Über viele Jahre hinweg sammelte Harry Walter auf Trödelmärkten, Nachlässen und Dachböden Photographien, «Fundstücke aus vergangenen privaten Welten», bei denen nicht mehr bekannt ist, wer und was gezeigt wird. «Reißt der Erzählfaden ab, sagt also niemand mehr, das ist der, die oder das, verlieren die meisten Photos auf einen Schlag ihren Inhalt - oder aber sie entwickeln, nachdem der biographische Dampf abgelassen ist, ein Eigenleben und füllen sich auf mit allem, was die Neugier an sie heranträgt. Dann fangen sie an zu knistern und irgendwie von sich selber zu handeln.» Diesen hinterlassenen Lichtspuren folgt Walter in 24 Vignetten, die mit schelmischem Witz, Scharfsinn und mühelosemStil ein historisches Kaleidoskop für uns öffnen. Er verknüpft Assoziationen und Reflexionen, tastet sich mitunter auf doppelbödiges und unheimliches Terrain. Lassen die Photominiaturen in ihrem Sprachwitz und ihrer Prägnanz eine leichte und zugängliche Lektüre zu, so sind in ihnen zugleich komplexeund überraschende Bildinterpretationen verdichtet, die zu eigenen Denkbildern werden.Erstmals versammelt der Band alle im Merkur erschienenen Photoessays von Harry Walter, über deren Resonanz der Merkur-Herausgeber und Kunstkritiker Christian Demand in seinem Nachwort schreibt: «Harry Walters Photominiaturen erschienen ursprünglich jede für sich und zugleich fest einfügt in die Heftarchitektur des Merkur. Über zwei Jahrgänge hinweg markierten sie als Schlusskolumne der Zeitschrift jeden Monat das Ende eines anspruchsvollen Lektüreparcours [...]. Die Rückmeldungen, die die Redaktion damals in ungewohnt hoher Zahl erreichten, legen nahe, dass nicht wenige Leserinnen und Leser das Signal genau umgekehrt verstanden: Sie stürzten sich gleich als erstes auf Harrys Kolumne. Und auch ich habe die neuen Ausgaben, sobald sie frisch aus der Druckerei in der Redaktion angekommen waren, seinerzeit regelmäßig von hinten nach vorn durchblättert.»
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 07.07.2023Die Nachwelt ist keine genaue Adresse
Im Gespinst der Assoziationen und Geschichten: Harry Walter demonstriert in seinen Essays über Fotofundstücke virtuose Beschreibungskunst.
Im Jahr 1977 veröffentlichten die beiden amerikanischen Künstler Larry Sultan und Mike Mandel eine Serie von Schwarz-Weiß-Fotografien, die sie in Archiven verschiedener Institute, Behörden und Firmen der Vereinigten Staaten zusammengetragen hatten - Institutionen wie dem California Institute of Technology, der Polizeibehörde von Pasadena, dem physikalischen Labor der Stanford University oder der Feuerwehr von Los Angeles. Ohne den Fotos etwas hinzuzufügen, ohne Bildunterschrift, Datierung oder Angabe des Herkunftsorts reproduzierten Mandel und Sullivan ihre Fundstücke in einem Bildband. Angesichts der Rätselhaftigkeit der isolierten Bilder konnte der Titel des Buchs - "Evidence" - nur als Hohn auf das Ideal sich selbst erklärender Bilder erscheinen: Ohne ihren ursprünglichen Kontext, der sie wie ein Kokon der Normalität umgab, trieben die Fotos als heimatlos gewordene Inseln umher und bekamen einen Zug ins Surreale.
Die "Anziehungskraft dahinschwindender Inhalte" macht sich auch der Künstler, Essayist und Kurator Harry Walter in seinem Essayband "Bilder knistern" zunutze. Im Unterschied zu Mandel und Sullivan reichert Walter die Fotos jedoch mit einer Fülle von Assoziationen, Spekulationen und Geschichten an. Zumeist handelt es sich um Schwarz-Weiß-Bilder, die er auf Flohmärkten gefunden oder in Online-Auktionshäusern erworben hat, der überwiegende Teil stammt aus den Dreißiger,- Vierziger- und Fünfzigerjahren. Zu den wiederkehrenden Motiven gehören Familienfeste, Freizeitaktivitäten oder das stolze Präsentieren von Konsumartikeln. Da die Personen und ihre Handlungen mit fotografischer Exaktheit zu erkennen sind, sich zugleich aber nicht identifizieren lassen, siedeln sich in den Leerstellen der Bilder allerlei Gespinste der Einbildungskraft an. Nachdem "der biographische Dampf abgelassen ist", so Walter, "füllen die Bilder sich auf mit allem, was die Neugier an sie heranträgt. Dann fangen sie an zu knistern."
Der Reiz der Lektüre beruht auf der virtuosen Beschreibungskunst des Autors, seiner Aufmerksamkeit für Nuancen und Details. So beschreibt er die Verlorenheit eines Jungen, den man in den Wirtschaftswunderjahren vor einer imposanten Modelleisenbahnlandschaft postiert hat, der sich über das vom Vater für ihn vorfabrizierte Glück jedoch nicht recht freuen kann. Eine versehentliche Doppelbelichtung überblendet ein Familienfest im Gasthaus mit den anschließenden Putz- und Aufräumarbeiten am gleichen Ort: Der fototechnische Unfall wird zum surrealen Szenario, wie man es sonst nur aus den aberwitzigen Zeit- und Ortswechseln des Traums kennt. Immer wieder lauern in den scheinbaren Idyllen der häuslichen Gemütlichkeit die Schrecken des zwanzigsten Jahrhunderts. Im gleißend hellen Licht eines Weihnachtsbaums, um den Vater, Mutter und Sohn sich versammeln, erkennt Walter schon die bald darauf an Fallschirmen zu Boden gleitenden Magnesiumbomben, von der deutschen Bevölkerung auch "Christbäume" genannt.
"Fotos", so der Autor, "werden gemacht, um einen Augenblick für die Nachwelt festzuhalten. Die Nachwelt ist jedoch keine genaue Adresse." Daraus ergibt sich die besondere Zeitlichkeit des Fotos. Die Dargestellten blicken in das Objektiv der Kamera wie in eine unbestimmte Zukunft. Wer wird das Bild später einmal anschauen? Der Betrachter von heute aber weiß, was den Porträtierten noch bevorsteht. Immer wieder spürt Walter diesen palimpsesthaft einander überlagernden Zeitschichten nach. Eines der Fotos aus den Zwanzigerjahren zeigt eine ausgelassene Badegesellschaft am Ostseestrand, deren Mitglieder sich an Bekundungen guter Laune gegenseitig übertreffen. Hinter der aufgetürmten Gruppe erscheint ein Strandwärter auf seinem Hochsitz, der den Blick aufs offene Meer wie in die ferne Zukunft gleiten lässt. Dort werden später die Sehrohre russischer U-Boote auftauchen, noch später überfüllte Fischkutter mit Flüchtlingen. Auf einmal ist das Foto in der Gegenwart angekommen. "Hätte das Bild einen Stöpsel, könnte man mit dem Wasser auch den Grund der ganzen Fröhlichkeit aus ihm ablassen." Walter nennt seine kurzen Essays einmal sehr treffend "Suppenwürfeltexte" - eine hochkonzentrierte Kost, die mit ihrer Verflüssigung durch den Geist des Lesers rechnet. Alle, die diesen Autor noch nicht kennen, haben eine besondere Leseerfahrung vor sich. PETER GEIMER
Harry Walter: "Bilder knistern".
Schlaufen Verlag, Berlin 2022. 204 S., Abb., 22,50 Euro.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Im Gespinst der Assoziationen und Geschichten: Harry Walter demonstriert in seinen Essays über Fotofundstücke virtuose Beschreibungskunst.
Im Jahr 1977 veröffentlichten die beiden amerikanischen Künstler Larry Sultan und Mike Mandel eine Serie von Schwarz-Weiß-Fotografien, die sie in Archiven verschiedener Institute, Behörden und Firmen der Vereinigten Staaten zusammengetragen hatten - Institutionen wie dem California Institute of Technology, der Polizeibehörde von Pasadena, dem physikalischen Labor der Stanford University oder der Feuerwehr von Los Angeles. Ohne den Fotos etwas hinzuzufügen, ohne Bildunterschrift, Datierung oder Angabe des Herkunftsorts reproduzierten Mandel und Sullivan ihre Fundstücke in einem Bildband. Angesichts der Rätselhaftigkeit der isolierten Bilder konnte der Titel des Buchs - "Evidence" - nur als Hohn auf das Ideal sich selbst erklärender Bilder erscheinen: Ohne ihren ursprünglichen Kontext, der sie wie ein Kokon der Normalität umgab, trieben die Fotos als heimatlos gewordene Inseln umher und bekamen einen Zug ins Surreale.
Die "Anziehungskraft dahinschwindender Inhalte" macht sich auch der Künstler, Essayist und Kurator Harry Walter in seinem Essayband "Bilder knistern" zunutze. Im Unterschied zu Mandel und Sullivan reichert Walter die Fotos jedoch mit einer Fülle von Assoziationen, Spekulationen und Geschichten an. Zumeist handelt es sich um Schwarz-Weiß-Bilder, die er auf Flohmärkten gefunden oder in Online-Auktionshäusern erworben hat, der überwiegende Teil stammt aus den Dreißiger,- Vierziger- und Fünfzigerjahren. Zu den wiederkehrenden Motiven gehören Familienfeste, Freizeitaktivitäten oder das stolze Präsentieren von Konsumartikeln. Da die Personen und ihre Handlungen mit fotografischer Exaktheit zu erkennen sind, sich zugleich aber nicht identifizieren lassen, siedeln sich in den Leerstellen der Bilder allerlei Gespinste der Einbildungskraft an. Nachdem "der biographische Dampf abgelassen ist", so Walter, "füllen die Bilder sich auf mit allem, was die Neugier an sie heranträgt. Dann fangen sie an zu knistern."
Der Reiz der Lektüre beruht auf der virtuosen Beschreibungskunst des Autors, seiner Aufmerksamkeit für Nuancen und Details. So beschreibt er die Verlorenheit eines Jungen, den man in den Wirtschaftswunderjahren vor einer imposanten Modelleisenbahnlandschaft postiert hat, der sich über das vom Vater für ihn vorfabrizierte Glück jedoch nicht recht freuen kann. Eine versehentliche Doppelbelichtung überblendet ein Familienfest im Gasthaus mit den anschließenden Putz- und Aufräumarbeiten am gleichen Ort: Der fototechnische Unfall wird zum surrealen Szenario, wie man es sonst nur aus den aberwitzigen Zeit- und Ortswechseln des Traums kennt. Immer wieder lauern in den scheinbaren Idyllen der häuslichen Gemütlichkeit die Schrecken des zwanzigsten Jahrhunderts. Im gleißend hellen Licht eines Weihnachtsbaums, um den Vater, Mutter und Sohn sich versammeln, erkennt Walter schon die bald darauf an Fallschirmen zu Boden gleitenden Magnesiumbomben, von der deutschen Bevölkerung auch "Christbäume" genannt.
"Fotos", so der Autor, "werden gemacht, um einen Augenblick für die Nachwelt festzuhalten. Die Nachwelt ist jedoch keine genaue Adresse." Daraus ergibt sich die besondere Zeitlichkeit des Fotos. Die Dargestellten blicken in das Objektiv der Kamera wie in eine unbestimmte Zukunft. Wer wird das Bild später einmal anschauen? Der Betrachter von heute aber weiß, was den Porträtierten noch bevorsteht. Immer wieder spürt Walter diesen palimpsesthaft einander überlagernden Zeitschichten nach. Eines der Fotos aus den Zwanzigerjahren zeigt eine ausgelassene Badegesellschaft am Ostseestrand, deren Mitglieder sich an Bekundungen guter Laune gegenseitig übertreffen. Hinter der aufgetürmten Gruppe erscheint ein Strandwärter auf seinem Hochsitz, der den Blick aufs offene Meer wie in die ferne Zukunft gleiten lässt. Dort werden später die Sehrohre russischer U-Boote auftauchen, noch später überfüllte Fischkutter mit Flüchtlingen. Auf einmal ist das Foto in der Gegenwart angekommen. "Hätte das Bild einen Stöpsel, könnte man mit dem Wasser auch den Grund der ganzen Fröhlichkeit aus ihm ablassen." Walter nennt seine kurzen Essays einmal sehr treffend "Suppenwürfeltexte" - eine hochkonzentrierte Kost, die mit ihrer Verflüssigung durch den Geist des Lesers rechnet. Alle, die diesen Autor noch nicht kennen, haben eine besondere Leseerfahrung vor sich. PETER GEIMER
Harry Walter: "Bilder knistern".
Schlaufen Verlag, Berlin 2022. 204 S., Abb., 22,50 Euro.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
Der hier rezensierende Kunsthistoriker Peter Geimer empfiehlt die Fotos aus dem Sammlerarchiv des Kurators Harry Walter und Walters dichte Begleittexte, die ihm die Zeitlichkeit der Aufnahmen vor Augen führen und den Umstand, dass die Alltagsfotos aus den 1930er bis 50er Jahren teilweise auf überraschende Weise in der Gegenwart ankommen, etwa wenn der Betrachter auf einem Bild mit Badenden am Ostseestrand russische U-Boote und Flüchtlingskähne hinzuimaginiert. Die Beschreibungskunst des Autors und die Fantasie des Betrachters ergeben so laut Geimer eine erstaunliche Schau- und Lektüreerfahrung.
© Perlentaucher Medien GmbH
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