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Der gemeinsame Fluchtpunkt dieser Studien ist die deutsche Bildungsrevolution gegen Ende des 18. Jahrhunderts. Sie betrifft die beiden wichtigsten Kulturtechniken, Lesen und Schreiben. In der Bildungsrevolution verändert sich der elementare, rhetorische, akademische Unterricht, darüber hinaus aber auch Schule, Autorschaft, Öffentlichkeit und sogar die Sozialgliederung der Gesellschaft. Das neue Konzept der Bildung wirkt über die Unterrichtsinstitutionen hinaus, indem es eine außerschulische Praxis scholarisiert, das Selberlernen. Die Unterrichtsverhältnisse ihrerseits werden unter dem…mehr

Produktbeschreibung
Der gemeinsame Fluchtpunkt dieser Studien ist die deutsche Bildungsrevolution gegen Ende des 18. Jahrhunderts. Sie betrifft die beiden wichtigsten Kulturtechniken, Lesen und Schreiben. In der Bildungsrevolution verändert sich der elementare, rhetorische, akademische Unterricht, darüber hinaus aber auch Schule, Autorschaft, Öffentlichkeit und sogar die Sozialgliederung der Gesellschaft. Das neue Konzept der Bildung wirkt über die Unterrichtsinstitutionen hinaus, indem es eine außerschulische Praxis scholarisiert, das Selberlernen. Die Unterrichtsverhältnisse ihrerseits werden unter dem staatlichen Zugriff neu strukturiert. Dabei verschmelzen die lateinischen und die volkssprachlichen Bildungssysteme, die seit dem Mittelalter nebeneinander existierten, in einem umfassenden Bildungsapparat. Zugleich wandelt sich die ständische Öffentlichkeit der gelehrten Republik in ihr modernes Gegenstück, und der gelehrte Stand der Lateinkundigen verschwindet in der Formation der Gebildeten.
Autorenporträt
Nacim Ghanbari (Dr. phil.) ist Research Fellow am IFK - Internationales Forschungszentrum Kulturwissenschaften in Wien.
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 13.03.2013

Der kurze Sommer der Autodidakten

Lange haben sich die Lehrer das nicht bieten lassen: Heinrich Bosse über die flüchtige Blüte des Selbstlernens um das Jahr 1800.

Das einzige Buch, das der junge Émile in dem gleichnamigen, 1762 publizierten Buch Rousseaus lesen darf, ist "Robinson Crusoe". Dieser laut Rousseau gelungenste Traktat über die natürliche Erziehung sei allerdings erst kindgerecht umzuarbeiten: Die Kinderfassung müsse sich auf die Inselepisode beschränken; und Crusoe müsse auf der Insel ohne die vom Schiffbruch angespülten Instrumente klarkommen. Der große norddeutsche Pädagoge Johann Heinrich Campe hat die von Rousseau geforderte, selbst aber nie realisierte Kinderfassung des "Crusoe" dann geschrieben: 1779 erscheint sein "Robinson der Jüngere".

Der Crusoe von Campe muss aber nicht nur ohne Instrumente, sondern auch ohne jegliche Vorbildung auskommen: Zum Zeitpunkt seines Schiffbruchs hat er weder eine Schule besucht noch Heimunterricht erhalten. Er ist ein "unwissender Bursche". Das überrascht: Denn in Daniel Defoes Roman wird gleich auf den ersten Seiten deutlich gemacht, dass Crusoe sehr wohl zu Hause unterrichtet wurde und die Schule besucht hat. Weshalb ist es für Campe so wichtig, dass Crusoe ungebildet ist und sich auf der Insel alles selbst beibringen muss? Weshalb soll Crusoe Ende des achtzehnten Jahrhunderts unbedingt ein Autodidakt sein?

Heinrich Bosses mehr als drei Jahrzehnte überspannende bildungshistorische Arbeiten können als eine einzige große und gelehrte Antwort auf diese Frage verstanden werden: Weshalb rücken das Selbstlernen und das Selbstdenken um 1800 ins Zentrum der pädagogischen, philosophischen und literarischen Reflexion? Nacim Ghanbari hat das große Verdienst, nun Bosses verstreut publizierte bildungshistorische Aufsätze in Buchform zugänglich gemacht zu haben. Das Buch enthält aber auch drei neue Studien, die Bosses bisherige Überlegungen erstmals zusammenführen und gemeinsam gelesen eine ebenso materialreiche wie bahnbrechende Perspektive auf die Rolle der Selbstbildung im modernen Bildungswesen werfen.

Laut der zeitgenössischen Definition ist ein Autodidakt jemand, der ohne Lehrer lernt. Der Verzicht auf den Lehrer kann unterschiedliche Gründe haben. Wer erstens Wissen nicht nur empfangen, sondern auch eigenständig erwerben möchte, mehrt sein Wissen auch ohne Lehrer - aus dieser Perspektive sind alle Gelehrten Autodidakten. Wer zweitens etwas ganz Neues erfindet oder der erste Vertreter einer neuen Disziplin ist, kann gar nicht umhin, sein Wissen ohne Lehrer zu erwerben - und damit Autodidakt zu sein. Schließlich kann es sich bei einem Autodidakten um jemanden handeln, der seine Kenntnisse allein nur durch Buchlektüre erworben hat, ohne irgendeine individualisierte Form fremder Anleitung oder Anweisung. Diese dritte Variante der Selbstbildung ist bis in die Gegenwart die geläufigste: Sie steht im Zentrum der Aufsätze von Bosse.

Für Bosse ist die zweite Hälfte des achtzehnten Jahrhunderts die goldene Epoche des Autodidakten. Ein nicht institutionell eingehegtes "freies" Selbststudium und "wildes" Selbstlernen findet in dieser Zeit weite Verbreitung. Das schlägt sich um 1800 im Bildungsbereich in einer Fülle von Komposita wie "Selbstdenken", "Selbstbildung", "Selbstlernen", "Selbstkritik" und "Selbststudium" nieder. Nicht weniger auffällig ist, dass sich gleichzeitig der reflexive Gebrauch des Bildungsbegriffs etabliert: Plötzlich kann man "sich bilden". Parallel zum Aufkommen dieser Selbst-Semantik entsteht ein florierender Markt sowohl für praktische autodidaktische Anleitungen als auch für theoretisch-programmatische Texte, die eine autodidaktische Pädagogik entwickeln.

Weshalb wird das Selbstlernen attraktiv? Laut Bosse hängt das damit zusammen, dass sich in diesem Zeitraum die ständische Gesellschaft merklich auflöst. Der Charme der Selbstbildung auf Seiten der Lernenden ergibt sich aufgrund der erhöhten sozialen Mobilität: Wer sich nur fleißig genug selbst schult, so das Versprechen, kann auf eine Bildungskarriere hoffen, die ihn über die vormaligen Standesschranken hinweg in höhere gesellschaftliche Schichten trägt.

Aber auch für die lehrenden Akademiker ist das Konzept der Selbstbildung reizvoll. Die Gelehrten, die ihren Rang zuvor über Standesunterschiede definiert hatten, können ihren Status in einer nachständischen Gesellschaft nun mittels eines neues Bildungsethos legitimieren. Die Gelehrten entwerfen ein auf Selbstbildung fußendes Menschen- und Geschichtsbild, das ihnen entgegenkommt: Da die Gelehrten in ihrer Rolle als Forscher unvermeidlich Virtuosen unablässiger Selbstbildung sind, dürfen sie sich nun als exemplarische Menschen verstehen. Die professionelle Selbstbildung des deutschen Akademikers wird so in einen gesellschaftlichen Führungsanspruch umgemünzt.

Im Zuge ihrer Akademisierung seien die Praktiken intellektueller "Selbsttätigkeit" aber auch zunehmend von den Bildungsinstitutionen Schule und Universität vereinnahmt worden. Das Privatstudium und die Privatlektüre, laut Bosse anfangs noch veritable intellektuelle "Sprengsätze", seien in der ersten Hälfte des neunzehnten Jahrhunderts schrittweise durch bildungsbürokratische Disziplinarmaßnahmen entschärft worden. Wie konnte das passieren?

Bosse geht es in seinen ausgesprochen lesenswerten Aufsätzen um die Lösung eines "großen Rätsels" der modernen deutschen Bildungsgeschichte: Wie ist es dazu gekommen, dass sich der mit der Aufwertung der Selbstbildung vollzogene "revolutionäre Aufbruch" so schnell in einem "grauen Netz" von schulischer Routine und akademischen Prüfungen verstricken konnte? Laut Bosse tragen Staatsbeamte in den Ministerien, Universitäten und Schulen die Hauptverantwortung: Sie haben das von Bosse hochgeschätzte Selbstlernen - ein unkontrolliertes, selbstangeleitetes, eigenmotiviertes und hochindividuelles Lernen - im Zuge der Verstaatlichung des Bildungswesens ihrem Herrschaftsbereich unterworfen. Wo früher der Einzelne frei über seine eigene Bildung verfügen konnte, errichten diese Beamten nun ein Bildungssystem mit Zwangscharakter.

Der Philosoph Jacques Rancière hat vor fünfundzwanzig Jahren in dem vieldiskutierten Buch "Der unwissende Lehrmeister" eine andere Antwort auf diese Frage gegeben. Ausgehend von einer detaillierten Auseinandersetzung mit einer um 1800 entwickelten französischen Variante der autodidaktischen Pädagogik, rückt Rancière die Pädagogik der Aufklärung in ein neues Licht: Sie biete dem unwissenden Schüler nur vordergründig Unterstützung an; tatsächlich werde dem Schüler in erster Linie vermittelt, dass er unfähig sei, ohne Lehrer in der Welt klarzukommen.

Die Aufklärungsepoche installiert aus dieser Perspektive ein Regime der Pädagogen, das aus Legitimationsgründen immer einen hohen Bedarf an Unwissenden und Unmündigen hat - und deshalb den Schülern noch im wohlwollensten Unterweisungsakt vor allem ihre grundlegende Unselbständigkeit einschärft. Der pädagogische Aufbruch der Aufklärung ist hier ein zutiefst ambivalentes, keineswegs eindeutig emanzipatorisches Projekt.

Ob der kurze Sommer der autodidaktischen Anarchie nun von Bürokraten beendet wurde, wie Bosse meint, oder einer fehlgehenden Pädagogik geschuldet ist, wie Rancière denkt: Sobald den Lehrern die hoheitliche Macht übertragen wurde, ganze Bildungskarrieren zu strukturieren, konnte man ihrer Herrschaft nur noch auf einer einsamen Insel entkommen.

CARLOS SPOERHASE

Heinrich Bosse: "Bildungsrevolution 1770-1830".

Herausgegeben mit einem Gespräch von Nacim Ghanbari. Universitätserlag Winter, Heidelberg 2012. 396 S., geb., 45.- [Euro].

Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
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Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension

Dass Heinrich Bosses bildungshistorische Einlassungen nunmehr in gesammelter Form und ergänzt um drei neue Studien in Buchform vorliegen, weiß Carlos Spoerhase zu schätzen. Die Rolle und Entwicklung der Selbstbildung durch Lektüre untersucht Bosse laut Rezensent materialreich. Bahnbrechend erscheinen ihm Bosses Aufsätze insofern, als der Autor die goldene Zeit der Autodidaktik im 18. Jahrhundert erstmals daraufhin untersucht, wieso das Selbstlernen damals so attraktiv wurde (Stichwort: soziale Mobilität) und was diesen Ansatz schließlich im Keim erstickte (Verstaatlichung und Bürokratisierung des Bildungswesens).

© Perlentaucher Medien GmbH