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Ein Mädchen steht im Hof einer Anstalt. Das Tor geht auf, das Mädchen huscht hinaus und beginnt seine Reise, durch Wälder, Felder, Dörfer und an der Autobahn entlang: «Die Sterne wandern, und ich wandre auch.» Isa heißt sie, und Isa wird den Menschen begegnen - freundlichen wie rätselhaften, schlechten wie traurigen. Einem Binnenschiffer, der vielleicht ein Bankräuber ist, einem toten Förster, einem Fernfahrer auf Abwegen. Und auf einer Müllhalde trifft sie zwei Vierzehnjährige, einer davon, der schüchterne Blonde, gefällt ihr - An seinem Roman hat Wolfgang Herrndorf bis zuletzt gearbeitet:…mehr

Produktbeschreibung
Ein Mädchen steht im Hof einer Anstalt. Das Tor geht auf, das Mädchen huscht hinaus und beginnt seine Reise, durch Wälder, Felder, Dörfer und an der Autobahn entlang: «Die Sterne wandern, und ich wandre auch.» Isa heißt sie, und Isa wird den Menschen begegnen - freundlichen wie rätselhaften, schlechten wie traurigen. Einem Binnenschiffer, der vielleicht ein Bankräuber ist, einem toten Förster, einem Fernfahrer auf Abwegen. Und auf einer Müllhalde trifft sie zwei Vierzehnjährige, einer davon, der schüchterne Blonde, gefällt ihr - An seinem Roman hat Wolfgang Herrndorf bis zuletzt gearbeitet: eine romantische Wanderschaft durch Tage und Nächte; unvollendet, unvergesslich.
Die Geschichte der verrückten, hellsichtigen Isa: Wolfgang Herrndorfs unvollendeter letzter Roman.
Autorenporträt
Wolfgang Herrndorf, 1965 in Hamburg geboren und 2013 in Berlin gestorben, hat ursprünglich Malerei studiert. 2002 erschien sein Debütroman 'In Plüschgewittern', 2007 der Erzählband 'Diesseits des Van-Allen-Gürtels'. Es folgten die Romane 'Tschick' (2010), 'Sand' (2011), ausgezeichnet mit dem Preis der Leipziger Buchmesse, sowie posthum das Tagebuch 'Arbeit und Struktur' (2013) und der unvollendete Roman 'Bilder deiner großen Liebe' (2014). 2023 wurde die Biographie 'Herrndorf' von Tobias Rüther veröffentlicht. Kathrin Passig, geboren 1970, ist eine Vordenkerin des digitalen Zeitalters. Sie ist Mitbegründerin der Zentralen Intelligenz Agentur in Berlin sowie des Blogs 'Techniktagebuch'. 2006 gewann sie in Klagenfurt sowohl den Bachmann-Preis als auch den Publikumspreis. Die 'Sachbuchautorin und Sachenausdenkerin' (Passig über Passig) veröffentlichte u. a. 2007 das 'Lexikon des Unwissens' (mit Aleks Scholz) und 2012 'Internet - Segen oder Fluch' (mit Sascha Lobo). 2016 wurde Kathrin Passig mit dem Johann-Heinrich-Merck-Preis für literarische Kritik und Essay ausgezeichnet.
Rezensionen

Perlentaucher-Notiz zur NZZ-Rezension

Rainer Moritz vergisst beim Lesen, dass Wolfgang Herrndorf diesen Roman nicht mehr abschließen konnte. In sich nämlich scheint ihm der Roman durchaus vollkommen. Die aus dem Nachlass herausgegebene, an Herrndorfs Roman "Tschick" anschließende Geschichte des Mädchens Isa auf der Suche nach der Liebe zur Welt, zum Leben, eröffnet ihm immer wieder Momente der Erleuchtung, quälend, anrührend. Großartig, meint Moritz, wie es dem Autor gelingt, sich in die Gedanken- und Gefühlswelt dieser aus der Welt Gefallenen Figur zu versetzen, ganz ohne falschen Ton, staunt Moritz.

© Perlentaucher Medien GmbH

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 05.10.2014

Huckleberry Psycho ist wieder da

Kaum sind Tschick, Maik und Isa zurück, müssen wir uns von ihnen verabschieden, diesmal für immer: "Bilder deiner großen Liebe", Wolfgang Herrndorfs letztes Buch

Man schlägt das Buch nach der letzten Seite zu und atmet erst mal tief durch. Und dann will man dringend irgendwas kaputtmachen. Eintreten. Zerreißen, beschimpfen, aus dem Fenster werfen. Stattdessen schlägt man die Hände über dem Kopf zusammen und kann es einfach nicht fassen.

Das war es also jetzt. Mehr wird nicht kommen. Davon muss man ausgehen. Dieses Fragment, "Bilder deiner großen Liebe", das sind die letzten Worte, die Wolfgang Herrndorf, einer der größten deutschsprachigen Schriftsteller der letzten Jahrzehnte, noch zur Veröffentlichung freigegeben hat.

Wenige Worte sind es, kaum 140 Seiten Text, aber trotzdem führt aus ihm mindestens ein halbes Dutzend Straßen in weitere, neue Bücher hinein, von denen man nicht mal die Rücklichter sieht, von denen man nur träumen darf, weil Wolfgang Herrndorf sie nicht mehr schreiben wird. Seit mehr als einem Jahr steht ein Kreuz am Ufer des Berliner Hohenzollernkanals, dort, wo sich Wolfgang Herrndorf am 26. August 2013 erschossen hat, bevor der Tumor in seinem Kopf ihn töten konnte, was Herrndorf nicht zulassen wollte.

Auf den letzten Metern, die ihm blieben, hat er umso schneller geschrieben: Fast täglich in seinem Blog, aus dem postum das Buch "Arbeit und Struktur" wurde. Dann den preisgekrönten Roman "Sand" (2011). Und vor allem "Tschick", ein Jugendbuch für jedes Alter, das aus dem einigermaßen bekannten Berliner Schriftsteller und Maler im Herbst 2010 einen Star machte, ein Dreivierteljahr nach seiner Krebsdiagnose - und aus dem tatsächlich ein direkter Weg in dieses Fragment führt, das im Blog noch "Isa" hieß und das Herrndorfs Vertraute Kathrin Passig und sein Lektor Marcus Gärtner jetzt zu einem Buch geformt haben.

Denn Isa, die Erzählerin dieses Fragments, tauchte auch schon in "Tschick" auf, kometengleich, auf einer Müllkippe irgendwo im Osten Deutschlands, wo Maik und Tschick, die Helden der Geschichte, nach einem Schlauch suchen, um ihren geklauten Lada wieder betanken zu können. Isa hilft ihnen dabei, beziehungsweise zeigt ihnen, wie das überhaupt geht, denn so eine ist sie. Eine, die im Laufen Steine werfen kann, fünfzig Meter weit, wie an der Schnur gezogen. Dann begleitet Isa die Jungs ein Stück auf ihrem Trip, die beiden wollen im Lada ja in die Walachei, Isa will aber nach Berlin, also trennt sie sich bald wieder von Maik und Tschick. Die drei versprechen sich vorher aber noch ein Wiedersehen in fünfzig Jahren, 17. Juli, fünf Uhr nachmittags, 2060. Ein kurzer Auftritt ist das nur, er reicht aber, damit sich Maik in Isa verliebt und der Leser sich fragt, woher dieses Mädchen kommt und wohin es zieht.

Wolfgang Herrndorf hat sich das also auch gefragt. Und was er noch über Isa herausfinden konnte, steht nun in diesem unvollendeten Buch, mit dem er, man kann es im Blog nachlesen, gekämpft hat: Das Schreiben fiel ihm immer schwerer, bis es gar nicht mehr ging. Herrndorf musste, berichten Passig und Gärtner im Nachwort, mehr oder weniger dazu überredet werden, dass kein zweiter Autor Isas Geschichte zu Ende schreibt, wie er sich das erst gewünscht hatte, sondern die beiden Freunde den Text, so wie Herrndorf ihn hinterlassen würde, in eine Form brächten, die etwas ergibt.

Und diese Form ergibt: dreiunddreißig Kapitel, Szenen, Tagebucheinträge, manchmal sogar nur Stichworte, aus denen sich aber mehr erkennen lässt, und schließlich ein letzter Satz, der vielleicht gar keiner ist, der aber so perfekt, so cool und dramatisch ist, dass er einer sein könnte: "Ich halte die Waffe genau senkrecht hoch und sehe mit offenem Mund der Kugel hinterher, sehe sie steigen, sehe sie immer kleiner und kleiner und fast unsichtbar werden im tiefdunklen blauen Himmel, bevor sie sich aus dem Verschwundensein wieder materialisiert und zu fallen beginnt, millimetergenau zurück in den Lauf der Waffe."

Hier spricht Isa, ein junges Mädchen, vielleicht vierzehn, vielleicht psychotisch. Isa flieht aus einer Anstalt, per Anhalter in einem Laster, auf einem Binnenschiff, dann kurz mit Maik und Tschick im Lada, vor allem aber zu Fuß, barfuß sogar. Bewaffnet zieht sie durch ein Deutschland, das mal wie in echt, mal wie in der Kunst aussieht, wie im Märchen, im Film. Und dann reißt dieser Film ab. Eigentlich taucht Isa auch in ihrem eigenen Buch wieder wie ein Komet auf und zieht dann weiter, und wir wissen nicht, wohin, aber Herrndorf wird uns darauf keine Antwort mehr geben.

Und man sitzt also jetzt da mit dem angefangenen Roman und einem gebrochenen Herzen und will mit irgendwas auf irgendwas anderes werfen. Aber es nützt ja alles nichts, das Pathos nicht und nicht die Wut über diese Lächerlichkeit. Wie viele deutsche Schriftstellerinnen und Schriftsteller (Herrndorf zählt ein paar auf in seinem Blog) schwärmen von den großen alten Meistern und schnörkeln ihnen weinerliche altmodische Imitate hinterher, als sei das ein Gift gegen die böse triviale Gegenwart, als sei die grammatisch korrekte Anwendung angestaubter Wörter schon so etwas wie Stil - und hier kommt Wolfgang Herrndorf, ein Spätromantiker im Internet, der moderne Malerei für Quatsch hält und Stendhal und Thomas Mann genau wie seinen Laptop liebt, und haut im Geiste seiner Helden aus vergangenen Jahrhunderten einen Satz nach dem anderen, ein Bild und ein Motiv nach dem anderen in einer Sprache von heute heraus, und dann muss der mit Ende vierzig sterben?

Es ist aber nicht nur die romantische Glasklarheit seines Stils ("Geht man durch die Tür, dann geht man in die Alltagswelt mit ihren Gewohnheiten und ihrem Schmutz. Steigt man aus dem Fenster, gelangt man in einen Raum wie in seinem eigenen Innern." Oder: "Der Oberkörper des Mannes ist schwarz von Blut. Es ist nicht sein eigenes. Im Reh ist ein Einschussloch, im Mann nicht."). Es sind vor allem die Schnitte, die Sprünge, dieses genaue Bewusstsein für Geschwindigkeit und Raffung. Da geht es zum Beispiel hin und her zwischen Isa und dem Binnenschiffer, der sie auf seinem Kahn mitnimmt, aber eigentlich der Polizei übergeben will, was Isa natürlich auf keinen Fall mitmachen wird, und eine Schleuse naht, und dann Absatz, und: "Als wir anlegen, wirft der Käpt'n mir ein Tau zu, das ich um einen Poller legen soll. Ich lege es um den Poller und laufe davon, in die warme Nacht hinein." Erst Beschleunigung auf tausend Worte und schneller, dann die eleganteste Vollbremsung auf einunddreißig, federnd weich, und dann weiter.

Wolfgang Herrndorf hat in seinem Blog davon geschwärmt, wie Thomas Mann im "Zauberberg" Clawdia Chauchat mit einem Halbsatz aus dem Roman wirft. Er kann das auch. "Show, don't tell", lehren die Schreibschulen, aber manchmal geht es beim Schreiben auch darum, weder zu zeigen noch zu erzählen - und der Leser versteht trotzdem, was sonst noch geschah, und wenn Sie jetzt mal die Sätze zählen, mit denen ich hier versuche, eine Technik zu erklären, für die man gar keine Sätze braucht, dann verstehen Sie das Genie Wolfgang Herrndorfs.

"Bilder deiner großen Liebe" ist ein unter Spannung stehendes, zerrissenes Buch. Das liegt einerseits an seiner Entstehungsgeschichte, andererseits ist es auch bewusst in den Passagen angelegt, die Herrndorf noch selbst fertigstellen konnte: Den manischen Schüben des Mädchens entspricht die abrupte Struktur des Buchs, die ansetzende, absetzende Erzählung, die hastige, hektische Bewegung von Text und Hauptfigur: Lastwagen, Schiff, Wald, Haus, Hotel, Wohnung, Feld, Auto, Wald, Weltraum. Isa ist unterwegs, deswegen hält sie auch die Begegnung mit Maik nicht lange auf. Sie könnte alles für ihn sein, er ist nur eine Episode für sie. "Fünf von sieben Frauen, in die ich in meinem Leben verliebt war, haben es nicht erfahren", heißt es in den Fragmenten von "Arbeit und Struktur", und man ahnt, das Herrndorf hier diese Lebenserfahrung in eine so gemeine wie schöne literarische Pointe verwandelt haben könnte.

Überhaupt ist das Buch voller Privatwitze. Herrndorf bringt ständig die Namen von Freunden unter, da gibt es Anspielungen auf Filme (wie Käutners "Unter den Brücken" oder "Sieben" von David Fincher) und kleine Rätsel für genaue Leser: In den Schweinetransporter, der Isa mitnimmt (und der von einem Schwein gefahren wird), waren die Jungs in "Tschick" mit ihrem Lada gekracht. In einem Dialog, den Isa zufällig abhört, im Dunklen an der Tankstelle, wo sie Maik und Tschick kennenlernen wird, reden zwei Schemen auf Englisch miteinander, ein Ortsname fällt, "Camden", und das kann kein Zufall sein: Denn Camden heißt das College, an dem Sean Bateman studiert und wo ihn sein Bruder besucht, Patrick, der "American Psycho". Und so wie Bret Easton Ellis seinen Psycho von einem frühen Roman ("The Rules of Attraction") in einen späteren wandern ließ, so tat das auch Mark Twain, den Herrndorf ebenso liebte, mit Huckleberry Finn.

In "Tschick" trägt Isa eine Kiste mit sich herum, und nicht nur die Jungs fragen sich die ganze Zeit, was in ihr steckt. Wolfgang Herrndorf hat da etwas geöffnet und bekommt es nicht mehr zu. Wie wunderbar muss es für einen Schriftsteller sein, das zu erkennen: eine Figur einfach wiederbeleben zu müssen, weil sie noch so viel vor sich haben könnte.

Aber man muss nichts von alledem checken, keine Anspielung, kein Zitat, um zu verstehen, worum es in "Bilder deiner großen Liebe" geht: um Zeitweh. Darum, sich nach einem Moment zurückzusehnen, so wie beim Heimweh nach einem Ort. "Mein Blick war von Anfang an auf die Vergangenheit gerichtet", schreibt Herrndorf in "Arbeit und Struktur", und das tut auch Isa, die sich als Teenager ihre Kindheit zurückwünscht. Zeitweh hat nämlich nichts mit dem Alter zu tun, darüber ist es erhaben, so mächtig ist dieses Gefühl. Und so widersprüchlich: Es macht genauso wehrlos (diese gottverdammte Unwiederbringlichkeit!), wie es tröstet. Und Literatur kann es imitieren.

"Einmal", erinnert sich Isa, "brachte mein Vater ein Zelt mit nach Hause. Es war nicht mein Geburtstag, es war auch nicht Weihnachten. Es war einfach so." Ob das Mädchen auf der Flucht seine Eltern sucht oder sie längst verloren hat, wird nicht recht klar. "Mein Vater hat seinen Arm um mich gelegt, und ich habe meinen Arm um seinen mächtigen Brustkorb gelegt, das war vor fünf oder sechs Jahren."

"Bilder deiner großen Liebe", Wolfgang Herrndorfs letzter Roman: Ein Stich, das ist der Abschied. Und dann Phantomschmerzen, die nicht weggehen, ausgelöst von Büchern, die es nie gab und nie geben wird und die trotzdem fehlen.

TOBIAS RÜTHER.

Wolfgang Herrndorf: "Bilder deiner großen Liebe". Ein unvollendeter Roman. Rowohlt Berlin, 144 Seiten, 16,95 Euro

Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
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«Bilder deiner großen Liebe» gehört schon jetzt in die Reihe jener Werke der Literatur, die den Begriff des Fragments umgewertet haben. Wie Franz Kafkas unvollendete Romane oder Georg Büchners «Woyzeck» haben sie aus dem, was vormals der Name eines Makels war, einer defizitären Form, ein eigenes literarisches Genre begründet. Süddeutsche Zeitung
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Die Macht
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Der Sommer ist da, der Urlaub nah
– endlich Zeit zum Lesen!
Nur was? Für alle, die noch nicht so genau
wissen, welches Buch unbedingt in die
Strandtasche oder in den Reisekoffer gehört:
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„Verrückt sein heißt ja auch nur, dass man verrückt ist, und nicht bescheuert“ - mit dem ersten Satz ist man gleich ganz bei Isa, diesem eigenartigen Mädchen, das der Autor Wolfgang Herrndorf auf eine Abenteuerreise schickt, zu Fuß, per Lkw und Boot. Schließlich trifft sie auf einem Schrottplatz auf Tschick, einen der Helden aus Herrndorfs gleichnamigem Ausnahmeroman. Der Autor starb, bevor er Isas Geschichte zu Ende schreiben konnte, als „unvollendeter Roman“ ist „Bilder deiner großen Liebe“ im Untertitel angekündigt. Natürlich liest man die tragische Geschichte des Autors mit. Doch weil Isa eben verrückt ist und nicht bescheuert, funktioniert sie als ebenso unzuverlässige wie scharfsinnige Erzählerin. Sie unterhält sich problemlos mit einem Taubstummen, und nach wenigen Seiten stört man sich nicht mehr an logischen Brüchen. Die Führung hat Isa übernommen, der man überallhin folgt und gerne noch weiter gefolgt wäre, wenn der Roman nicht zu schnell an sein gar nicht so unvollendetes Ende gelangen würde.

 DAVID PFEIFER

    
    
Wolfgang Herrndorf: Bilder deiner
großen Liebe. Ein
unvollendeter Roman.
Rowohlt Verlag,
Reinbek 2014.
144 Seiten, 16,95 Euro.
E-Book 14,99 Euro.

ILLUSTRATION: STEPHANIE WUNDERLICH

DIZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.sz-content.de

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Der Tag geht in der Stille des Mittags vor Anker

Auch wenn der Tod allgegenwärtig ist: "Bilder deiner großen Liebe", Wolfgang Herrndorfs letzter Roman, ist alles andere als unvollendet.

Von Michael Lentz

Und mein Problem war eben, dass ich langsam wieder verrückt wurde." Mit nichts am Leib als einem weißen T-Shirt und einer "Hose mit Camouflage-Muster", mit zwei Tabletten und ihrem Tagebuch ist Isa aus der Anstalt getürmt. Jedenfalls sagt sie das. Wem sagt sie das? Sich, ihrem Tagebuch und schließlich "einem Blonden und einem Russen", die der Leser bereits aus "Tschick" kennt.

Auf 33 Stationen erzählt Isa vom Ausbruch aus der Anstalt, den Fährnissen des Übernachtens im Wald und unter freiem Himmel, von Erinnerungen an Vater, Mutter und Großvater, an die Kindheit und Schulzeit, sie erzählt vom Besuch eines Friedhofs, von einigen Zwischenfällen bei Begegnungen mit einer Fußballmannschaft, die ihr beim Pinkeln auf den Rasen zusieht, von einem Jungen, dem Isa einen Eimer mit Fröschen wegnimmt und den sie an seinen eigenen Tod gemahnt ("Wie die Frösche stirbst du!"). Gleich fünf wunderbare Kapitel widmet der Roman Isas Begegnung mit dem Schiffskapitän Max Hiller, der sie auf seiner Kanalfahrt mitnimmt, ihr den Unterschied zwischen Gleiter und Verdränger erklärt und ihr die Durchschussnarben seines Bizeps zeigt, die von einem Bankraub herrühren sollen, von dem er aber "nicht eine müde Mark" gehabt habe. Seemannsgarn?

Großes Imaginationspotential besitzt auch das auf der schmalen Grenze zwischen Fiktion und Irrealität balancierende Gespräch zwischen Isa und dem taubstummen Kind Olaf, mit dem sie anspielungsreich und gebildet über mathematische Beweise und die wahre Treue eines Hundes parliert, der, in Spanien vergessen, zu Fuß nach Dortmund läuft und dort ohne Beine ankommt; oder Isas Selbstporträt als "Titularkönigin von Kastilien und León" vom Planeten Trastámara einem Mann gegenüber, der ihr ein halbes Baguette schenkt - womit sie historisch-dynastische Kennerschaft verrät.

Aber auch im Hier und Jetzt ist Isa zu Hause. Sensiblen Realitätssinn kennzeichnen zwei im Trinker- und Trampermilieu spielende Kapitel, die Wolfgang Herrndorf als einen Empiriker mit Spürsinn für soziale und psychische Nöte und Gefahren ausweisen. Und wenn Isa einem leibhaftigen Schriftsteller begegnet, dem sie eigentlich für fünf Euro den Rasen mähen möchte, ihn aber stattdessen in ein Gespräch über die Qualität von Literatur verwickelt, wirkt das Gegengift der Ironie, das den Grundton der Melancholie und Verzweiflung des Romans abmildert.

In den komplementären Romanen "Tschick" und "Bilder deiner großen Liebe" findet man eine Reihe von Parallelfiguren und textlichen Konkordanzen, insbesondere in der Episode von Maik, Tschick und Isa, die in "Tschick" nur "das Mädchen" heißt. So erzählt Isa ihre eigene Version der Mülldeponie-Begegnung mit den durchgebrannten Freunden Maik Klingenberg und Andrej Tschichatschow, sie erzählt, dass sie mit einem Schlauch Benzin aus einem geparkten Auto zapft, was Maik und Tschick nämlich nicht schaffen, und wie sich zwischen ihr und Maik eine Liebesgeschichte anbahnt - es wird bei der Anbahnung bleiben.

Die Kunstfigur Isa ist ein Hybrid aus staunender Vereinfältigung, enzyklopädischer Belesenheit und leidgeprüfter Alltagsschläue. Dem Diskurs des Verrücktseins setzt sie einen sprachmagischen Realismus entgegen. Ihr mythopoetisch-naives Denken verleiht ihr kosmische Kräfte. So kann sie zum Beispiel durch bloße Berührung mit dem Daumen die Sonne auf ihrer Wanderschaft und somit auch die Zeit zum Stillstand bringen. Das ist kindliches Sehen und Melancholie zugleich.

Isas Sprache ist ein Hybrid aus Mündlichkeit, Soziolekt ("Für wer sich das nicht vorstellen kann") und stilistischer Elaboriertheit, es finden sich terminologische Begriffe aus der Astronomie, Botanik, Meteorologie, Nautik, Physik und Waffenkunde oder zum Beispiel verquere Anspielungen auf Werke der Literatur. Isa entpuppt sich als Wanderin auch zwischen sprachlichen Welten, sie ist zu schlichten Statements ("Das war schön") genauso fähig wie zu eigenwilliger Metaphorik ("Meisenknödelblick") und atmosphärisch aufgeladenen Formulierungen, die in ihrer poetischen Dinglichkeit verblüffen: "In meinem Inneren wüten eiserne Zangen"; "der Tag geht in der Stille und Hitze des Mittags vor Anker";"Der letzte Sturm hat schlammiges Gras über den Tragegurt gekämmt". Als Agenda, Wörter- und Notizensammlung ist Isas Tagebuch partiell im Roman verarbeitet worden oder roh in diesen eingegangen. Da finden sich Listen mit Stichworten heterogener Kontexte ("Kanakenfreund / Debilo / Insasse // Himbeermarmelade kaufen & / Brot & Butter & ein Messer / Anosognosie/ du süße kleine Fickmaus"), aber auch thematisch geordnete Aufstellungen wie etwa eine Typologie unterschiedlicher Blattformen ("gelappt / gesägt / gekerbt / . . . zerhackt und benadelt"). "Bilder deiner großen Liebe" erscheint somit selbst als Gattungsmix aus Roman und Tagebuch - ein schöner Kunstgriff.

Einen Hinweis auf Isas Alter gibt die Beschreibung eines Kriegerdenkmals und der Besuch des gegenüberliegenden Friedhofs. "Erich Camphausen" und "Daniel Franz" ("1918-1943?") sind beide im Alter von fünfundzwanzig Jahren gefallen. So jung hätte jeder von ihnen ihr "älterer Bruder sein können". Isas Nennung der Realnamen und Lebensdaten von Soldaten beider Weltkriege ist ein Akt des Totengedenkens. Wenn Daniel Franz ihr zufolge "jetzt" zweiundneunzig Jahre alt wäre, gibt dies auch Auskunft über die Entstehungszeit des Kapitels. Die Synchronisierung von Biographien ist ein weiteres Signal der Ankündigung ihres eigenen Todes und führt zu logisch und existentiell paradoxen Doppelbindungen: "Was macht es für einen Unterschied, vor siebzig Jahren gestorben zu sein oder vor siebzig Sekunden? Keinen. Die fünf Minuten sind längst vorbei. Aber dass es da keinen Unterschied gibt, kommt mir seltsam vor. Obwohl es so ist. Außer die Zeit macht einen Unterschied. Aber das stimmt nicht, denke ich, und ich denke, dass das falsch ist, was ich denke, und dann denke ich, es ist richtig, und dann denke ich, dass mein Denken falsch ist und immer falsch gewesen ist, und ich schreie."

Wenn dann noch ein Mann mit einer grünen Trainingsjacke "wie aus dem Boden" neben ihr auftaucht, schließt sich der Kreis der Selbstanrufung. Die grüne Trainingsjacke war ein Markenzeichen von Wolfgang Herrndorf. Wie Alfred Hitchcock in seinen Filmen hat der Autor in seinem eigenen Buch einen Cameo-Auftritt. Sein Auftauchen "wie aus dem Boden" gibt nicht nur der irrealen Plötzlichkeit Ausdruck, sondern zeichnet den Autor auch als Alter Ego der Erzählerin.

Auf ihren Streifzügen durch Landschaft und Erinnerung sieht Isa ein Haus, das ihre Phantasie entzündet und als "Gut Hohenbuchen" ihres Urgroßvaters zur Kulisse eines idyllisch-melancholischen Romans im Roman wird: "Ich stelle mir vor, wie mein Leben jetzt weitergehen würde, wenn es nicht mein Leben wäre, sondern ein Roman." Dann würde sie in diesem Haus die Heimkehr ihres Geliebten Daniel Franz und seines Freundes Erich Camphausen von ihrem Einsatz in Afghanistan erhoffen, "der Romanautor" würde die Gelegenheit nutzen, "noch einmal schnell mein Leben vor den Augen des Lesers vorbeiziehen und dabei meinen Charakter in allen Facetten leuchten zu lassen, so in der Art wie Bilder auf einem Kalender". Genau das tut Herrndorf, indem er Isa als Stellvertreterfigur selbst die Bilder auf einem 33 Stationen umfassenden Kalender erzählen lässt.

Solche metafiktionalen Einschübe und Kommentare und die Integration von Tagebucheinträgen, Träumen und Notizen kennzeichnen "Bilder deiner großen Liebe" zugleich als Roman und Roman des Romans, Story/Plot und Making-of. Isas Träumen kommt hierbei eine besondere Funktion zu. Sie spiegeln das Leben als eine einzige mise en abyme: als geträumter Schlaf im Schlaf beziehungsweise Traum im Traum.

Der Tod ist allgegenwärtig in "Bilder deiner großen Liebe". Er kündigt sich an im philosophischen Räsonieren eines Bauführers über Zeit und Leben; in der Figur der im Sterben liegenden Mutter eines Schriftstellers und nicht zuletzt in einem Monolog über verschiedene Arten des Suizids: "Ich denke darüber nach, habe mein ganzes Leben darüber nachgedacht, wie ich mich umbringen würde, wenn ich mich umbringen würde." Nachdem Isa das Schiff von Max Hiller wieder verlassen hat, findet sie am Kanal eine Computertasche, deren auf der Rückseite angebrachter Klarsichthülle sie einen Zettel entnimmt: "Rufen Sie die Polizei! Ich habe mich umgebracht." Im Wald entdeckt sie später den toten Förster Wilhelm Otto, quer über einem Rehbock-Kadaver ohne Augen liegend. Ihn hat wohl der Schlag getroffen, mutmaßt Isa. Seine Heckler & Koch nimmt sie mit.

Wolfgang Herrndorf konnte sein letztes Buch nicht mehr zu Ende schreiben, seine fortschreitende Krankheit ließ dies nicht zu. Ist es deswegen ein "unvollendeter Roman"? Als Fragment weist diesen Roman nur seine Entstehungsgeschichte aus, wie sie von seinen Herausgebern Marcus Gärtner und Kathrin Passig in ihrem so sachdienlichen wie würdigen Nachwort skizziert worden ist. Ihre mit dem Autor abgesprochene Aufgabe bezeichnen die Herausgeber als Redigieren, Streichen und Anordnen mit dem Ziel, dass am Ende "ein zusammenhängender Text dastehen" sollte, "der vorhandene Lücken aber nicht verbirgt". "Bilder deiner großen Liebe" ist ein komplex gearbeiteter Roman, dem es an nichts fehlt, ein pikaresker Episodenroman, eine Abschiedsodyssee mit einem weiblichen Taugenichts als Ich-Erzählerin, die im letzten Bild sprichwörtlich am Abgrund steht.

Im Unterschied zu "Tschick", dessen Ich-Erzähler Maik Klingenberg im Präteritum erzählt, ist "Bilder deiner großen Liebe" ein Präsensroman. Das bezeugt zum einen seine Gegenwartsemphase, zum anderen wird im Vollzug des Voranschreibens Dokumentation und Faktizität signalisiert, indem der Roman eine Gleichzeitigkeit von Erleben und Erzählen imaginiert. Das hat den Sinn und die Funktion, prospektiv in einem Ende kulminieren zu können, das vielleicht nicht anders dargestellt werden kann als in einem paradoxalen Chiasmus: als Anfang im Ende und Ende im Anfang: "Ich halte die Waffe genau senkrecht hoch und sehe mit offenem Mund der Kugel hinterher, sehe sie steigen, sehe sie immer kleiner und kleiner und fast unsichtbar werden im tiefdunklen blauen Himmel, bevor sie sich aus dem Verschwundensein wieder materialisiert und zu fallen beginnt, millimetergenau zurück in den Lauf der Waffe."

Was für ein großartiges Schlussbild! Der Lauf der Kugel als Lebenslauf, als philosophisch und theologisch ausdeutbares Sinnbild der Körper-Geist-Frage. "Bilder deiner großen Liebe" ist ein großes Märchen des Imaginären, eine Parabel des Versuchs, mit dem Denken über das Denken und im Angesicht des Todes mit dem Leben über das Leben hinauszukommen. Wer weiß, vielleicht hat Isa ihre Flucht aus Fenster und Tor der Anstalt mitsamt den vielen Stationen ihres Unterwegsseins zu sich selbst nur imaginiert - getreu ihrem eigenen Aphorismus: "Steigt man aus dem Fenster, gelangt man in einen Raum wie in seinem eigenen Innern." Eine große Geschichtenerzählerin ist sie ja. Und kann als Clou des Romans nicht die Konstruktion gedacht werden, dass die Bewusstseins-"Bilder deiner großen Liebe" sich zwischen dem in Zeitlupe erfassten Austreten der Kugel und ihrem Wiedereintreten in den Lauf der Waffe ereignen? So wie sich in Ambrose Bierces Geschichte "An Occurence at Owl Creek Bridge" die Errettung eines Soldaten vor dem Tod durch Erhängen nur in seiner Phantasie in der Zeitspanne zwischen dem Sturz von der Brücke und seinem eintretenden Tod ereignet.

Wolfgang Herrndorf hat sich selbst ein Totenbuch geschrieben. Kontemplativ Erhabenes grundiert jede Bewegung und jeden Gedanken des Romans, der den Versuch der Darstellung des Undarstellbaren, des langsamen Verlöschens der Erinnerung und des sich selbst Entschwindens in unvergessliche Bilder fasst: "Und weiter durch die Nacht, weiter durch den Sarg aus Sternen, mich schwindelt, ich falle, der Körper fällt durch bodenlosen Nebel, ich schlafe."

Wolfgang Herrndorf: "Bilder deiner großen Liebe". Ein unvollendeter Roman.

Rowohlt Berlin Verlag, Berlin 2014. 142 S., geb., 16,95 [Euro].

Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
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