am Fließband der Content-Fabriken. Und selbst wenn sie bestraft werden, zahlen die Big Five sogar Milliardenstrafen aus der Kriegskasse und überlegen sich dabei schon die nächste Technik zur Manipulation. "Flywheel der kollektiven Verarschung" nennt Andree diese Taktik, den Zyklus von widerrechtlicher Übernahme, gesellschaftlicher Gewöhnung und ideologischer Verarbeitung, aus "absichtlichen und wiederholten Gesetzesübertretungen", begleitet von "Lügen und Leugnungen", die zum Teil sogar parallel laufen. Während noch "aktiv vertuscht und gelogen" wird, erfolgen "zur gleichen Zeit Entschuldigungen". Seit 2018 versprach Mark Zuckerberg fast jedes Jahr vor dem US-Kongress Besserung, bettelte sogar darum, reguliert zu werden. Und tatsächlich fragte man sich immer wieder, ob er nun vielleicht doch endlich begriffen habe, dass man als Chef einer monströsen Meinungsfabrik auch ein bisschen Verantwortung trägt. In Andrees Rückblick kann man diese Beteuerungen nur als reinen Zynismus deuten, weil klar wird, wie systematisch Facebook Gesetze und demokratische Werte missachtet.
Zudem ist Andrees Empörung selbst auch ein Zeichen dafür, wie viel ernster man das Problem nehmen müsste. Denn im Prinzip wird seine Sorge längst allgemein geteilt, leiden Menschen über sämtliche ideologischen und gesellschaftlichen Grenzen hinweg unter den Quasimonopolen, Linke oder Konservative, Blogger oder Zeitungsverlage. Der Kölner Professor ist sicher kein Marxist, bis vor fünf Jahren war er Marketingmanager bei Henkel, in seinem eigenen Start-up setzt er KI ein, um Werbeslogans zu optimieren. Zwar greift er in einem Kapitel trotzdem auf Marx und Engels zurück, um den Freiheitsmythos des Silicon Valley als Ideologie zu entlarven. Ein "untrügliches Zeichen" für deren Funktionieren sei, dass die Unterdrückten selbst die Argumente der Unterdrücker übernehmen - in diesem Fall die Warnung, jede Art von Regulierung gefährde die "freie Meinungsäußerung". Aber Andree will keine Planwirtschaft einführen. Im Gegenteil: Es geht ihm um eine funktionierende Marktwirtschaft. Die aber setzt einen funktionierenden Wettbewerb voraus, eine Vielfalt der Angebote, vor allem der medialen.
Dass eine Hand voll amerikanischer Tech-Konzerne weltweit das Ökosystem der Medien beherrscht, ist eigentlich auch weder im deutschen Recht noch in der amerikanischen Unternehmenskultur vorgesehen. Wie es die Konzerne geschafft haben, ihre Monopolstellung auszubauen, und warum sie dabei noch immer auf so wenig Widerstand treffen, bringt Andree auf rund 280 Seiten auf den Punkt. Er schildert anschaulich, mit welchen manipulativen Tricks sie das offene World Wide Web von Tim Berners-Lee in einen Haufen geschlossener Silos verwandelt haben und sich dabei nicht nur auf emanzipatorischen Rhetorik verlassen, sondern auch auf knallharten Lobbyismus setzen - und auf schiere Macht.
Sicher, viele von Andrees Kritikpunkten sind längst bekannt. Nur leider trifft das eben ganz offensichtlich weder beim breiten Publikum zu noch bei den Leuten, auf die es ankäme. Die meisten Nutzer haben ihre Zweifel, wenn sie welche haben, notgedrungen längst einem Pragmatismus geopfert. Ohnehin wäre ein Boykott keine strukturelle Lösung. Den verantwortlichen Politikern, schreibt Andree, fehle die Zeit, sich mit den komplexen Details herumzuschlagen. Und den Kartellbehörden der Blick fürs große Ganze. In ihrer "regulatorischen Bubble" zeigen sie sich zwar alarmiert, wenn zum Beispiel die "Ostthüringische Zeitung" mit der "Thüringischen Landeszeitung" unter dem Dach eines Verlages zusammengelegt werden soll (nein, das ist keines von Andrees fiktiven Beispielen), halten sich aber aus "technokratischer Mutlosigkeit" nicht für zuständig, wenn es etwa um die unfassbare Dominanz von Google im Onlinewerbemarkt geht. Und Medienwächter, wie die für den privaten Rundfunk zuständige Kommission zur Ermittlung der Konzentration im Medienbereich (KEK) vor Kurzem selbst zugestand, haben gar nicht die "Regulationswerkzeuge", um auch in der Plattformökonomie Wettbewerb zu garantieren. So bleibt nur das "Phantasma der Vielfalt", das Andree mit den Inszenierungen autoritärer Regime vergleicht - nur mit dem Unterschied, dass wir das Theater dort in der Regel durchschauen.
Auch den Kern der Problematik trifft Andree, wenn er auf das Gesetz hinweist, das eigentlich längst jeder kennen sollte, der sich für einen mündigen Internetnutzer hält: den berüchtigten Paragrafen 230 des amerikanischen Communications Decency Act, der die Konzerne aus der Verantwortung für ihre Inhalte entlässt, das sogenannte Haftungsprivileg.
Dank dieses Sonderrechts gelten die Plattformen nicht als redaktionelle Medien, sondern "nur" als "Intermediäre". Darauf beruht ein Großteil ihrer Macht. Würde man sie in Haftung nehmen, würden sie mit einem Schlag ihren Wettbewerbsvorteil verlieren. Dabei, das macht Andree deutlich, müsste man, wenn man die Vermittler schon von den Urhebern von Inhalten unterscheiden will, eigentlich den umgekehrten Schluss ziehen: Als Anbieter einer für die Allgemeinheit so relevanten Infrastruktur sind sie eben nicht unbedeutender als Medien, sondern gewissermaßen systemrelevant. Statt ihnen Regulierung zu ersparen, müssten sie zu besonderen Auflagen verpflichtet werden. In Europa braucht zwar jedes Plüschtier ein Zertifikat, aber digitale Manipulationsmaschinen darf man bedenkenlos online stellen. Spannend wird es allerdings, ob sich die Plattformen auch noch aus der Verantwortung stehlen können, wenn sie in Zukunft das Netz mit KI-Inhalten fluten.
Es ist beinahe ein Wunder, dass Andree nicht kapituliert. Sein Buch endet so kämpferisch, wie es beginnt, mit einer neuen Version von John Perry Barlows berühmter "Unabhängigkeitserklärung des Internets" von 1996 (die sich heute erstaunlich gut gegen die Erben der Cyberhippies wenden lässt). Und mit einer Liste von Maßnahmen, wie man das Netz von den Tech-Riesen befreien kann, "in 15 einfachen Schritten". Die dürften in der Praxis zwar nicht so "einfach" durchzusetzen sein; aber bei all dem Fatalismus der Debatte kann es nicht schaden, wenn jemand wenigstens den Weg aus der Plattformökonomie weist.
Martin Andree: "Big Tech muss weg!" Campus Verlag, 288 Seiten, 25 Euro. Zusätzliches Material auf der Website zum Buch: bigtechmussweg.de.
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Der Medienwissenschaftler Martin Andree zeigt in seinem neuen Buch, woher die Macht der Tech-Riesen kommt. Und regt an, wie man sie brechen könnte.
Von Harald Staun
Wie geht es eigentlich den großen Plattformen? Seit die ganze Welt über KI redet, kommen einem die klassischen Tech-Riesen fast schon wie die Dinosaurier von morgen vor. Aber keine Sorge: Noch ist die Dominanz der GAFAM, wie man die Big Five Google, Amazon, Facebook, Apple und Microsoft auch nennt, ungebrochen (wobei man nach der Umbenennung von Google in Alphabet und Facebook in Meta vielleicht allmählich von MAMAA sprechen sollte). Sie wird allenfalls von der asiatischen Konkurrenz bedroht, die auch schon ein eigenes Akronym hat: Baidu, Alibaba, Tencent und Xiaomi (BATX) holen auf dem globalen Markt auf, da wird Bytedance, die Firma hinter Tiktok, noch gar nicht mit aufgeführt.
Trotz allem aber sind die amerikanischen Weltkonzerne nicht kleinzukriegen, zumindest nicht, solange kein selbstherrlicher Milliardär sie mit aller Kraft von innen zerstört. Alphabet hat im jüngsten Quartalsbericht einen Nettogewinn von 18,37 Milliarden US-Dollar verkündet und damit gegenüber dem Vorjahr um 14,8 Prozent zugelegt, Meta seinen um 12 Prozent auf 9,39 Milliarden Dollar gesteigert. Sogar die Nutzerzahlen von Oldie-Netzwerk Facebook steigen noch immer, und zwar im letzten Quartal auf 3,03 Milliarden aktive Nutzer monatlich.
Wie massiv die Dominanz der großen Fünf ist, hat auch der Kölner Medienwissenschaftler Martin Andree vor drei Jahren in seinem "Atlas der digitalen Welt" gezeigt: Sie ist noch viel schlimmer, als man vermutet hätte. Das jedenfalls war die Diagnose, die sich aus seiner Statistik ergab, eine der wenigen, die sich auf eine tatsächliche Messung des Medienkonsums stützte statt auf tendenziell unzuverlässige Befragungen. Und die als Maßstab für die Relevanz der digitalen Angebote (sowohl Websites als auch Apps) nicht auf Klicks oder Reichweite schaute, sondern auf die Nutzungsdauer. So blieb selbst von der leichten Hoffnung, dass auch traditionelle Medien in Zukunft relevant bleiben könnten, nicht viel übrig. Der reichweitenstarke "Spiegel" schaffte es immerhin auf Platz 49 der Top 100. 18 Minuten verbringen die Leser dort laut der Studie. Im Monat. Bei Spitzenreiter Youtube sind es 21 Minuten am Tag. Die Hälfte ihrer Zeit aber widmen die Medienkonsumenten dabei den Inhalten von zehn Unternehmen. Die ersten acht sind amerikanische Plattformen, auf Platz neun kommt "Web.de" als bestes deutsches Unternehmen. Noch heftiger kann man die Konzentration nur an den Werbeeinnahmen ablesen: 80 bis 90 Prozent gehen an Alphabet, Meta und Amazon.
Nun hat Andree, gelegentlicher Gastautor dieser Zeitung, ein neues Buch veröffentlicht. "Big Tech muss weg!" heißt es, und so wenig subtil wie der Titel ist es, einerseits, auch gemeint. Es ist eine energische Kampfschrift gegen die Macht der Tech-Riesen und deren Missbrauch, die im Zweifelsfall lieber zur drastischen Formulierung greift. Die Digitalkonzerne, schreibt Andree, hätten das Internet "gestohlen", könnten "schalten und walten, wie sie wollen", erzeugten eine "digitale Kernschmelze" und hätten überhaupt nur ein Ziel: "die maximale Akkumulation von Macht, Geld und Herrschaft". Andree ist sich sicher, dass die Tech-Riesen sämtliche Nutzer für "Dumb Fucks" halten, wie Mark Zuckerberg seine Kommilitonen einst beschrieb. Wenn er die Verhältnisse an fiktiven Firmen veranschaulichen will, nennt er sie schon mal "DARTH, FAT und EVIL". Und streut, um gar keine Missverständnisse aufkommen zu lassen, auch mal ein paar Scheiße-Emojis ein.
Doch anderseits ist dieser Ton vielleicht genau das, was der end- und folgenlosen Debatte über die Macht der Plattformen fehlt. Seit Jahren werden selbst die krassesten Enthüllungen von Nutzern schulterzuckend hingenommen. Die Wettbewerber haben ohnehin schon kapituliert und kämpfen nur noch um den besten Platz am Fließband der Content-Fabriken. Und selbst wenn sie bestraft werden, zahlen die Big Five sogar Milliardenstrafen aus der Kriegskasse und überlegen sich dabei schon die nächste Technik zur Manipulation. "Flywheel der kollektiven Verarschung" nennt Andree diese Taktik, den Zyklus von widerrechtlicher Übernahme, gesellschaftlicher Gewöhnung und ideologischer Verarbeitung, aus "absichtlichen und wiederholten Gesetzesübertretungen", begleitet von "Lügen und Leugnungen", die zum Teil sogar parallel laufen. Während noch "aktiv vertuscht und gelogen" wird, erfolgen "zur gleichen Zeit Entschuldigungen". Seit 2018 versprach Mark Zuckerberg fast jedes Jahr vor dem US-Kongress Besserung, bettelte sogar darum, reguliert zu werden. Und tatsächlich fragte man sich immer wieder, ob er nun vielleicht doch endlich begriffen habe, dass man als Chef einer monströsen Meinungsfabrik auch ein bisschen Verantwortung trägt. In Andrees Rückblick kann man diese Beteuerungen nur als reinen Zynismus deuten, weil klar wird, wie systematisch Facebook Gesetze und demokratische Werte missachtet.
Zudem ist Andrees Empörung selbst auch ein Zeichen dafür, wie viel ernster man das Problem nehmen müsste. Denn im Prinzip wird seine Sorge längst allgemein geteilt, leiden Menschen über sämtliche ideologischen und gesellschaftlichen Grenzen hinweg unter den Quasimonopolen, Linke oder Konservative, Blogger oder Zeitungsverlage. Der Kölner Professor ist sicher kein Marxist, bis vor fünf Jahren war er Marketingmanager bei Henkel, in seinem eigenen Start-up setzt er KI ein, um Werbeslogans zu optimieren. Zwar greift er in einem Kapitel trotzdem auf Marx und Engels zurück, um den Freiheitsmythos des Silicon Valley als Ideologie zu entlarven. Ein "untrügliches Zeichen" für deren Funktionieren sei, dass die Unterdrückten selbst die Argumente der Unterdrücker übernehmen - in diesem Fall die Warnung, jede Art von Regulierung gefährde die "freie Meinungsäußerung". Aber Andree will keine Planwirtschaft einführen. Im Gegenteil: Es geht ihm um eine funktionierende Marktwirtschaft. Die aber setzt einen funktionierenden Wettbewerb voraus, eine Vielfalt der Angebote, vor allem der medialen.
Dass eine Hand voll amerikanischer Tech-Konzerne weltweit das Ökosystem der Medien beherrscht, ist eigentlich auch weder im deutschen Recht noch in der amerikanischen Unternehmenskultur vorgesehen. Wie es die Konzerne geschafft haben, ihre Monopolstellung auszubauen, und warum sie dabei noch immer auf so wenig Widerstand treffen, bringt Andree auf rund 280 Seiten auf den Punkt. Er schildert anschaulich, mit welchen manipulativen Tricks sie das offene World Wide Web von Tim Berners-Lee in einen Haufen geschlossener Silos verwandelt haben und sich dabei nicht nur auf emanzipatorischen Rhetorik verlassen, sondern auch auf knallharten Lobbyismus setzen - und auf schiere Macht.
Sicher, viele von Andrees Kritikpunkten sind längst bekannt. Nur leider trifft das eben ganz offensichtlich weder beim breiten Publikum zu noch bei den Leuten, auf die es ankäme. Die meisten Nutzer haben ihre Zweifel, wenn sie welche haben, notgedrungen längst einem Pragmatismus geopfert. Ohnehin wäre ein Boykott keine strukturelle Lösung. Den verantwortlichen Politikern, schreibt Andree, fehle die Zeit, sich mit den komplexen Details herumzuschlagen. Und den Kartellbehörden der Blick fürs große Ganze. In ihrer "regulatorischen Bubble" zeigen sie sich zwar alarmiert, wenn zum Beispiel die "Ostthüringische Zeitung" mit der "Thüringischen Landeszeitung" unter dem Dach eines Verlages zusammengelegt werden soll (nein, das ist keines von Andrees fiktiven Beispielen), halten sich aber aus "technokratischer Mutlosigkeit" nicht für zuständig, wenn es etwa um die unfassbare Dominanz von Google im Onlinewerbemarkt geht. Und Medienwächter, wie die für den privaten Rundfunk zuständige Kommission zur Ermittlung der Konzentration im Medienbereich (KEK) vor Kurzem selbst zugestand, haben gar nicht die "Regulationswerkzeuge", um auch in der Plattformökonomie Wettbewerb zu garantieren. So bleibt nur das "Phantasma der Vielfalt", das Andree mit den Inszenierungen autoritärer Regime vergleicht - nur mit dem Unterschied, dass wir das Theater dort in der Regel durchschauen.
Auch den Kern der Problematik trifft Andree, wenn er auf das Gesetz hinweist, das eigentlich längst jeder kennen sollte, der sich für einen mündigen Internetnutzer hält: den berüchtigten Paragrafen 230 des amerikanischen Communications Decency Act, der die Konzerne aus der Verantwortung für ihre Inhalte entlässt, das sogenannte Haftungsprivileg.
Dank dieses Sonderrechts gelten die Plattformen nicht als redaktionelle Medien, sondern "nur" als "Intermediäre". Darauf beruht ein Großteil ihrer Macht. Würde man sie in Haftung nehmen, würden sie mit einem Schlag ihren Wettbewerbsvorteil verlieren. Dabei, das macht Andree deutlich, müsste man, wenn man die Vermittler schon von den Urhebern von Inhalten unterscheiden will, eigentlich den umgekehrten Schluss ziehen: Als Anbieter einer für die Allgemeinheit so relevanten Infrastruktur sind sie eben nicht unbedeutender als Medien, sondern gewissermaßen systemrelevant. Statt ihnen Regulierung zu ersparen, müssten sie zu besonderen Auflagen verpflichtet werden. In Europa braucht zwar jedes Plüschtier ein Zertifikat, aber digitale Manipulationsmaschinen darf man bedenkenlos online stellen. Spannend wird es allerdings, ob sich die Plattformen auch noch aus der Verantwortung stehlen können, wenn sie in Zukunft das Netz mit KI-Inhalten fluten.
Es ist beinahe ein Wunder, dass Andree nicht kapituliert. Sein Buch endet so kämpferisch, wie es beginnt, mit einer neuen Version von John Perry Barlows berühmter "Unabhängigkeitserklärung des Internets" von 1996 (die sich heute erstaunlich gut gegen die Erben der Cyberhippies wenden lässt). Und mit einer Liste von Maßnahmen, wie man das Netz von den Tech-Riesen befreien kann, "in 15 einfachen Schritten". Die dürften in der Praxis zwar nicht so "einfach" durchzusetzen sein; aber bei all dem Fatalismus der Debatte kann es nicht schaden, wenn jemand wenigstens den Weg aus der Plattformökonomie weist.
Martin Andree: "Big Tech muss weg!" Campus Verlag, 288 Seiten, 25 Euro. Zusätzliches Material auf der Website zum Buch: bigtechmussweg.de.
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»Eine energische Kampfschrift gegen die Macht der Tech-Riesen und dren Missbrauch.« Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung »Schluss mit Big Tech - ein schöner, demokratischer Gedanke.« ttt (ARD) »Selten hat einer wie Andree die schöne neue Internetwelt so nachvollziehbar erklärt, hat Gewinner und Verlierer so klar benannt und die unabweisbaren Gefahren für Demokratie und Wirtschaft aufgezeigt.« Deutsche Welle »Martin Andree zeigt sehr eindringlich, wie wenig Unternehmen das Internet gekapert haben - und was zu tun ist, um die Demokratie zu retten.« Welt am Sonntag »Warnungen vor der Macht der großen Tech-Konzerne gibt es viele - doch wenige deutsche Experten formulieren ihre Thesen so vehement wie Martin Andree.« Die Welt »Martin Andree sieht die großen Tech-Unternehmen und ihre Betriebsgeheimnisse als gefahr für Demokratie und Wirtschaft. Er plädiert dafür, das Netz zu liberalisieren.« Kulturjournal (NDR) »Das Buch ist faszinierend und schön zu lesen.« Correctiv »Martin Andree beschreibt, welche Folgen die Machtkonzentration von Big Tech für unsere demokratischen Grundstrukturen und die Wirtschaft hat. Und er zeigt auf, wie es gelingen kann, das Netz zu befreien.« Computerwoche