Luca Giuliani öffnet in seinem glänzend geschriebenen kunst- und kulturhistorischen Werk neue Zugänge zum Verständnis der griechischen Antike: Er erzählt zahlreiche griechische Mythen und vertieft das Verständnis für deren künstlerische Umsetzung im Bild. Anhand einer Fülle reich illustrierter Beispiele erläutert der Autor die Entwicklung der griechischen Darstellungsweise und die Gründe für ihre Veränderungen vom 8. bis zum 2. Jahrhundert v. Chr. Manch einer hat schon die mißliche Situation kennengelernt, in einem Museum vor einem gut erhaltenen Vasenbild zu stehen und letztlich nicht recht zu begreifen, was darauf zu sehen und was gar das Besondere daran ist. Was wollte der Künstler darstellen? Welche Geschichte liegt seinem Bild zugrunde und wie hat er versucht, sie durch die Auswahl eines ganz bestimmten Motivs, einer ganz speziellen Situation zu erzählen? Welche Mittel hat er eingesetzt, um seine Absicht zu verwirklichen? Der antike Künstler mußte sich diese Fragen selbst immer wieder aufs neue stellen, um Erfolg zu haben. Hatte er doch auch auf den Geschmack und die Erwartungen seiner zahlenden Kundschaft Rücksicht zu nehmen. So ist die deutlich wahrnehmbare Entwicklung der griechischen Vasenmalerei in starkem Maße zeitbedingt gewesen. Je mehr die Geschichten, die ein Maler umzusetzen versuchte, zu ausdifferenzierten Texten erstarrten und im Bewußtsein seiner Umwelt so und nicht anders lebten, um so geringer wurde auch der Spielraum des Künstlers. Am Ende dieser Entwicklung standen Bilder, die schließlich nurmehr schiere Illustrationen kanonisch gewordener Texte waren. Luca Giuliani erzählt hier die Geschichten zu den Bildern, und er beschreibt den geistigen, sozialen und künstlerischen Rahmen, in dem sie entstanden sind.
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Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 17.10.2003Gepriesen sei, was die Kunst stark macht
Das Einbrechen des Erzählens in die Beschreibung der Welt: Luca Giulianis feine Beobachtungen an der griechischen Vasenmalerei
Diese große Veröffentlichung des Münchner Archäologen Luca Giuliani zur griechischen Vasenmalerei wird ein Grundlagenwerk werden, wie es seine Monographie über die Bildniskunst der römischen Republik geworden ist. Es ist ein Dokument der Nüchternheit in einer Zeit, in der keine Ringvorlesung und keine Podiumstagung auf Diskursschwaden zum Bild verzichtet. Dennoch oder gerade deshalb liest auch der Nicht-Archäologe Giulianis Bildinterpretationen mit detektivischer Spannung, vielleicht gerade weil sie so methodisch streng und kompromißlos durchgeführt werden.
Anders als der Leser vielleicht annimmt, ist der heutige Seh-Analphabetismus viel größer als die Unkenntnis der griechischen Mythen. Daß der Teilnehmer an Giulianis Sehschule sein blaues, oder besser gesagt, sein schwarzrotes oder rotschwarzes Wunder erleben wird, ist allerdings nicht nur dessen archäologischer Kompetenz zu verdanken, sondern vor allem auch - fast möchte man sagen: seinem Amateur-Status, wenn das Wort bei einem in der Wolle gefärbten Fachmann nicht so mißverständlich wäre. Dieser "Amateur" betrachtet die Kunst genau, aber nie mit "interesselosem Wohlgefallen", sondern als interessierter Liebhaber und führt uns als dieser durch den Irrgarten ikonographischer Bilderrätsel. "Liebe" ist in der Fachwelt seltsamerweise so wenig selbstverständlich wie seine elegante Schreibweise.
Giuliani wurde durch Lessings Laokoon-Aufsatz vom Erkenntniszauber wie von einem coup de foudre angerührt und machte sich dessen Unterscheidung zwischen Malerei und Poesie zu eigen: Körper sind nebeneinander im Raum anzutreffen, deshalb sind Bilder die unter dem Vorrang des Raums hergestellte Kunstform. Handlungen, die ein Nacheinander in der Zeit darstellen, das ist der Stoff von Erzählungen. Erzählen ist eine unter der Kategorie der Zeit verlaufende Kunstform.
Giuliani untersucht nun die antiken Vasenbilder des siebten, sechsten und fünften Jahrhunderts, und zwar unter dem Gesichtspunkt, wie im siebten Jahrhundert das Narrative in die bis dahin "deskriptiven" Bilder der geometrischen Kunst einbricht. Bilder erzählten vorher keine Geschichte, sondern stellten den Schiffbruch, den Aufbruch, den Tod des "aristokratischen Herrn Jedermann" dar, bis hin zur Verabschiedung der Spannung zwischen dem Narrativen und dem Deskriptiven in der "Illustration" im zweiten Jahrhundert. Die unterschiedlichen Modi des Beschreibens und des Erzählens schließen sich nach Giuliani natürlich keineswegs aus, es handelt sich um "komplementäre Möglichkeiten". Die Reibung zwischen Bildermacht und Erzählmacht ist in dem Augenblick verschwunden, wo das Bild zur bloßen Illustration des Erzählten herabsinkt. Die griechische Kunst wird hingegen, solange sie "stark" ist, zum Austragungsort der Spannung zwischen Bild und Text.
So entsteht ein suggestives Bild der Verarbeitung einer spezifischen Kunst in einer anderen Kunst. Dadurch kann die Ikonographie - exemplarisch und durchweg glänzend dargestellt anhand der Blendung des Polyphem, der Gesandtschaft an Achill, der Kirkeepisode, des Mordes am alten König Priamos, der Orest-Entsühnung - ohne Andeutungsgeraune, ohne mystische Fernverweise kristallklar und erschöpfend verhandelt werden.
Den Einbruch des Narrativen haben wir, wenn nicht nur ein Pferd abgebildet ist, sondern ein Pferd mit Rädern. Es könnte immer noch ein Kultpferd sein, aber dann wäre es wohl mit einer Bodenplatte dargestellt und nicht mit Rädern an allen vier Beinen. Außerdem sehen wir Krieger aus Luken herausschauen. Und das ist nun wirklich eine tolle Geschichte, denn damit sehen wir etwas, das logischerweise unsichtbar sein muß, wenn die List klappen soll. Wir wissen damit mehr als derjenige, der nur das Pferd auf Rädern sieht. Das Unheimliche der Szene ist, daß wir durch so viele Fenster in ein Pferd hineingucken, aus dem so viele herausgucken, die "in Wirklichkeit", im epischen Text, nicht herausgucken konnten. Der Maler spielt mit Sichtbarem und Unsichtbarem und wir müssen da mitspielen. Schockartig berührt den Betrachter an einem solchen Bild nicht, daß wir es identifizieren können, sondern daß es die Konsequenzen dieser Erzählung, den Status der Zerrissenheit für jede einzelne Figur darstellt. Paradoxerweise wird gerade durch die Fenster die Klaustrophobie ausgedrückt. Die Krieger sind zwischen einem Drinnen und einem Draußen, sie denken an nichts anderes als an die bedrohliche, nahe Zukunft.
Man kann nicht genug bewundern, wie gut Giuliani sieht, wie scharfsinnig er die einzelnen Bildlösungen Schritt für Schritt vorführt. Das läßt sich an dieser Stelle leider nicht zeigen. Nur soviel zu einer Figur mit besonderem "Mehrwert": Der zürnende Achill soll von einer Gesandtschaft zur Wiederaufnahme des Kampfs bewogen werden. Ihn zornig zu zeigen wäre unsinnig, da er die Gesandten freundlich empfängt. Also müssen Bildchiffren gefunden werden, die das erzählerische Nacheinander - andauernder Zorn, unterbrochen von vorübergehender Freundlichkeit - auch im Gleichzeitigen einfangen können. Hier spielt zum erstenmal etwas eine Rolle, was dann in unserer Romantik wieder so eine große Rolle spielen wird: daß das Bild zur Identifikation mit Figuren auffordert, die dort nicht agieren, sondern der Szene als Zeugen beiwohnen, aus dem Bild heraussehen und den Betrachter zwingen, mit seinen Augen zu sehen. Man denke an die Figuren Caspar David Friedrichs. So wird die Amphora oder Schale zum Träger der Erschütterung ihres Betrachters gemacht, der mit einer Stellvertreterfigur in das Gefäß einbezogen wird. So wird der schweigende Achill des Vasenbildes auch zu einer Darstellung von dem, was ein Bild vermag. Das Schweigen des Bildes - es gehört ja zu Giulianis Standardbehauptungen, daß die Bilder schweigen - wird in den schweigenden Achill überführt, in ihm symbolisiert.
Je größer die Möglichkeit des Vasenmalers ist, in den Mythos einzugreifen, desto stärker die Bilder, sagt Giuliani. Die Ermordung des Priamos kann auf verschiedene Weise dargestellt werden, ein Höhepunkt ist die Tötung des Großvaters durch seinen kleinen Enkel, den der Mörder als Keule benutzt. Diese Art von Furcht und Schrecken hat die Ilias nicht verbreitet. Das bedeutet eine Steigerung der Wirkungsmacht der Vasenmalerei, nicht eine Umdichtung des Mythos. Aber qualitativ ist das insofern etwas Neues, als man wirklich den Eindruck hat, es solle nicht als Realschilderung, sondern als Schock, den das Geschilderte auf den Betrachter auslöst, neu sein.
Giuliani ist Rationalist. Wenn wir mit ihm auf großartige Weise sehen gelernt haben, dürfen auch die Einwände zur Sprache komme. Warum mußte er ausgerechnet für das eigentlich Bildhafte einen Begriff nehmen, der aus der Schriftmetaphorik stammt, nämlich die descriptio, die Beschreibung? Diese Wortwahl bereitet uns ein Unbehagen. "Beschreibungen" mußten wir in der Schule von Bildern machen, sie sind jedoch eigentlich nicht das, was Bilder selbst in erster Linie tun. Das macht die Wahl dieses blassen Begriffs "deskriptiv" so untriftig. Den Vorgang für das Bildspezifische zu erklären ist nur einleuchtend anhand der Lessingschen Vorgabe. Hier hätte Giuliani beherzt aus dem Schatten Lessings heraustreten sollen.
CAROLINE NEUBAUR
Luca Giuliani: "Bild und Mythos". Geschichte der Bilderzählung in der griechischen Kunst. C. H. Beck Verlag, München 2003. 367 S., 87 Abb., geb., 34,90 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Das Einbrechen des Erzählens in die Beschreibung der Welt: Luca Giulianis feine Beobachtungen an der griechischen Vasenmalerei
Diese große Veröffentlichung des Münchner Archäologen Luca Giuliani zur griechischen Vasenmalerei wird ein Grundlagenwerk werden, wie es seine Monographie über die Bildniskunst der römischen Republik geworden ist. Es ist ein Dokument der Nüchternheit in einer Zeit, in der keine Ringvorlesung und keine Podiumstagung auf Diskursschwaden zum Bild verzichtet. Dennoch oder gerade deshalb liest auch der Nicht-Archäologe Giulianis Bildinterpretationen mit detektivischer Spannung, vielleicht gerade weil sie so methodisch streng und kompromißlos durchgeführt werden.
Anders als der Leser vielleicht annimmt, ist der heutige Seh-Analphabetismus viel größer als die Unkenntnis der griechischen Mythen. Daß der Teilnehmer an Giulianis Sehschule sein blaues, oder besser gesagt, sein schwarzrotes oder rotschwarzes Wunder erleben wird, ist allerdings nicht nur dessen archäologischer Kompetenz zu verdanken, sondern vor allem auch - fast möchte man sagen: seinem Amateur-Status, wenn das Wort bei einem in der Wolle gefärbten Fachmann nicht so mißverständlich wäre. Dieser "Amateur" betrachtet die Kunst genau, aber nie mit "interesselosem Wohlgefallen", sondern als interessierter Liebhaber und führt uns als dieser durch den Irrgarten ikonographischer Bilderrätsel. "Liebe" ist in der Fachwelt seltsamerweise so wenig selbstverständlich wie seine elegante Schreibweise.
Giuliani wurde durch Lessings Laokoon-Aufsatz vom Erkenntniszauber wie von einem coup de foudre angerührt und machte sich dessen Unterscheidung zwischen Malerei und Poesie zu eigen: Körper sind nebeneinander im Raum anzutreffen, deshalb sind Bilder die unter dem Vorrang des Raums hergestellte Kunstform. Handlungen, die ein Nacheinander in der Zeit darstellen, das ist der Stoff von Erzählungen. Erzählen ist eine unter der Kategorie der Zeit verlaufende Kunstform.
Giuliani untersucht nun die antiken Vasenbilder des siebten, sechsten und fünften Jahrhunderts, und zwar unter dem Gesichtspunkt, wie im siebten Jahrhundert das Narrative in die bis dahin "deskriptiven" Bilder der geometrischen Kunst einbricht. Bilder erzählten vorher keine Geschichte, sondern stellten den Schiffbruch, den Aufbruch, den Tod des "aristokratischen Herrn Jedermann" dar, bis hin zur Verabschiedung der Spannung zwischen dem Narrativen und dem Deskriptiven in der "Illustration" im zweiten Jahrhundert. Die unterschiedlichen Modi des Beschreibens und des Erzählens schließen sich nach Giuliani natürlich keineswegs aus, es handelt sich um "komplementäre Möglichkeiten". Die Reibung zwischen Bildermacht und Erzählmacht ist in dem Augenblick verschwunden, wo das Bild zur bloßen Illustration des Erzählten herabsinkt. Die griechische Kunst wird hingegen, solange sie "stark" ist, zum Austragungsort der Spannung zwischen Bild und Text.
So entsteht ein suggestives Bild der Verarbeitung einer spezifischen Kunst in einer anderen Kunst. Dadurch kann die Ikonographie - exemplarisch und durchweg glänzend dargestellt anhand der Blendung des Polyphem, der Gesandtschaft an Achill, der Kirkeepisode, des Mordes am alten König Priamos, der Orest-Entsühnung - ohne Andeutungsgeraune, ohne mystische Fernverweise kristallklar und erschöpfend verhandelt werden.
Den Einbruch des Narrativen haben wir, wenn nicht nur ein Pferd abgebildet ist, sondern ein Pferd mit Rädern. Es könnte immer noch ein Kultpferd sein, aber dann wäre es wohl mit einer Bodenplatte dargestellt und nicht mit Rädern an allen vier Beinen. Außerdem sehen wir Krieger aus Luken herausschauen. Und das ist nun wirklich eine tolle Geschichte, denn damit sehen wir etwas, das logischerweise unsichtbar sein muß, wenn die List klappen soll. Wir wissen damit mehr als derjenige, der nur das Pferd auf Rädern sieht. Das Unheimliche der Szene ist, daß wir durch so viele Fenster in ein Pferd hineingucken, aus dem so viele herausgucken, die "in Wirklichkeit", im epischen Text, nicht herausgucken konnten. Der Maler spielt mit Sichtbarem und Unsichtbarem und wir müssen da mitspielen. Schockartig berührt den Betrachter an einem solchen Bild nicht, daß wir es identifizieren können, sondern daß es die Konsequenzen dieser Erzählung, den Status der Zerrissenheit für jede einzelne Figur darstellt. Paradoxerweise wird gerade durch die Fenster die Klaustrophobie ausgedrückt. Die Krieger sind zwischen einem Drinnen und einem Draußen, sie denken an nichts anderes als an die bedrohliche, nahe Zukunft.
Man kann nicht genug bewundern, wie gut Giuliani sieht, wie scharfsinnig er die einzelnen Bildlösungen Schritt für Schritt vorführt. Das läßt sich an dieser Stelle leider nicht zeigen. Nur soviel zu einer Figur mit besonderem "Mehrwert": Der zürnende Achill soll von einer Gesandtschaft zur Wiederaufnahme des Kampfs bewogen werden. Ihn zornig zu zeigen wäre unsinnig, da er die Gesandten freundlich empfängt. Also müssen Bildchiffren gefunden werden, die das erzählerische Nacheinander - andauernder Zorn, unterbrochen von vorübergehender Freundlichkeit - auch im Gleichzeitigen einfangen können. Hier spielt zum erstenmal etwas eine Rolle, was dann in unserer Romantik wieder so eine große Rolle spielen wird: daß das Bild zur Identifikation mit Figuren auffordert, die dort nicht agieren, sondern der Szene als Zeugen beiwohnen, aus dem Bild heraussehen und den Betrachter zwingen, mit seinen Augen zu sehen. Man denke an die Figuren Caspar David Friedrichs. So wird die Amphora oder Schale zum Träger der Erschütterung ihres Betrachters gemacht, der mit einer Stellvertreterfigur in das Gefäß einbezogen wird. So wird der schweigende Achill des Vasenbildes auch zu einer Darstellung von dem, was ein Bild vermag. Das Schweigen des Bildes - es gehört ja zu Giulianis Standardbehauptungen, daß die Bilder schweigen - wird in den schweigenden Achill überführt, in ihm symbolisiert.
Je größer die Möglichkeit des Vasenmalers ist, in den Mythos einzugreifen, desto stärker die Bilder, sagt Giuliani. Die Ermordung des Priamos kann auf verschiedene Weise dargestellt werden, ein Höhepunkt ist die Tötung des Großvaters durch seinen kleinen Enkel, den der Mörder als Keule benutzt. Diese Art von Furcht und Schrecken hat die Ilias nicht verbreitet. Das bedeutet eine Steigerung der Wirkungsmacht der Vasenmalerei, nicht eine Umdichtung des Mythos. Aber qualitativ ist das insofern etwas Neues, als man wirklich den Eindruck hat, es solle nicht als Realschilderung, sondern als Schock, den das Geschilderte auf den Betrachter auslöst, neu sein.
Giuliani ist Rationalist. Wenn wir mit ihm auf großartige Weise sehen gelernt haben, dürfen auch die Einwände zur Sprache komme. Warum mußte er ausgerechnet für das eigentlich Bildhafte einen Begriff nehmen, der aus der Schriftmetaphorik stammt, nämlich die descriptio, die Beschreibung? Diese Wortwahl bereitet uns ein Unbehagen. "Beschreibungen" mußten wir in der Schule von Bildern machen, sie sind jedoch eigentlich nicht das, was Bilder selbst in erster Linie tun. Das macht die Wahl dieses blassen Begriffs "deskriptiv" so untriftig. Den Vorgang für das Bildspezifische zu erklären ist nur einleuchtend anhand der Lessingschen Vorgabe. Hier hätte Giuliani beherzt aus dem Schatten Lessings heraustreten sollen.
CAROLINE NEUBAUR
Luca Giuliani: "Bild und Mythos". Geschichte der Bilderzählung in der griechischen Kunst. C. H. Beck Verlag, München 2003. 367 S., 87 Abb., geb., 34,90 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 06.10.2003Der Pfahl glüht und das Ungeheuer schläft
Fruchtbare Augenblicke: Giulianis Geschichte der Bilderzählung in der griechischen Kunst
Der Satz des Simonides war so folgenreich wie keine zweite kunsttheoretische Äußerung: Malerei sei „stumme Poesie”, wie diese „sprechende Malerei” sei. Mit dieser Formel schuf der griechische Lyriker nicht nur die theoretische Grundlage für die bis weit in die Neuzeit hinein diskutierte Schwesternschaft von Dichtung und Malerei, sondern er erkannte auch eine Eigenheit des ikonischen Mediums: Bilder können und wollen erzählen, und doch ist ihre Artikulationsform nicht die der verbal-diskursiven Sprache. Die Einsicht in dieses Paradox bildete die Voraussetzung für die Beschäftigung mit den spezifischen Erzählstrategien von Bildern, wie sie die kunsthistorische Forschung seit einiger Zeit erfolgreich betreibt.
Luca Giuliani hat sich dieses Themas nun aus archäologischer Perspektive angenommen, und seine „Geschichte der Bilderzählung in der griechischen Kunst” wird sicherlich ebenso grundlegend werden, wie es seine Studie zum römischen Porträt bereits geworden ist. Lessings Laokoon-Text bietet ihm die Termini, mit denen er zwei Typen von Darstellungen kategorial unterscheidet. Als „deskriptiv” bezeichnet Giuliani solche Bilder, die eine unspezifische Situation oder ein Ritual darstellen; sie setzt er ab von eigentlich „narrativen” Darstellungen, die eine einmalige Handlung mit benennbaren Protagonisten schildern. Im deskriptiven Modus, der vor allem die frühe griechische Vasenmalerei dominierte, erkennt Giuliani die Form, die den strukturellen Bedingungen des Bildes Rechnung trägt, und entsprechend benötigt auch der Betrachter keinerlei Textkenntnis, um etwa die Darstellung einer Löwenjagd auf einem attischen Kesseluntersatz im Athener Kerameikos-Museum lesen zu können.
Doch verlor bereits im 7. vorchristlichen Jahrhundert der deskriptive Modus zugunsten des narrativen an Relevanz. Die Schwierigkeiten, die sich die Malerei dadurch einhandelte, waren nicht unbeträchtlich, denn Bilder können ja, anders als Texte, keine konsekutiven oder einander bedingenden Handlungen schildern. Ein Maler muss daher aus einer narrativen Sukzession einen prägnanten Moment auswählen und diesen derart visuell verdichten, dass das ihm Vorausgegangene sowie das ihm Nachfolgende der Handlung für den Betrachter zu erschließen ist. Die Stärke von Giulianis Untersuchung besteht darin, dass er sehr differenziert verschiedene Bildlösungen für die einer Textvorlage inhärenten Schwierigkeiten diskutiert. So muss bei Darstellungen der Blendung des einäugigen Riesen Polyphem dieser einerseits wehrlos, andererseits aber auch gefährlich erscheinen. Dass er infolge des ihm von Odysseus verabreichten Tranks fest eingeschlafen ist, ist die notwendige Voraussetzung für seine Blendung.
Der unbekannte Maler einer um 500 v. Chr. entstandenen attischen Kanne im Louvre verteilt die Handlung auf zwei Szenen: In der linken wird der Pfahl zum Glühen gebracht, in der rechten wird er von zwei Männern auf die Stirn des Riesen gerichtet, ohne dieselbe jedoch bereits zu berühren. Die Wahl eines Moments vor der eigentlichen Blendung ist geschickt, denn damit gelingt es dem Maler, eine gewisse Spannung zu evozieren: Polyphem könnte ja durch die sicherlich nicht geräuschlos erfolgte Annäherung der Männer auch aufwachen und mit den Gefährten des Odysseus dann kurzen Prozess machen. – Dass eben die Wahl eines spannungsvollen, und damit besonders wirkmächtigen Moments den Malern die Chance bot, den medialen Nachteil in einen Vorteil zu verwandeln, macht Giuliani auch am Beispiel des prachtvollen, von Kleitias mit der Minotauros-Geschichte bemalten Volutenkraters in Florenz deutlich. Dieser zeigt nämlich nicht die Haupthandlung des Mythos, also Theseus’ Kampf mit dem Ungeheuer, sondern die nie zuvor verbildlichte Begegnung des Helden mit Ariadne.
Diese Episode stellt die Bedingung für die Haupthandlung dar, weil sich die minoische Königstochter in den Athener verliebt und ihm später mittels des berühmten Fadens hilft, aus dem Labyrinth auch wieder hinauszufinden. Genau diesen Moment des sich ineinander Verliebens, den coup de foudre, setzt Kleitias ins Bild: Theseus schreitet auf Ariadne zu, diese streckt ihm emphatisch Kranz und Garn entgegen, und ihre Amme hebt vergeblich abwehrend die Hand. Damit hat Kleitias jenen „fruchtbaren Augenblick” entdeckt, den Lessing über zweitausend Jahre später konzeptuell entwickeln wird. Gerade weil er sich im schwer visualisierbaren Bereich des seelischen Erlebens abspielt, demonstriert der Maler hier ganz offensichtlich seine Souveränität.
Es gibt eine Eigentümlichkeit in Giulianis Buch, die bei der Lektüre zunächst irritiert, und zwar das vollständige Ausblenden der antiken kunsttheoretischen Reflexion. Zwar haben sich aus griechischer Zeit bekanntlich keine theoretischen Schriften über die bildenden Künste erhalten, doch handeln römische Autoren, etwa Plinius, ausführlich über die verlorene griechische Wand- und Tafelmalerei. Sie müssen auch ältere Texte rezipiert haben. In dem, was sie bemerkenswert finden, lassen sich Parallelen zu dem von Giuliani an der Vasenmalerei Beobachteten herstellen. So wurde, Plinius zufolge, der Maler Polygnot von Thasos dafür bewundert, dass er die Charaktere von Menschen darstellen konnte, was Giuliani entsprechend an Achilles-Darstellungen des Brygos-Maler konstatiert. Plutarch betont im Anschluss an den Ausspruch des Simonides die – gegenüber Texten – höhere Wirkmächtigkeit von Bildern: Sie könnten Handlungen nämlich so schildern, dass der Eindruck entstehe, als ereigne sich das Gezeigte gerade im Moment der Bildlektüre. Wenn Giuliani solche Überlegungen der – zugegebenermaßen nicht sehr ausführlichen – antiken Bildreflexion negiert, hat er sich offenbar zum Ziel gesetzt, eine Bildtheorie ausschließlich immanent an den Bildern entwickeln; es ist nur schade, dass er dieses Vorgehen seinerseits nicht reflektiert.
VALESKA VON ROSEN
LUCA GIULIANI, Bild und Mythos. Geschichte der Bilderzählung in der griechischen Kunst. C. H.Beck, München 2003. 367 Seiten, 34,90 Euro.
SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung exklusiv über www.diz-muenchen.de
Fruchtbare Augenblicke: Giulianis Geschichte der Bilderzählung in der griechischen Kunst
Der Satz des Simonides war so folgenreich wie keine zweite kunsttheoretische Äußerung: Malerei sei „stumme Poesie”, wie diese „sprechende Malerei” sei. Mit dieser Formel schuf der griechische Lyriker nicht nur die theoretische Grundlage für die bis weit in die Neuzeit hinein diskutierte Schwesternschaft von Dichtung und Malerei, sondern er erkannte auch eine Eigenheit des ikonischen Mediums: Bilder können und wollen erzählen, und doch ist ihre Artikulationsform nicht die der verbal-diskursiven Sprache. Die Einsicht in dieses Paradox bildete die Voraussetzung für die Beschäftigung mit den spezifischen Erzählstrategien von Bildern, wie sie die kunsthistorische Forschung seit einiger Zeit erfolgreich betreibt.
Luca Giuliani hat sich dieses Themas nun aus archäologischer Perspektive angenommen, und seine „Geschichte der Bilderzählung in der griechischen Kunst” wird sicherlich ebenso grundlegend werden, wie es seine Studie zum römischen Porträt bereits geworden ist. Lessings Laokoon-Text bietet ihm die Termini, mit denen er zwei Typen von Darstellungen kategorial unterscheidet. Als „deskriptiv” bezeichnet Giuliani solche Bilder, die eine unspezifische Situation oder ein Ritual darstellen; sie setzt er ab von eigentlich „narrativen” Darstellungen, die eine einmalige Handlung mit benennbaren Protagonisten schildern. Im deskriptiven Modus, der vor allem die frühe griechische Vasenmalerei dominierte, erkennt Giuliani die Form, die den strukturellen Bedingungen des Bildes Rechnung trägt, und entsprechend benötigt auch der Betrachter keinerlei Textkenntnis, um etwa die Darstellung einer Löwenjagd auf einem attischen Kesseluntersatz im Athener Kerameikos-Museum lesen zu können.
Doch verlor bereits im 7. vorchristlichen Jahrhundert der deskriptive Modus zugunsten des narrativen an Relevanz. Die Schwierigkeiten, die sich die Malerei dadurch einhandelte, waren nicht unbeträchtlich, denn Bilder können ja, anders als Texte, keine konsekutiven oder einander bedingenden Handlungen schildern. Ein Maler muss daher aus einer narrativen Sukzession einen prägnanten Moment auswählen und diesen derart visuell verdichten, dass das ihm Vorausgegangene sowie das ihm Nachfolgende der Handlung für den Betrachter zu erschließen ist. Die Stärke von Giulianis Untersuchung besteht darin, dass er sehr differenziert verschiedene Bildlösungen für die einer Textvorlage inhärenten Schwierigkeiten diskutiert. So muss bei Darstellungen der Blendung des einäugigen Riesen Polyphem dieser einerseits wehrlos, andererseits aber auch gefährlich erscheinen. Dass er infolge des ihm von Odysseus verabreichten Tranks fest eingeschlafen ist, ist die notwendige Voraussetzung für seine Blendung.
Der unbekannte Maler einer um 500 v. Chr. entstandenen attischen Kanne im Louvre verteilt die Handlung auf zwei Szenen: In der linken wird der Pfahl zum Glühen gebracht, in der rechten wird er von zwei Männern auf die Stirn des Riesen gerichtet, ohne dieselbe jedoch bereits zu berühren. Die Wahl eines Moments vor der eigentlichen Blendung ist geschickt, denn damit gelingt es dem Maler, eine gewisse Spannung zu evozieren: Polyphem könnte ja durch die sicherlich nicht geräuschlos erfolgte Annäherung der Männer auch aufwachen und mit den Gefährten des Odysseus dann kurzen Prozess machen. – Dass eben die Wahl eines spannungsvollen, und damit besonders wirkmächtigen Moments den Malern die Chance bot, den medialen Nachteil in einen Vorteil zu verwandeln, macht Giuliani auch am Beispiel des prachtvollen, von Kleitias mit der Minotauros-Geschichte bemalten Volutenkraters in Florenz deutlich. Dieser zeigt nämlich nicht die Haupthandlung des Mythos, also Theseus’ Kampf mit dem Ungeheuer, sondern die nie zuvor verbildlichte Begegnung des Helden mit Ariadne.
Diese Episode stellt die Bedingung für die Haupthandlung dar, weil sich die minoische Königstochter in den Athener verliebt und ihm später mittels des berühmten Fadens hilft, aus dem Labyrinth auch wieder hinauszufinden. Genau diesen Moment des sich ineinander Verliebens, den coup de foudre, setzt Kleitias ins Bild: Theseus schreitet auf Ariadne zu, diese streckt ihm emphatisch Kranz und Garn entgegen, und ihre Amme hebt vergeblich abwehrend die Hand. Damit hat Kleitias jenen „fruchtbaren Augenblick” entdeckt, den Lessing über zweitausend Jahre später konzeptuell entwickeln wird. Gerade weil er sich im schwer visualisierbaren Bereich des seelischen Erlebens abspielt, demonstriert der Maler hier ganz offensichtlich seine Souveränität.
Es gibt eine Eigentümlichkeit in Giulianis Buch, die bei der Lektüre zunächst irritiert, und zwar das vollständige Ausblenden der antiken kunsttheoretischen Reflexion. Zwar haben sich aus griechischer Zeit bekanntlich keine theoretischen Schriften über die bildenden Künste erhalten, doch handeln römische Autoren, etwa Plinius, ausführlich über die verlorene griechische Wand- und Tafelmalerei. Sie müssen auch ältere Texte rezipiert haben. In dem, was sie bemerkenswert finden, lassen sich Parallelen zu dem von Giuliani an der Vasenmalerei Beobachteten herstellen. So wurde, Plinius zufolge, der Maler Polygnot von Thasos dafür bewundert, dass er die Charaktere von Menschen darstellen konnte, was Giuliani entsprechend an Achilles-Darstellungen des Brygos-Maler konstatiert. Plutarch betont im Anschluss an den Ausspruch des Simonides die – gegenüber Texten – höhere Wirkmächtigkeit von Bildern: Sie könnten Handlungen nämlich so schildern, dass der Eindruck entstehe, als ereigne sich das Gezeigte gerade im Moment der Bildlektüre. Wenn Giuliani solche Überlegungen der – zugegebenermaßen nicht sehr ausführlichen – antiken Bildreflexion negiert, hat er sich offenbar zum Ziel gesetzt, eine Bildtheorie ausschließlich immanent an den Bildern entwickeln; es ist nur schade, dass er dieses Vorgehen seinerseits nicht reflektiert.
VALESKA VON ROSEN
LUCA GIULIANI, Bild und Mythos. Geschichte der Bilderzählung in der griechischen Kunst. C. H.Beck, München 2003. 367 Seiten, 34,90 Euro.
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Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
Luca Giulianis "feine Beobachtungen" der griechischen Vasenmalerei haben Rezensentin Caroline Neubaur vollauf begeistert. Sie ist sich sicher, dass Giulianis "spannend" zu lesende "Geschichte der Bilderzählung in der griechischen Kunst" zu einem "Grundlagenwerk" werden wird. Wie sie darlegt, untersucht der Münchner Archäologe antike Vasenbilder des siebten, sechsten und fünften Jahrhunderts vor Christus, und zwar unter dem Gesichtspunkt, "wie im siebten Jahrhundert das Narrative in die bis dahin 'deskriptiven' Bilder der geometrischen Kunst einbricht". Angesichts des "heutigen Seh-Analphabetismus" ist es nach Ansicht Neubaurs höchst bewundernswert, "wie gut Giuliani sieht, wie scharfsinnig er die einzelnen Bildlösungen Schritt für Schritt vorführt." Das hat für sie nicht nur mit Giulianis "archäologischer Kompetenz" zu tun, sondern auch mit der Liebe, mit der er bei der Sache ist. Angetan haben es Neubaur auch die methodische Nüchternheit der Arbeit sowie der "eleganten Schreibstil" Giulianis.
© Perlentaucher Medien GmbH
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