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Als Kind fuhr die Ich-Erzählerin im Küchenschrank ihrer Großmutter zur See. Heute reist sie im Flugzeug in den Iran. Die Liebe zur Ferne ist geblieben - und die Sehnsucht danach, den Raum zwischen dem Eigenen und dem Fremden zu überwinden.Während sie durch Teheran streift, führt sie immer auch ihre Vergangenheit mit, die sich mit der Gegenwart überlappt. Und immer ist sie - geprägt von Lévi-Strauss' Traurigen Tropen - auf der Suche nach einer Katze, mit der sie ein Gespräch führen kann ...Soghaft, präzise und bildreich, mit feinem Gespür für surreale Momente, erzählt Friederike Kretzen von…mehr

Produktbeschreibung
Als Kind fuhr die Ich-Erzählerin im Küchenschrank ihrer Großmutter zur See. Heute reist sie im Flugzeug in den Iran. Die Liebe zur Ferne ist geblieben - und die Sehnsucht danach, den Raum zwischen dem Eigenen und dem Fremden zu überwinden.Während sie durch Teheran streift, führt sie immer auch ihre Vergangenheit mit, die sich mit der Gegenwart überlappt. Und immer ist sie - geprägt von Lévi-Strauss' Traurigen Tropen - auf der Suche nach einer Katze, mit der sie ein Gespräch führen kann ...Soghaft, präzise und bildreich, mit feinem Gespür für surreale Momente, erzählt Friederike Kretzen von einer Reise nach Persien und überwindet dabei die Grenzen der Entfernung und des Unsagbaren.
Autorenporträt
FRIEDERIKE KRETZEN, 1956 in Leverkusen geboren, studierte Soziologie und Ethnologie und arbeitete als Dramaturgin am Residenz-Theater München. Seit 1983 lebt sie als freie Autorin in Basel. Daneben ist sie als Literaturkritikerin, Essayistin und Dozentin an der ETH und dem Literaturinstitut Biel tätig. Für ihre Romane wurde sie vielfach ausgezeichnet, u. a. mit dem Deutschen Kritikerpreis für Literatur 1999 (für Ich bin ein Hügel), dem Arno-Schmidt-Stipendium 2001 und mit dem Schweizer Literaturpreis 2018. Zuletzt erschien ihr Roman Schule der Indienfahrer (2017).
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 25.05.2023

Major Tom ist einer von uns
Friederike Kretzen versucht sich an der Magie des wilden Denkens: "Bild vom Bild vom großen Mond" heißt ihr "Roman einer Reise"

Gleich das erste Kapitel gibt ein Rätsel auf: "Habe ich Persien gesehen oder einen Film von Kiarostami? In dem ein Kind vor sich hin träumt und in sein Heft schreibt: Eines Tages werde ich aufbrechen und in ein Land reisen, in dem es Filme gibt, die von Kindern handeln, die auf dem Mond von der Erde träumen. In der Nacht schlafen sie neben der Katze."

Das Leben - ein Traum? Oder Kino? Später heißt es: "Und mir fällt der Film einer anderen Reise ein. Zwei Männer an der Grenze eines leeren Lands, sie fahren von Kino zu Kino, verlieren nicht viele Worte." Dieser Film, an den sich die Icherzählerin, die sehr viel mit der Autorin zu tun hat, erinnert, dessen Titel sie aber nicht nennt, ist Wim Wenders' "Im Lauf der Zeit" von 1976, da war Friederike Kretzen zwanzig Jahre alt.

Für ihre Alterskohorte (aber nicht nur für diese) ist "Im Lauf der Zeit" der unauslöschliche Kinobericht einer Raum- und Zeiterfahrung als grenzgängerische Selbstsuche. Der finale Satz dort lautet: "Es muss alles anders werden. So long. R." Friederike Kretzen wandelt die Botschaft unter der Hand ein wenig ab: "Alles muss anders werden", lässt sie einen Mann in das Heft eines Kinds schreiben. "Und ich füge hinzu: Vom Anfang des Reisens schreibe ich. Und ich schreibe vom Reiseschreiben in Begleitung träumender Kinder auf dem Mond." Was Wunder, dass am Beginn ihrer eigenwilligen Reiseerzählung eine Kindervorstellung von "Peterchens Mondfahrt" steht.

Geboren wurde Friederike Kretzen in Leverkusen, von einer Kindheit dort berichtet sie dann auch gleich anfangs und von der Überwindung der darauf lastenden Schwere durch die Phantasie: "Wir stehen im Hof unserer Großmutter, sehen hinauf zum Osten, gleich hinter dem Bayerwerk mit dem brennenden Kreuz. Unter dem sind wir zur Welt gebracht worden. In der großen Zeit nach der Zerstörung, das deutsche Wirtschaftswunder lodert aus Kaminen, verdüstert den Himmel, vergiftet noch den kleinsten aller Flüsse."

Es handelt sich um einen Bewusstseinsstrom, dessen Morgenlandfahrt sich eben nicht in der Zeit folgen lässt, schon gar nicht in der Eindeutigkeit der Orte, an denen sich die Icherzählerin gerade befindet. Teheran, Isfahan, Mumbai, Delhi und darüber hinaus (es kommen auch Mexiko oder Detroit vor). Die Momente einer - kryptischen - Autobiographie tauchen immer wieder auf, wie Inseln in dieser Dekonstruktion von Linearität. "Nie komme ich hier", heißt es einmal (wo ist "hier"? Vielleicht Isfahan?), "vom Weg ab. Ground Control to Major Tom: Ich bin da. In einem Lied, einem Film, einem Gedicht." Auch die Popkultur jener Jahre hat Friederike Kretzen inhaliert in dieser Exkursion, Selbsterkundung ihres Lebens, David Bowies "Major Tom" als genuiner Nachkomme von "Peterchens Mondfahrt".

Indessen insistiert die Katze, wie sie Claude Lévi-Strauss in "Traurige Tropen" erkannt hat, wenn es ihm darum geht, das Wesen der Menschheit überhaupt zu erfassen. Lévi-Strauss schreibt vom "Blick - schwer von Gefühl, Heiterkeit und gegenwärtigem Verzeihen -, den ein unwillkürliches Einverständnis zuweilen auszutauschen gestattet mit einer Katze". Die Icherzählerin hatte vor der Reise nach Iran einen Brief an den Schweizer Botschafter - Kretzen lebt seit 1983 in Basel - geschrieben: "Ich will nach Persien reisen, das Gespräch mit einer Katze suchen. Von dem mir meine erste große Liebe erzählt hat. Ich war jung, ungeduldig, die ehemalige Tochter des Zirkusdirektors in den bunten Kleidern der Inder. Irgendeinem irren Orient hinterher. So saß ich bei ihm im Zimmer, wir tranken Tee, ich schaute ihn immerzu an. Er war von einem Stern oder aus einem meiner Träume gefallen und las mir von Lévi-Strauss das Ende der Traurigen Tropen vor."

Die Namen "Persien" und "Indien" stehen für Sehnsuchtsorte, deren Wirklichkeit sich aber immer wieder wie eine Fata Morgana am Horizont auflösen kann in poetische Momente, die viel mehr eine Sehnsucht nach der Sehnsucht spiegeln, als kohärente Ereignisse wiederzugeben. Einmal heißt es: "Sofort dreht sich der Raum, steht kopf. Ich gerate in einen Wirbel, werde herumgeschleudert. Und mit mir die Geographie meiner inneren Anschauung. Ist alles, was ich je erlebt habe, verkehrt herum gewesen? Der Osten im Westen? Liegt, was hinter mir ist, vor mir? Ist das, wohin ich mich bewege, was ich schon lange kenne?" Fragmente von Erinnerungen und Gefühlen, Begegnungen und Beobachtungen verschmelzen zu einer Form synästhetischen Erfahrens, einem wilden Denken, von dem die abendländische Vernunft verabschiedet wird.

Dabei ist es so, dass nicht wenige junge Menschen aus Kretzens im Okzident aufgewachsener Generation diese Verflüssigung der Wahrnehmung diverser Orte nachvollziehen können (für Nachgeborene könnte das schwieriger werden). Sie hatten sich damals auf den Weg in den Nahen und ferneren Osten gemacht, nach Indien vor allem oder auch Nepal, Aus- und Aufbruch, angetrieben von einer vagen Suche nach Sinn. Darin liegt der realistische Kern der extravaganten Reise. In ihrem Buch "Schule der Indienfahrer" von 2017 hat Kretzen dieses Thema verhandelt. Ihre Begleitung war dabei eine (schon aus noch früheren Büchern bekannte) Gruppe vertrauter Personen, die auch jetzt wieder ihre Rollen haben; neue Begleiterinnen und Begleiter auf diesem Trip kommen hinzu.

Schließlich kommt die Story zu sich selbst. Der Ort ist Teheran, die Icherzählerin hält eine Lesung aus einem Buch, das sich grade selbst erst schreibt (und erst noch zu übersetzen sein würde), und sie ruft Michel Foucault mit "Wahnsinn und Gesellschaft" zu ihrem Zeugen auf. Foucault schreibt: "In der Universalität der abendländischen Ratio gibt es den Trennungsstrich, den der alte Orient darstellt: der Orient, den man sich als Ursprung denkt als schwindeligen Punkt, an dem das Heimweh und die Versprechen auf Rückkehr entstehen, der Orient, der der kolonisatorischen Vernunft des Abendlandes angeboten wird, der jedoch unendlich unzugänglich bleibt, denn er bleibt stets die Grenze." Diese Fremdheit in Raum und Zeit ist unauflösbar. Und hier wird das poetische Reisebuch brandaktuell, im Gedanken an die gesellschaftlichen und politischen Systeme.

Das noch ungeschriebene Buch hat Kretzen jetzt vorgelegt. Gleich sein Titel ist eine inspirierende mise en abyme für eine unabschließbare Bewegung, vom "brennenden Kreuz" am Himmel über einer Kindheit bis zu den wechselnden Monden des Orients, eine Ermächtigung zum Träumen. Wer sich darauf einlässt, wird die eigene Phantasie in sich erweckt finden zu einer inneren Reise, wo auch immer sie hinführt. ROSE-MARIA GROPP

Friederike Kretzen: "Bild vom Bild vom großen Mond". Roman einer Reise.

Dörlemann Verlag, Zürich 2022. 284 S., geb., 25,- Euro.

Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
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Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension

Eine "eigenwillige Reiseerzählung" findet Rezensentin Rose-Maria Gropp bei Friederike Kretzen vor: Wild-magisches Denken führt die Protagonistin, die laut Gropp einiges mit der Autorin gemeinsam hat, nach Teheran und Isfahan, aber auch nach Detroit und Leverkusen. Und ins Kino: Den Einfluss von Wim Wenders' "Im Lauf der Zeit" macht die Kritikerin an dem leicht angepassten Zitat "Alles muss anders werden" fest, der die ganze Geschichte durchziehe, die immer wieder traumhaft-träumerische Facetten, Sehnsüchte und philosophische Gedankengänge, die mit Lévi-Strauss bewandert werden, aufnehme. Ein leicht fragmentarischer Bewusstseinsstrom als anregende Suche auch nach sich selbst, schließt sie.

© Perlentaucher Medien GmbH