Bilal ist ein Illegaler, unterwegs auf einer der berüchtigtsten Transitrouten von Afrika nach Europa.Bilal ist Fabrizio Gatti, der renommierte italienische Journalist, der sich unter diesem Namen als Migrant unter die anderen gemischt hat, um zu erleben, was sie erleben, und davon zu erzählen. Von Dakar zieht er mit dem Flüchtlingsstrom bis in die Sahara; auf klapprigen Lastwagen durchqueren sie unter unvorstellbaren Entbehrungen die Wüste. Immer wieder werden sie überfallen. Schlepper und korrupte Polizisten wechseln sich darin ab, den Flüchtlingen ihre letzte Habe zu nehmen: Der moderne Menschenhandel entlang der neuen großen Trecks ist auch ein brutales, hochprofitables Geschäft. Viele stranden, manche Spur verliert sich für immer. Die es schaffen, die mit letzten Mitteln die Grenzen passieren, die gefährliche Überfahrt in viel zu vollen Booten übers Meer überleben, erwarten Auffanglager und brutale Abschiebung. Doch sie werden wiederkommen, solange sich das Elend in ihren Heimatländern nicht ändert.Die moderne Odyssee der neuen Arbeitssklaven hat gerade erst begonnen. Fabrizio Gatti ist, als Augenzeuge und Schriftsteller, ihr Chronist geworden.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 29.12.2010Auf der Sklavenroute durch die Wüste
Europa heißt ihr Ziel, doch wenn sie es überhaupt erreichen, warten dort neue Demütigungen auf sie: Fabrizio Gattis aufrüttelnder Bericht über seine Reise mit afrikanischen Migranten.
Die Reise, die der italienische Journalist Fabrizio Gatti für sein Buch "Bilal" unternommen hat, war alles andere als ungefährlich: Er folgte Migranten, die auf der Suche nach einer besseren Zukunft aus Westafrika durch die Sahara in Richtung Europa ziehen. Monatlich fünfzehntausend Menschen, darunter Frauen, Kinder und Alte, machen sich von der Tuareg-Stadt Agadez aus auf den Weg durch die Wüste. Was der Chefreporter des Nachrichtenmagazins "Espresso" mit ihnen erlebt, ist so schockierend, dass man seine Schilderungen gerne für Fiktion halten würde.
Gatti zwängt sich mit den Glückssuchern auf Jeeps und Lastwagen. Fast hundertdreißig Personen zählt er einmal auf der Ladefläche eines Kleintransporters. Eine Reifenpanne in der Wüste kann den Tod aller bedeuten. Wer einschläft und herunterfällt oder erkrankt, wird zurückgelassen. Nicht selten setzen die Schlepper ihre Ware einfach aus, um schneller an neuen Kunden verdienen zu können.
Denn verdienen wollen alle an der Völkerwanderung: Soldaten, Polizisten, Schlepper, Stadtverwalter, Militärbefehlshaber, Banditen. An offiziellen wie inoffiziellen Kontrollstationen, in den Oasen und Siedlungen pflegt man den Reisenden alle Habseligkeiten abzunehmen. Wer nichts hat oder nichts geben möchte, wird misshandelt. Das Geschäft lohnt sich. An einem einsamen Militärposten kommen mit Gatti allein an einem einzigen Tag über 800 Personen an. Während der Journalist durch seinen italienischen Pass geschützt ist, sind seine Mitreisenden der Willkür machtlos ausgeliefert.
Um alle Ersparnisse gebracht, bleibt die Mehrheit der Migranten auf dem Weg stecken. Die "stranded people" verdingen sich als Hausdiener oder Prostituierte, um wenigstens das Geld für die Rückreise aufbringen zu können. Moderne Sklavenrouten nennt Gatti darum die Pisten durch die Sahara ans Mittelmeer.
Gatti beschränkt sich nicht auf die Rolle des passiven Beobachters. Er gewinnt das Vertrauen vieler Mitreisender, schließt Freundschaften und teilt, was er besitzt. Per E-Mail hält er den Kontakt und hilft später von Italien aus finanziell und organisatorisch. Daher weiß er auch, dass keiner seiner neuen Freunde tatsächlich in Europa angekommen ist.
Am Mittelmeer endet Gattis Reise. Er entscheidet sich im letzten Moment dagegen, auf eines der überladenen Boote zu steigen. Als er kein libysches Visum erhält, kehrt Gatti über Tunesien mit dem Flugzeug in seine Heimat zurück. Was Illegale in Libyen erwartet - Verfolgung, Abschiebehaft, Folter -, erfährt der Leser aus E-Mails ehemaliger Reisegefährten.
Diese nüchterne Wiedergabe des Schriftverkehrs ist eines der erschütterndsten Kapitel des Buchs: Die Immigranten sehen sich mit einem Mob konfrontiert, der, aufgehetzt durch die Reden al-Gaddafis, mit Hämmern und Steinen Jagd auf Schwarzafrikaner macht. Einwanderer, die teilweise seit vielen Jahren in Tripolis leben und arbeiten, werden in die Wüste gejagt oder in Lager gesteckt, in denen vergewaltigt und misshandelt wird.
Der Hintergrund ist ein bilaterales Abkommen mit Italien, in dem sich Libyen zur Flüchtlingskontrolle verpflichtet. Dafür erhielt es 4,3 Milliarden Euro. Gleichzeitig verdient das Land weiter am lukrativen Schlepper-Geschäft. Italien hat seinerseits den einstigen Schurkenstaat zum sicheren Dritt- und Freundesstaat erklärt, um der illegalen Zuwandererströme Herr zu werden. Dass die Rechte der Illegalen in Libyen mit Füßen getreten werden, wird dabei in Kauf genommen. Zwei der neuen Freunde Gattis, Akademikern aus Ghana, wird trotz gültiger Pässe und Flugtickets, Visen für Europa und der Einladung einer europäischen Universität die Ausreise aus Libyen verweigert. Sie haben, so Gatti, "einen dramatischen Fehler gemacht: Sie haben auf das Gesetz vertraut". James und George werden grundlos inhaftiert und beinahe zu Tode gefoltert. Als Gatti das erfährt, macht er sich auf den Weg, um den Sohn al-Gaddafis zu treffen, der sich in Italien zu einem Fußballspiel aufhält.
Gatti ist nun endgültig kein Unbeteiligter mehr. Als er sich nun noch einmal in umgekehrter Richtung auf den Weg durch die Wüste macht, ist es nicht mehr die journalistische Recherche, sondern die Sorge um die Freunde, die ihn antreibt. Er reiht sich ein in den Zug, der Libyen nach Süden zu verlässt, und wird Zeuge einer Tragödie. Er erlebt, wie Tausende von Menschen in der Sahara ausgesetzt werden, um die Lastkraftwagen für die nachkommenden Flüchtlingsmassen freizumachen. Apokalyptische Szenen spielen sich hier ab. Als er selbst in der Wüste strandet, kommt auch er in Lebensgefahr.
Der für Italien unbequemste Teil des Buches sind aber wohl Gattis verdeckte Recherchen auf italienischem Boden. Vor der Küste Lampedusas springt er ins eiskalte Meer, lässt sich aufgreifen und als irakischer Kurde Bilal in das Flüchtlingslager stecken. Nun bekommt er zu spüren, wie Europa Migranten ohne Papiere empfängt. Er watet durch knöchelhohen Kot und Urin, schläft auf einem Handtuch, seinem einzigen Besitz. Es gibt keine Türen, keinen Strom, keine Privatsphäre, keine medizinische Versorgung und nur Salzwasser zum Waschen.
Gatti kann verbergen, dass er Italienisch spricht. So erfährt er einiges über die perfiden Verhörmethoden und über die Haltung der Carabinieri, die die Einwanderer verachten. Und auch er wird so Opfer von willkürlicher Gewalt und Demütigung von Seiten seiner Landsleute, bevor er freigelassen wird mit der Auflage, Italien in fünf Tagen zu verlassen. Als sein Buch in Italien erschien, führte es zu einer parlamentarischen Untersuchung der Verhältnisse im Lager von Lampedusa.
An Berichte über Leichen und Gestrandete vor den Kanaren, Griechenland und Lampedusa hat man sich längst gewöhnt. Gattis beeindruckendes Buch hilft, die Menschen hinter diesen Nachrichten zu sehen.
ANNIKA MÜLLER.
Fabrizio Gatti: "Bilal". Als Illegaler auf dem Weg nach Europa.
Aus dem Italienischen von Rita Seuß und Friederike Hausmann. Antje Kunstmann Verlag, München 2010. 457 S., geb., 24,90 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Europa heißt ihr Ziel, doch wenn sie es überhaupt erreichen, warten dort neue Demütigungen auf sie: Fabrizio Gattis aufrüttelnder Bericht über seine Reise mit afrikanischen Migranten.
Die Reise, die der italienische Journalist Fabrizio Gatti für sein Buch "Bilal" unternommen hat, war alles andere als ungefährlich: Er folgte Migranten, die auf der Suche nach einer besseren Zukunft aus Westafrika durch die Sahara in Richtung Europa ziehen. Monatlich fünfzehntausend Menschen, darunter Frauen, Kinder und Alte, machen sich von der Tuareg-Stadt Agadez aus auf den Weg durch die Wüste. Was der Chefreporter des Nachrichtenmagazins "Espresso" mit ihnen erlebt, ist so schockierend, dass man seine Schilderungen gerne für Fiktion halten würde.
Gatti zwängt sich mit den Glückssuchern auf Jeeps und Lastwagen. Fast hundertdreißig Personen zählt er einmal auf der Ladefläche eines Kleintransporters. Eine Reifenpanne in der Wüste kann den Tod aller bedeuten. Wer einschläft und herunterfällt oder erkrankt, wird zurückgelassen. Nicht selten setzen die Schlepper ihre Ware einfach aus, um schneller an neuen Kunden verdienen zu können.
Denn verdienen wollen alle an der Völkerwanderung: Soldaten, Polizisten, Schlepper, Stadtverwalter, Militärbefehlshaber, Banditen. An offiziellen wie inoffiziellen Kontrollstationen, in den Oasen und Siedlungen pflegt man den Reisenden alle Habseligkeiten abzunehmen. Wer nichts hat oder nichts geben möchte, wird misshandelt. Das Geschäft lohnt sich. An einem einsamen Militärposten kommen mit Gatti allein an einem einzigen Tag über 800 Personen an. Während der Journalist durch seinen italienischen Pass geschützt ist, sind seine Mitreisenden der Willkür machtlos ausgeliefert.
Um alle Ersparnisse gebracht, bleibt die Mehrheit der Migranten auf dem Weg stecken. Die "stranded people" verdingen sich als Hausdiener oder Prostituierte, um wenigstens das Geld für die Rückreise aufbringen zu können. Moderne Sklavenrouten nennt Gatti darum die Pisten durch die Sahara ans Mittelmeer.
Gatti beschränkt sich nicht auf die Rolle des passiven Beobachters. Er gewinnt das Vertrauen vieler Mitreisender, schließt Freundschaften und teilt, was er besitzt. Per E-Mail hält er den Kontakt und hilft später von Italien aus finanziell und organisatorisch. Daher weiß er auch, dass keiner seiner neuen Freunde tatsächlich in Europa angekommen ist.
Am Mittelmeer endet Gattis Reise. Er entscheidet sich im letzten Moment dagegen, auf eines der überladenen Boote zu steigen. Als er kein libysches Visum erhält, kehrt Gatti über Tunesien mit dem Flugzeug in seine Heimat zurück. Was Illegale in Libyen erwartet - Verfolgung, Abschiebehaft, Folter -, erfährt der Leser aus E-Mails ehemaliger Reisegefährten.
Diese nüchterne Wiedergabe des Schriftverkehrs ist eines der erschütterndsten Kapitel des Buchs: Die Immigranten sehen sich mit einem Mob konfrontiert, der, aufgehetzt durch die Reden al-Gaddafis, mit Hämmern und Steinen Jagd auf Schwarzafrikaner macht. Einwanderer, die teilweise seit vielen Jahren in Tripolis leben und arbeiten, werden in die Wüste gejagt oder in Lager gesteckt, in denen vergewaltigt und misshandelt wird.
Der Hintergrund ist ein bilaterales Abkommen mit Italien, in dem sich Libyen zur Flüchtlingskontrolle verpflichtet. Dafür erhielt es 4,3 Milliarden Euro. Gleichzeitig verdient das Land weiter am lukrativen Schlepper-Geschäft. Italien hat seinerseits den einstigen Schurkenstaat zum sicheren Dritt- und Freundesstaat erklärt, um der illegalen Zuwandererströme Herr zu werden. Dass die Rechte der Illegalen in Libyen mit Füßen getreten werden, wird dabei in Kauf genommen. Zwei der neuen Freunde Gattis, Akademikern aus Ghana, wird trotz gültiger Pässe und Flugtickets, Visen für Europa und der Einladung einer europäischen Universität die Ausreise aus Libyen verweigert. Sie haben, so Gatti, "einen dramatischen Fehler gemacht: Sie haben auf das Gesetz vertraut". James und George werden grundlos inhaftiert und beinahe zu Tode gefoltert. Als Gatti das erfährt, macht er sich auf den Weg, um den Sohn al-Gaddafis zu treffen, der sich in Italien zu einem Fußballspiel aufhält.
Gatti ist nun endgültig kein Unbeteiligter mehr. Als er sich nun noch einmal in umgekehrter Richtung auf den Weg durch die Wüste macht, ist es nicht mehr die journalistische Recherche, sondern die Sorge um die Freunde, die ihn antreibt. Er reiht sich ein in den Zug, der Libyen nach Süden zu verlässt, und wird Zeuge einer Tragödie. Er erlebt, wie Tausende von Menschen in der Sahara ausgesetzt werden, um die Lastkraftwagen für die nachkommenden Flüchtlingsmassen freizumachen. Apokalyptische Szenen spielen sich hier ab. Als er selbst in der Wüste strandet, kommt auch er in Lebensgefahr.
Der für Italien unbequemste Teil des Buches sind aber wohl Gattis verdeckte Recherchen auf italienischem Boden. Vor der Küste Lampedusas springt er ins eiskalte Meer, lässt sich aufgreifen und als irakischer Kurde Bilal in das Flüchtlingslager stecken. Nun bekommt er zu spüren, wie Europa Migranten ohne Papiere empfängt. Er watet durch knöchelhohen Kot und Urin, schläft auf einem Handtuch, seinem einzigen Besitz. Es gibt keine Türen, keinen Strom, keine Privatsphäre, keine medizinische Versorgung und nur Salzwasser zum Waschen.
Gatti kann verbergen, dass er Italienisch spricht. So erfährt er einiges über die perfiden Verhörmethoden und über die Haltung der Carabinieri, die die Einwanderer verachten. Und auch er wird so Opfer von willkürlicher Gewalt und Demütigung von Seiten seiner Landsleute, bevor er freigelassen wird mit der Auflage, Italien in fünf Tagen zu verlassen. Als sein Buch in Italien erschien, führte es zu einer parlamentarischen Untersuchung der Verhältnisse im Lager von Lampedusa.
An Berichte über Leichen und Gestrandete vor den Kanaren, Griechenland und Lampedusa hat man sich längst gewöhnt. Gattis beeindruckendes Buch hilft, die Menschen hinter diesen Nachrichten zu sehen.
ANNIKA MÜLLER.
Fabrizio Gatti: "Bilal". Als Illegaler auf dem Weg nach Europa.
Aus dem Italienischen von Rita Seuß und Friederike Hausmann. Antje Kunstmann Verlag, München 2010. 457 S., geb., 24,90 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Perlentaucher-Notiz zur NZZ-Rezension
Höchst eindringlich fand Jonathan Fischer diesen 2005 im Original erschienenen Bericht, für den sich der Reporter Fabrizio Gatti als schiffbrüchiger kurdischer Flüchtling aus dem Meer fischen ließ und der in Italien Fischer zufolge so hohe Wellen schlug, dass eine parlamentarische Untersuchung zu den beschriebenen Umständen eingeleitet wurde. Der Bericht erhelle nicht nur, dass es sich beim Menschenhandel um ein hochprofitables Geschäft handele. Er führe dem Leser auch eindringlich Einzelschicksale vor Augen. Und was der Kritiker am allerwichtigsten findet: Gatti gebe in seinem Buch all den Gestrandeten von Lampedusa oder den Kanaren, den Ertrunkenen und Überlebenden, ein Gesicht. Mache sie als Menschen kenntlich, "die Hunger, Erniedrigungen, den Verlust von Familie und Heimat" auf sich nähmen, nur um "ein wenig an den Privilegien teilzuhaben", die "wir als unsere selbstverständlichen Rechte erachten".
© Perlentaucher Medien GmbH
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