Wie wird man ein gebildeter Mensch? Bildung ist mehr als Information und Wissen, sie verspricht Orientierung und Dauerhaftigkeit: das, was wirklich Bestand hat und lohnt. Jan Roß zeigt, wie man zu dieser scheinbar schwierigen und verschlossenen Welt Zugang findet. Es gibt keinen Grund, sich von der Tradition einschüchtern zu lassen. Bildung, so Roß, heißt letztlich etwas sehr Einfaches - dass wir nicht allein sind beim Versuch, das Leben zu meistern und die Welt zu verstehen. Wie man dieser Gemeinschaft beitritt und wie man in ihr heimisch wird - davon handelt sein Buch. Es begleitet die Leserin und den Leser auf die Akropolis und nach Rom, zu Shakespeare, Kant und Dostojewski, aber auch zu Wissenschaftlern wie Darwin oder Revolutionären wie Rosa Luxemburg. Bildung bedeutet, das magische Losungswort zu kennen, mit dem wir das Menschheitserbe der Dichter, Denker und Künstler zum Sprechen bringen und zu Hilfe rufen können. Wer die Zauberformel lernen möchte, für den ist dieses Buch geschrieben.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 25.04.2020Don Juan kennen doch wohl alle
Zwei Bücher nehmen das Thema Bildung aus ganz unterschiedlichen Perspektiven in den Blick
Bildung ist dynamisch. Mit dem Wandel der Gesellschaft ändert sich nicht nur das Denken über Bildung, sondern auch die Praxis in ihren Institutionen. Über alle Veränderungen hinweg bleibt sie ein Thema, das alle angeht, weil jeder zur Schule gegangen ist und fast jeder eine Meinung dazu hat. Insofern gibt es eigentlich immer Anlass, Bücher über Bildung zu schreiben - sogar dann, wenn man seit Jahrzehnten an seinen Positionen festhält, weil auch das in veränderten Strukturen zu neuen Erkenntnissen führen kann.
Eine Anleitung zur Bildung wollte der Journalist und Autor Jan Roß schreiben. Er will die Haltung des Bewunderns rehabilitieren und beschreibt Bildung als "Glückserlebnisse", die nicht mit Mühe, Pflicht und Anstrengung verknüpft sind. Das veranschaulicht gleich am Anfang ein umfassendes Bildungsverständnis, das heute selten geworden ist. Doch es birgt zugleich die Gefahr, darüber nicht hinauszukommen.
In die Falle, die ewig gleichen Bildungskämpfe zu führen, tappt Roß zwar nicht. Er wolle weder für das Gymnasium noch für die Gesamtschule werben, er sei kein Bildungspolitiker und kein Didaktikexperte, wende sich gegen Kulturpessimismus und gegen die "Abendländerei". Aber natürlich hat auch Roß eigene Präferenzen, die den Text nicht nur strukturieren, sondern seinen Blickwinkel mitunter verengen.
Was zur Bildung zählt, ist unerschöpflich, und so wählt Roß aus, was ihm gefällt: die alten Griechen und die Bibel, Musik, Kunst, Philosophie, dazu Reflexionen über den Sinn des Lesens und über Ängste und Hürden vor der Bildung. Nun ist es nicht so, dass seine Ideen nichts taugten. Der Text verliert aber durch die bildungsbeflissene Plauderei, in die der Autor immer wieder verfällt. Er bemüht sich zwar, Bildung auch den Ungebildeten schmackhaft zu machen, etwa wenn er Tipps gibt, wo man in der unendlichen Flut an Büchern und Informationen einsteigen kann, um sich zu bilden - nämlich praktisch überall, auch im "scheinbar Trivialen". Aber er ist für die Subjektivität seiner eigenen Lebensrealität blind. Jeder könne Begriffe und Namen wie den Ödipuskomplex, die "unsichtbare Hand des Marktes", Don Juan, Don Quichotte und "kafkaesk" einordnen, glaubt Roß. Jeder?
Ähnlich realitätsfremd lesen sich Rückschlüsse wie diese: Wer einen zeitgenössischen Horrorfilm versteht, sei auch E. T. A. Hoffmann oder Edgar Allan Poe gewachsen. Ohnedies seien selbst Autoren wie Tolstoi oder Dostojewski "vollkommen laienkompatibel". Solche Aussagen zeugen von einem Unverständnis gegenüber einer gesellschaftlichen Wirklichkeit, in der das Interesse an Bildung keine Selbstverständlichkeit ist und auch nicht dadurch hervorgerufen werden kann, dass man es als "laienkompatibel" erachtet. So gesehen, ist das Buch auch keine Anleitung, wie es der Untertitel verspricht. Es ist vielmehr für diejenigen geschrieben, die sich in der Welt des Autors bewegen - aber selbst die könnten sich daran stören, dass der Autor aus seinem Habitus nicht herauskommt.
Der Text wird auch nicht besser durch die vielen privaten Anekdoten, in denen Roß sich immer wieder verliert. Dass er von Kindesbeinen an bildungshungrig war und sich mit seiner Frau über Bildungsthemen austauscht, ist schön für ihn - aber wozu muss der Leser das wissen? Der Gipfel ist erreicht, wenn der Autor schreibt, dialogisches Denken sei "im Hause Roß Ehe-Code". Da möchte man das Buch lieber zuklappen.
Einen ganz anderen Zugriff auf das Thema Bildung wählt der Erziehungswissenschaftler Aladin El-Mafaalani, der das größte Problem des Bildungssystems in seiner sozialen Ungerechtigkeit sieht. Zwar würden dort ungleiche Chancen nicht primär produziert; indem die Bildungsinstitutionen aber Ungleiches gleich behandelten, reproduzierten und legitimierten sie gesellschaftliche Ungleichheit. Dagegen habe auch die Bildungsexpansion nichts ausrichten können, die zwar immer mehr Menschen Bildungsabschlüsse beschert, den Abstand zwischen den Schichten aber nicht verringert habe. Die ohnehin Benachteiligten würden noch mehr benachteiligt, weil niedrige Abschlüsse nichts mehr zählten, obwohl das Bildungsniveau insgesamt gestiegen sei.
Es ist die übliche Geschichte vom Teufelskreis sozialer Benachteiligung, die hier erzählt wird: Bildungsferne Lebensbedingungen erzeugten geringere Bildungschancen, die wiederum zu schlechteren Lebenschancen führten. Die soziale Herkunft präge Bildungswege, die "Selektionswut" des mehrgliedrigen Schulsystems verfestigt für El-Mafaalani soziale Ungleichheit. In der Gemeinschaftsschule sieht er ein Heilmittel dagegen. Außen vor bleibt in seiner Sozialkritik, dass nicht jede Realschulempfehlung Ausdruck sozialer Benachteiligung ist, sondern mit unterschiedlichen Fähigkeiten der Schüler zusammenhängt - die wiederum nicht bloß das Ergebnis ihrer Sozialisation sind. Es gibt unverkennbar eine soziale Schere; und trotzdem ist das deutsche Bildungssystem ausgesprochen durchlässig und ermöglicht einen Bildungsaufstieg auch dann, wenn man aus unteren Schichten kommt. Soziale Gleichheit bedeutet ja nicht, dass alle gleich gut sein müssen.
Wie es um die Benachteiligung der Leistungsstarken steht, etwa wenn sie jahrelang in der Gemeinschaftsschule ausharren müssen, Lernschwächeren helfen sollen, selbst aber nicht gefordert und gefördert werden, erfährt man von El-Mafaalani nicht. Stattdessen hat der Autor eine Vorliebe für den von der Bildungsforschung bis zum Ermüden gebrauchten Begriff "Kompetenz", der hier wie dort mit Inhaltsleere einhergeht. Die Auflösung des Bildungsmythos befördert das sicher nicht.
HANNAH BETHKE
Jan Roß: "Bildung". Eine Anleitung.
Rowohlt Berlin Verlag, Berlin 2020. 320 S., geb., 22,- [Euro].
Aladin El-Mafaalani: "Mythos Bildung". Die ungerechte Gesellschaft, ihr Bildungssystem und seine Zukunft.
Kiepenheuer & Witsch, Köln 2020. 320 S., geb., 20,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Zwei Bücher nehmen das Thema Bildung aus ganz unterschiedlichen Perspektiven in den Blick
Bildung ist dynamisch. Mit dem Wandel der Gesellschaft ändert sich nicht nur das Denken über Bildung, sondern auch die Praxis in ihren Institutionen. Über alle Veränderungen hinweg bleibt sie ein Thema, das alle angeht, weil jeder zur Schule gegangen ist und fast jeder eine Meinung dazu hat. Insofern gibt es eigentlich immer Anlass, Bücher über Bildung zu schreiben - sogar dann, wenn man seit Jahrzehnten an seinen Positionen festhält, weil auch das in veränderten Strukturen zu neuen Erkenntnissen führen kann.
Eine Anleitung zur Bildung wollte der Journalist und Autor Jan Roß schreiben. Er will die Haltung des Bewunderns rehabilitieren und beschreibt Bildung als "Glückserlebnisse", die nicht mit Mühe, Pflicht und Anstrengung verknüpft sind. Das veranschaulicht gleich am Anfang ein umfassendes Bildungsverständnis, das heute selten geworden ist. Doch es birgt zugleich die Gefahr, darüber nicht hinauszukommen.
In die Falle, die ewig gleichen Bildungskämpfe zu führen, tappt Roß zwar nicht. Er wolle weder für das Gymnasium noch für die Gesamtschule werben, er sei kein Bildungspolitiker und kein Didaktikexperte, wende sich gegen Kulturpessimismus und gegen die "Abendländerei". Aber natürlich hat auch Roß eigene Präferenzen, die den Text nicht nur strukturieren, sondern seinen Blickwinkel mitunter verengen.
Was zur Bildung zählt, ist unerschöpflich, und so wählt Roß aus, was ihm gefällt: die alten Griechen und die Bibel, Musik, Kunst, Philosophie, dazu Reflexionen über den Sinn des Lesens und über Ängste und Hürden vor der Bildung. Nun ist es nicht so, dass seine Ideen nichts taugten. Der Text verliert aber durch die bildungsbeflissene Plauderei, in die der Autor immer wieder verfällt. Er bemüht sich zwar, Bildung auch den Ungebildeten schmackhaft zu machen, etwa wenn er Tipps gibt, wo man in der unendlichen Flut an Büchern und Informationen einsteigen kann, um sich zu bilden - nämlich praktisch überall, auch im "scheinbar Trivialen". Aber er ist für die Subjektivität seiner eigenen Lebensrealität blind. Jeder könne Begriffe und Namen wie den Ödipuskomplex, die "unsichtbare Hand des Marktes", Don Juan, Don Quichotte und "kafkaesk" einordnen, glaubt Roß. Jeder?
Ähnlich realitätsfremd lesen sich Rückschlüsse wie diese: Wer einen zeitgenössischen Horrorfilm versteht, sei auch E. T. A. Hoffmann oder Edgar Allan Poe gewachsen. Ohnedies seien selbst Autoren wie Tolstoi oder Dostojewski "vollkommen laienkompatibel". Solche Aussagen zeugen von einem Unverständnis gegenüber einer gesellschaftlichen Wirklichkeit, in der das Interesse an Bildung keine Selbstverständlichkeit ist und auch nicht dadurch hervorgerufen werden kann, dass man es als "laienkompatibel" erachtet. So gesehen, ist das Buch auch keine Anleitung, wie es der Untertitel verspricht. Es ist vielmehr für diejenigen geschrieben, die sich in der Welt des Autors bewegen - aber selbst die könnten sich daran stören, dass der Autor aus seinem Habitus nicht herauskommt.
Der Text wird auch nicht besser durch die vielen privaten Anekdoten, in denen Roß sich immer wieder verliert. Dass er von Kindesbeinen an bildungshungrig war und sich mit seiner Frau über Bildungsthemen austauscht, ist schön für ihn - aber wozu muss der Leser das wissen? Der Gipfel ist erreicht, wenn der Autor schreibt, dialogisches Denken sei "im Hause Roß Ehe-Code". Da möchte man das Buch lieber zuklappen.
Einen ganz anderen Zugriff auf das Thema Bildung wählt der Erziehungswissenschaftler Aladin El-Mafaalani, der das größte Problem des Bildungssystems in seiner sozialen Ungerechtigkeit sieht. Zwar würden dort ungleiche Chancen nicht primär produziert; indem die Bildungsinstitutionen aber Ungleiches gleich behandelten, reproduzierten und legitimierten sie gesellschaftliche Ungleichheit. Dagegen habe auch die Bildungsexpansion nichts ausrichten können, die zwar immer mehr Menschen Bildungsabschlüsse beschert, den Abstand zwischen den Schichten aber nicht verringert habe. Die ohnehin Benachteiligten würden noch mehr benachteiligt, weil niedrige Abschlüsse nichts mehr zählten, obwohl das Bildungsniveau insgesamt gestiegen sei.
Es ist die übliche Geschichte vom Teufelskreis sozialer Benachteiligung, die hier erzählt wird: Bildungsferne Lebensbedingungen erzeugten geringere Bildungschancen, die wiederum zu schlechteren Lebenschancen führten. Die soziale Herkunft präge Bildungswege, die "Selektionswut" des mehrgliedrigen Schulsystems verfestigt für El-Mafaalani soziale Ungleichheit. In der Gemeinschaftsschule sieht er ein Heilmittel dagegen. Außen vor bleibt in seiner Sozialkritik, dass nicht jede Realschulempfehlung Ausdruck sozialer Benachteiligung ist, sondern mit unterschiedlichen Fähigkeiten der Schüler zusammenhängt - die wiederum nicht bloß das Ergebnis ihrer Sozialisation sind. Es gibt unverkennbar eine soziale Schere; und trotzdem ist das deutsche Bildungssystem ausgesprochen durchlässig und ermöglicht einen Bildungsaufstieg auch dann, wenn man aus unteren Schichten kommt. Soziale Gleichheit bedeutet ja nicht, dass alle gleich gut sein müssen.
Wie es um die Benachteiligung der Leistungsstarken steht, etwa wenn sie jahrelang in der Gemeinschaftsschule ausharren müssen, Lernschwächeren helfen sollen, selbst aber nicht gefordert und gefördert werden, erfährt man von El-Mafaalani nicht. Stattdessen hat der Autor eine Vorliebe für den von der Bildungsforschung bis zum Ermüden gebrauchten Begriff "Kompetenz", der hier wie dort mit Inhaltsleere einhergeht. Die Auflösung des Bildungsmythos befördert das sicher nicht.
HANNAH BETHKE
Jan Roß: "Bildung". Eine Anleitung.
Rowohlt Berlin Verlag, Berlin 2020. 320 S., geb., 22,- [Euro].
Aladin El-Mafaalani: "Mythos Bildung". Die ungerechte Gesellschaft, ihr Bildungssystem und seine Zukunft.
Kiepenheuer & Witsch, Köln 2020. 320 S., geb., 20,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Es gibt niemanden, der so großherzig über Bildung und so gebildet über Großherzigkeit schreiben kann wie Jan Roß. Dieses Plädoyer für die welterschließende, phantastische, subversive Macht von Literatur und Musik, Kunst und Wissenschaft ist so beglückend wie existenziell. Es gibt wenige Autoren, die so wie Roß aus der europäischen Kulturgeschichte heraus fühlen und denken und zugleich diese Tradition durch außereuropäische Perspektiven in Frage stellen können. Carolin Emcke Blurbs 20200116
In weiter Ferne,
so nah!
Jan Roß, die Johannespassion und die Bildung
VON CHRISTOPH BARTMANN
Bildung – Eine Anleitung“, der Titel des Buches von Jan Ross ruft eine nicht ganz neue bürgerliche Sorge auf, wie sie etwa vor zwanzig Jahren schon Dietrich Schwanitz in seinem Bestseller mit dem deutlich forscheren Titel „Bildung. Alles, was man wissen muss“ artikuliert hat. Auch der Philosoph Konrad Paul Liessmanns hat dieses Feld in den letzten Jahren gründlich beackert, zuletzt mit dem Essay „Bildung als Provokation“. Darin zeigt er, dass Bildung zwar ständig vermisst und gefordert wird, dass man aber gleichzeitig den oder die „Gebildete“ heutzutage heute eher als Irritation oder eben „Provokation“ wahrnimmt. In solchen Einschätzungen ebenso wie in der Skepsis gegenüber einem „Wissen“ wie in „Wissensgesellschaft“ trifft sich Liessmann mit Jan Roß – mit dem Unterschied, dass Roß nicht kritisieren und noch weniger polemisieren, sondern sich von den schönen Gegenständen der Bildung berühren lassen will. Wie das gelingen kann, soll in seiner „Anleitung“ gezeigt werden.
Roß bringt für dieses Vorhaben eine günstige Bildungsbiografie mit. Er ist Redakteur bei der Zeit und war zuletzt ihr Korrespondent in Indien. Er war zuvor bei der FAZ und studierte Klassische Philologie und anderes, vor allem bei Walter Jens in Tübingen. Sein akademisches Hamburger Elternhaus war dem früh verspürten Bildungstrieb ebenfalls förderlich. Mit fünfzehn hat der junge Roß im Hamburger „Michel“ sein „Bach-Erlebnis“, beim Schlusschor der Johannespassion. „Ich erinnere mich nicht mehr“, schreibt er, „ob mir viel durch den Kopf ging, als das Klangmeer mich überrollte. (…) Ich weiß nicht, ob es eine Auferstehung gibt, ob Gebete erhört werden, ob irgendetwas, das wir Menschen glauben, sagen oder tun, die Gräber öffnen und den Tod besiegen kann. Aber dies hier, diese Musik, das ist auf jeden Fall unsere beste Chance.“
Die hier formulierte Erwartung an Bildung und die Bereitschaft zu ihr ist demnach eine hohe, wenn nicht eine absolute. Keine „Anleitung“ kann das Tor zu einer solchen Bildung öffnen, noch weniger ein Curriculum oder ein Kanon. Vielleicht hätte Roß sein Buch besser „Bildung – Eine Anstiftung“ nennen sollen, denn darum geht es: Um die Geschichte der eigenen „Bildsamkeit“ (um Herbarts pädagogischen Grundbegriff zu verwenden) und mögliche Strukturelemente dieses individuellen Bildungsvorgangs, die anderen Bildsamen auf die Sprünge helfen mögen.
Zur Bildung gehört freilich an vorderster Stelle Empfänglichkeit, und zwar nicht für irgendwelche, sondern für bestimmte, kulturell vorsortierte Inhalte. Nicht zufällig hat ja der junge, hochgestimmte Roß ein Bach- und kein anderes Erlebnis und findet es auch Jahrzehnte später noch bedeutend. Aber hat man in der Pubertät nicht mancherlei Erlebnisse, nicht nur im Kulturellen? Und wären die nicht auch bildungsfähig, ja geradezu –pflichtig, und wie holte man die hinein in den Begriff und die Praxis von Bildung? Roß räumt selbst ein, dass sein eigener Bildungsschatz, wenn auch universell nützlich, so doch sachlich limitiert ist. Viel Dichtung und Musik, Philosophie und Geschichte, weniger bildende Kunst oder Film, noch weniger Ingenieurs- und Technikwissen.
Es geht bei ihm um die gute, alte „Allgemeinbildung“, der das noch ältere Motiv der „Herzensbildung“ nicht fremd ist. Bildung, wie Roß sie erlebt und praktiziert hat, hat einen historischen Kern. Immer ist schon etwas da, das einen belehrt, erschüttert und bereichert, etwas, das man nicht erst erfinden muss, weil es schon erfunden ist. Für Roß geht die Bildung von Shakespeare aus, der selbst gebildet war, und mehr noch von den alten Griechen, die sich Bildung weniger von anderswoher erwarben als sie selbst erst zu schaffen. Der Bildungsmensch, wie Roß ihn entwirft, ist freilich eher ein rezeptives als ein erschaffendes Wesen. Aber müssten dem Bildungsprozess nicht ständig neue Erkenntnisse und Schönheiten zufließen, damit er nicht antiquarisch wird?
Aber das ist Roß’ Sorge nicht. Er hat sein Glück gefunden mit den Bildungsgegenständen, die er wählte (oder die ihn wählten). In zwölf Kapiteln, die manches Anekdotische aus Kindheit und Jugend, Ehe und Familie sowie aus den Korrespondentenjahren in Indien und Amerika mit befördern, zeigt Roß plausibel, wozu Bildung gut ist und wie weit ihre Wirksamkeit reicht. Fiktion und Mimesis sind dabei entscheidend, sagt er. Ohne künstlerische Welterzeugung gibt es gar keine Welt. Kritik ist notwendig, findet er, aber nicht hinreichend. Bildung lebt von der Bewunderung des Schönen und Guten. Bildung erzieht zur Freiheit und Aufmüpfigkeit. Bildung gibt dem Leben „wahre Tiefe“. Und mit Bach tun sich vielleicht sogar die Gräber auf.
Wer wollte da widersprechen? Nur ist die empirische Wahrscheinlichkeit des Bach-Erlebnisses, das einst den jungen Roß beflügelt hat, seither stark gesunken. Roß unternimmt viel, um den Verdacht des „Eurozentrismus“ zu entkräften; aber die vielen Verweise auf die indische Hochkultur helfen dabei wenig. Die bildungsmäßigen Voraussetzungen, die jemand wie Roß noch selbstverständlich mitbrachte, sind heutigen Bildungsgenerationen nur im Ausnahmefall gegeben. Wer von Bildung spricht, assoziiert fast unmittelbar das Wort „bildungsfern“. Manchmal fällt indes auch Roß selbst durch Bildungsferne auf, etwa wenn er gönnerhaft konstatiert: „Jedenfalls sind Multiplex und Netflix (…) vollkommen geeignete und respektable Initiationsinstanzen zu lohnenden Kulturgütern.“ Nur weil beide auf „x“ enden, sollte man sie dennoch nicht in einen Topf werfen.
Man gönnt Jan Roß seine Bildungsfreude und man teilt sie auch in vielen Gegenständen. Aber geht es letztlich hier nicht doch nur um eine ganz bestimmte, nämlich seine Bildung? Um anstiftend auch auf diejenigen zu wirken, die mit Handicaps an den Start des Bildungsweges gehen oder die sich von ganz anderen Bildungserlebnissen berühren lassen, wäre mehr Realismus gut gewesen.
Jan Roß: Bildung – Eine Anleitung. Rowohlt Berlin Verlag, Berlin 2020. 320 Seiten, 22 Euro.
Ohne künstlerische
Welterzeugung gibt
es gar keine Welt
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so nah!
Jan Roß, die Johannespassion und die Bildung
VON CHRISTOPH BARTMANN
Bildung – Eine Anleitung“, der Titel des Buches von Jan Ross ruft eine nicht ganz neue bürgerliche Sorge auf, wie sie etwa vor zwanzig Jahren schon Dietrich Schwanitz in seinem Bestseller mit dem deutlich forscheren Titel „Bildung. Alles, was man wissen muss“ artikuliert hat. Auch der Philosoph Konrad Paul Liessmanns hat dieses Feld in den letzten Jahren gründlich beackert, zuletzt mit dem Essay „Bildung als Provokation“. Darin zeigt er, dass Bildung zwar ständig vermisst und gefordert wird, dass man aber gleichzeitig den oder die „Gebildete“ heutzutage heute eher als Irritation oder eben „Provokation“ wahrnimmt. In solchen Einschätzungen ebenso wie in der Skepsis gegenüber einem „Wissen“ wie in „Wissensgesellschaft“ trifft sich Liessmann mit Jan Roß – mit dem Unterschied, dass Roß nicht kritisieren und noch weniger polemisieren, sondern sich von den schönen Gegenständen der Bildung berühren lassen will. Wie das gelingen kann, soll in seiner „Anleitung“ gezeigt werden.
Roß bringt für dieses Vorhaben eine günstige Bildungsbiografie mit. Er ist Redakteur bei der Zeit und war zuletzt ihr Korrespondent in Indien. Er war zuvor bei der FAZ und studierte Klassische Philologie und anderes, vor allem bei Walter Jens in Tübingen. Sein akademisches Hamburger Elternhaus war dem früh verspürten Bildungstrieb ebenfalls förderlich. Mit fünfzehn hat der junge Roß im Hamburger „Michel“ sein „Bach-Erlebnis“, beim Schlusschor der Johannespassion. „Ich erinnere mich nicht mehr“, schreibt er, „ob mir viel durch den Kopf ging, als das Klangmeer mich überrollte. (…) Ich weiß nicht, ob es eine Auferstehung gibt, ob Gebete erhört werden, ob irgendetwas, das wir Menschen glauben, sagen oder tun, die Gräber öffnen und den Tod besiegen kann. Aber dies hier, diese Musik, das ist auf jeden Fall unsere beste Chance.“
Die hier formulierte Erwartung an Bildung und die Bereitschaft zu ihr ist demnach eine hohe, wenn nicht eine absolute. Keine „Anleitung“ kann das Tor zu einer solchen Bildung öffnen, noch weniger ein Curriculum oder ein Kanon. Vielleicht hätte Roß sein Buch besser „Bildung – Eine Anstiftung“ nennen sollen, denn darum geht es: Um die Geschichte der eigenen „Bildsamkeit“ (um Herbarts pädagogischen Grundbegriff zu verwenden) und mögliche Strukturelemente dieses individuellen Bildungsvorgangs, die anderen Bildsamen auf die Sprünge helfen mögen.
Zur Bildung gehört freilich an vorderster Stelle Empfänglichkeit, und zwar nicht für irgendwelche, sondern für bestimmte, kulturell vorsortierte Inhalte. Nicht zufällig hat ja der junge, hochgestimmte Roß ein Bach- und kein anderes Erlebnis und findet es auch Jahrzehnte später noch bedeutend. Aber hat man in der Pubertät nicht mancherlei Erlebnisse, nicht nur im Kulturellen? Und wären die nicht auch bildungsfähig, ja geradezu –pflichtig, und wie holte man die hinein in den Begriff und die Praxis von Bildung? Roß räumt selbst ein, dass sein eigener Bildungsschatz, wenn auch universell nützlich, so doch sachlich limitiert ist. Viel Dichtung und Musik, Philosophie und Geschichte, weniger bildende Kunst oder Film, noch weniger Ingenieurs- und Technikwissen.
Es geht bei ihm um die gute, alte „Allgemeinbildung“, der das noch ältere Motiv der „Herzensbildung“ nicht fremd ist. Bildung, wie Roß sie erlebt und praktiziert hat, hat einen historischen Kern. Immer ist schon etwas da, das einen belehrt, erschüttert und bereichert, etwas, das man nicht erst erfinden muss, weil es schon erfunden ist. Für Roß geht die Bildung von Shakespeare aus, der selbst gebildet war, und mehr noch von den alten Griechen, die sich Bildung weniger von anderswoher erwarben als sie selbst erst zu schaffen. Der Bildungsmensch, wie Roß ihn entwirft, ist freilich eher ein rezeptives als ein erschaffendes Wesen. Aber müssten dem Bildungsprozess nicht ständig neue Erkenntnisse und Schönheiten zufließen, damit er nicht antiquarisch wird?
Aber das ist Roß’ Sorge nicht. Er hat sein Glück gefunden mit den Bildungsgegenständen, die er wählte (oder die ihn wählten). In zwölf Kapiteln, die manches Anekdotische aus Kindheit und Jugend, Ehe und Familie sowie aus den Korrespondentenjahren in Indien und Amerika mit befördern, zeigt Roß plausibel, wozu Bildung gut ist und wie weit ihre Wirksamkeit reicht. Fiktion und Mimesis sind dabei entscheidend, sagt er. Ohne künstlerische Welterzeugung gibt es gar keine Welt. Kritik ist notwendig, findet er, aber nicht hinreichend. Bildung lebt von der Bewunderung des Schönen und Guten. Bildung erzieht zur Freiheit und Aufmüpfigkeit. Bildung gibt dem Leben „wahre Tiefe“. Und mit Bach tun sich vielleicht sogar die Gräber auf.
Wer wollte da widersprechen? Nur ist die empirische Wahrscheinlichkeit des Bach-Erlebnisses, das einst den jungen Roß beflügelt hat, seither stark gesunken. Roß unternimmt viel, um den Verdacht des „Eurozentrismus“ zu entkräften; aber die vielen Verweise auf die indische Hochkultur helfen dabei wenig. Die bildungsmäßigen Voraussetzungen, die jemand wie Roß noch selbstverständlich mitbrachte, sind heutigen Bildungsgenerationen nur im Ausnahmefall gegeben. Wer von Bildung spricht, assoziiert fast unmittelbar das Wort „bildungsfern“. Manchmal fällt indes auch Roß selbst durch Bildungsferne auf, etwa wenn er gönnerhaft konstatiert: „Jedenfalls sind Multiplex und Netflix (…) vollkommen geeignete und respektable Initiationsinstanzen zu lohnenden Kulturgütern.“ Nur weil beide auf „x“ enden, sollte man sie dennoch nicht in einen Topf werfen.
Man gönnt Jan Roß seine Bildungsfreude und man teilt sie auch in vielen Gegenständen. Aber geht es letztlich hier nicht doch nur um eine ganz bestimmte, nämlich seine Bildung? Um anstiftend auch auf diejenigen zu wirken, die mit Handicaps an den Start des Bildungsweges gehen oder die sich von ganz anderen Bildungserlebnissen berühren lassen, wäre mehr Realismus gut gewesen.
Jan Roß: Bildung – Eine Anleitung. Rowohlt Berlin Verlag, Berlin 2020. 320 Seiten, 22 Euro.
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