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Einhundertsiebenundzwanzig Kilogramm Selbstverachtung stehen zwischen Marianne und ihrer Sehnsucht nach Anerkennung und Liebe. Auf einem ihrer nächtlichen Spaziergänge trifft sie eine verwandte Außenseiterexistenz: Georges-der-Typ, einst Versicherungsangestellter, lebt zwischen Pappkartons auf der Straße. Aus den beiden wird ein ungewöhnliches Paar.

Produktbeschreibung
Einhundertsiebenundzwanzig Kilogramm Selbstverachtung stehen zwischen Marianne und ihrer Sehnsucht nach Anerkennung und Liebe. Auf einem ihrer nächtlichen Spaziergänge trifft sie eine verwandte Außenseiterexistenz: Georges-der-Typ, einst Versicherungsangestellter, lebt zwischen Pappkartons auf der Straße. Aus den beiden wird ein ungewöhnliches Paar.
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 27.09.1999

Fleischkloß in Aktenkonfetti
Dicksein ist 'ne Quälerei: Valérie Tong Coungs Debütroman "Big"

Valérie Tong Coungs Stoff ist das Stinknormale - das stinknormale Dauerdesaster, das Quote macht bei "Birte", "Bärbel" und "Hans Meiser": Abgedreht, allein erziehend, 127 Kilo fett. Und wie in den täglichen Talkshow-Schlachten wird auch in "Big" keiner verhätschelt. Valérie Tong Coung, die 1994, mit dreißig Jahren, der Welt der Dünnen - der Werbebranche - Lebewohl gesagt hat, ist nicht nett. Nicht zu den Schlanken, die immer blöd schauen, wenn ihre Heldin Marianne vorbeitrampelt, noch zu ihrer Dicken, die nicht bloß blöd schaut, sondern auch blöd tut.

Marianne hasst ihren Schreihals, wenn er schreit, und sie hasst ihre Nachbarin Michelle, wenn die den Kleinen erfolgreich zur Ruhe summt. Nachts haut sie ab und stapft selbstvergessen durch die Straßen: endlich keiner da, der sie anstarrt. Tagsüber tütet sie Briefe ein, über hundert Stück pro Stunde, und wartet auf die Nacht. Ihren Eltern war sie peinlich, Freunde hat sie nie gehabt, und die hilfsbereite Michelle berauscht sich an ihrem Mitleid, ihrer Besserwisserei und ihrer besseren Figur. Marianne bleiben nur die Knuddelaugenblicke mit ihrem Baby, die kräftigen Muskeln unter ihrem üppigen Fleisch und Wut genug, sie anzuspannen: loszutreten, loszuschlagen, wenn einer ihr dumm kommt. Und einer wie ihr kommen viele dumm.

Jeder Gang in die Öffentlichkeit ist ein Spießrutenlaufen, jeder Kleiderkauf eine Einkehr in der Hölle. Bis sie Georges-den-Typ trifft. "Ich hab mir alles gründlich angesehen, meine Zehen, krumm und so breit wie Palmwedel, meine massigen Knöchel, meine Knie, die verunstaltet waren, weil sie die unmenschlichen Schenkel so lange schon tragen mussten, und die Höcker wie ein Waldlaufgelände hatten, meine herabhängenden, grauen Fleischwülste, meinen hervorstehenden Nabel, meinen verwahrlosten Bauch und meine schweren, dicken, mit Striemen tätowierten Brüste, meine Arme mit der schuppigen Haut, die von Hunderten kleiner, blutroter Pickel überzogen waren . . . Wer hätte das ausgehalten?" Sie nicht. Aber Georges, Georges-der-Typ, der in Kartons haust, Plakate klebt und den Passanten die Schuhe putzt, scheint es nicht nur auszuhalten, sondern zu mögen.

Valérie Tong Coung - in der Pariser Vorstadt aufgewachsen und mit einem Mann vietnamesischer Herkunft verheiratet - kennt wohl die scheelen Blicke, und sie hat ihrem Pechvogel einen Unglücksraben beigesellt. Als die beiden das erste Mal aufeinander treffen, gibt Marianne gerade wieder einmal den gestrandeten Wal. Ihre Beine hatten sich verheddert, sie ist gestürzt und liegt nun mit aufgeschlagenem Knie - blutig gemustert wie das "Delta des Orinoko" - im Dreck. Ihre Papiere, wild verstreut, zerknittert, schmutzig, sehen aus wie nach einer Hausdurchsuchung. Alles grinst, während sich der Fleischkloß im Aktenkonfetti wälzt, und einer aus dem Publikum setzt sich als barmherziger Samariter in Szene: Georges.

"Die Chance, dass der Typ sich ganz natürlich für mich interessierte, war gleich null." Marianne fühlt sich "wie eine Leiche im Kreis von Passanten", träumt von einer Bombe in ihrem Bauch und lässt sich in Gedanken platzen, um zu sehen, "wie sie an den Fetzen meines Fleisches ersticken". So wie sie jeden Tag, jede Stunde an ihrem Fleisch erstickt - und dafür dankenswerterweise eine oft kraftvolle, oft schnoddrig-anspielungsreiche Sprache und bisweilen ein Reflexionsniveau findet, das die Mariannes in den Talkshows nie erreichen. "Regarde tes fesses, on ne dirait pas des fesses, mais des rochers counverts d' un vieux lichen . . ." Schade, dass der Rhythmus selbst in der flüssigen Übersetzung Ulrich Kunzmanns verloren gehen muss: "Sieh deine Hinterbacken an, man würde sie gar nicht Hinterbacken nennen, sondern mit alten Flechten bedeckte Felsblöcke . . ."

Aber selbst diese Felsblöcke scheinen Georges nicht zu schrecken. Georges ist anders. Ist er wirklich anders? Valérie Tong Coung lässt ihre Heldin zappeln und zagen. Sie verabreden sich, lieben sich zwischen Kartonschachteln, und sie nimmt ihn mit nach Hause. Doch der Ritter der Gosse entpuppt sich nicht als Drachentöter, sondern als ein gefeuerter Versicherungsfritze, der nichts anderes will als eine Wohnung, eine Arbeit, ein geordnetes Familienleben. Das muss schief gehen, und es geht schief: Am Schluss ist es Marianne, die ohne Arbeit, ohne Kind durch die Straßen stromert.

Richtig frei ist in "Big" niemand, weder die Dünnen wie Georges noch die Dicken wie Marianne, weder die Chefs noch die Huren. Das Debüt von 1997 tastet nach dem Sound flockiger Gesellschaftskritik, wie man ihn aus Marie Darrieussecqs "Schweinerei" kennt. Dass die Rocksängerin und Drehbuchautorin ihrer Marianne - hat sie da der französischen Nationalallegorie einen Nasenstüber verpasst? - dabei auch so manches Klischee ins ungewaschene Maul legt, ist zwar nicht unbedingt ein perspektivischer Kunst-, sondern mitunter einfach nur ein literarischer Missgriff. Schwergewichtig ist dieses Debüt "Big" nicht, aber auch nicht schwerfällig.

ALEXANDRA M. KEDVES

Valérie Tong Cuong: "Big". Roman. DuMont Buchverlag, Köln 1999. 310 S., geb., 44,- DM.

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