Der Killer und das Mädchen - der neue große Roman von Stephen King um Wahrheit und Fiktion
Billy ist Kriegsveteran und verdingt sich als Auftragskiller. Sein neuester Job ist so lukrativ, dass es sein letzter sein soll. Danach will er ein neues Leben beginnen. Aber er hat sich mit mächtigen Hintermännern eingelassen und steht schließlich selbst im Fadenkreuz. Auf der Flucht rettet er die junge Alice, die Opfer einer Gruppenvergewaltigung wurde. Billy muss sich entscheiden. Geht er den Weg der Rache oder der Gerechtigkeit? Gibt es da einen Unterschied? So oder so, die Antwort liegt am Ende des Wegs.
Billy ist Kriegsveteran und verdingt sich als Auftragskiller. Sein neuester Job ist so lukrativ, dass es sein letzter sein soll. Danach will er ein neues Leben beginnen. Aber er hat sich mit mächtigen Hintermännern eingelassen und steht schließlich selbst im Fadenkreuz. Auf der Flucht rettet er die junge Alice, die Opfer einer Gruppenvergewaltigung wurde. Billy muss sich entscheiden. Geht er den Weg der Rache oder der Gerechtigkeit? Gibt es da einen Unterschied? So oder so, die Antwort liegt am Ende des Wegs.
Der verdeckte Schriftsteller
Ein Killer wandelt sich zum Autor in Stephen Kings „Billy Summers“
Billy Summers sitzt wartend in der Hotelhalle und hat ein Comic-Buch vor sich, aus der Reihe „Archie’s Pals and Gals“, aber nur zur Tarnung, in Gedanken ist er bei „Thérèse Raquin“, dem dritten Roman von Émile Zola. Es ist Freitagmittag, und er soll einen neuen Auftrag übernehmen, für zwei Millionen, den letzten Coup, dann will er sich zur Ruhe setzen. Billy ist Mitte vierzig, er war bei den Marines, im Irakkrieg, beim Kampf in Falludscha, ein exzellenter Scharfschütze. Zolas Roman sei das Buch eines jungen Mannes, findet er.
Billy spielt den andern gegenüber gern den Naiven und Einfältigen, aber er kennt sich sehr gut aus mit falschen Konten, Überwachungssoftware, Perücken oder vorgeschnallten künstlichen Bäuchen – mit allen Tricks, um sich unsichtbar zu machen in der modernen Gesellschaft. Billy Summers ist ein professioneller Auftragskiller, und fürs Überleben in diesem Metier ist es wichtig, dass er seine Welt in Ordnung hält, auf individuelle Weise, sensibel und offen für alles. Ein amerikanischer Intellektueller, pragmatisch und von amerikanischer Kultur geprägt, ein spielerisches Spiegelbild des Autors Stephen King. Zolas Buch, findet er, das sei, als hätte man einen Roman von James M. Cain mit einem EC-Comic aus den Fünfzigern gekreuzt. Am Abend, nachdem er den neuen Auftrag angenommen hat und sich im Internet kundig gemacht hat über das Opfer, schaut er sich „Asphalt Jungle“ an, einen „verhexten“ Letzter-Coup-Film. Man weiß, welches Ende Geschichten wie diese nehmen.
Mit behutsamer Präzision erzählt Stephen King von Billy Summers, mit manchmal unerhörter Naivität – in der das Selbstverständliche immer ganz komplex ist und das Untergründige ganz selbstverständlich. Der Charme des Buches kommt gerade von seiner Betulichkeit, auch was das Moralische angeht. Billy bringt nur schlechte Leute um. Er verachtet die Superreichen und Korrupten, allesamt miese, skrupellose Spießer. Seine Arbeit besteht vor allem im Warten, auf den exakten Moment für den tödlichen Schuss. Und der Erzähler Stephen King ist ein Meister des Hinauszögerns, der vergehenden Zeit und der Stillleben, die sie produziert. Die Tage sind lang, der Sommer vergeht.
Billy gibt sich als Schriftsteller aus, bezieht ein Büro in einem Tower in der Stadt Red Bluff, von einem Fenster dort hat er den besten Blick auf den Eingang des Gerichtsgebäudes – auf den Treppe davor soll er einen angeklagten Mörder, wenn er zu seiner Verhandlung geführt wird, mit einem Schuss erledigen. Während er darauf wartet, baut er falsche normalbürgerliche Existenzen auf, er trägt die Namen David und Dalton, kommt in Kontakt mit den Familien der Nachbarschaft, es gibt Gartenfeste, Monopoly mit den Kindern, jede Menge Feelgood. Auch: Sex mit einer jungen Angestellten aus dem Bürotower. Am Stadtrand mietet er heimlich, um unterzutauchen nach dem Schuss und der Aufregung, die der verursachen wird, eine Souterrainwohnung, und hier übernimmt er schließlich, als ein Nachbarehepaar verreisen muss, die Aufsicht über Daphne und Walter, eine Grünlilie und ein Fleißiges Lieschen.
Auf der Straße vor dieser Souterrainwohnung laden in einer Regennacht drei Typen ein bewusstloses Mädchen ab, Alice, dreimal vergewaltigt. Billy holt sie ins Haus und pflegt sie, hilft ihr über die Alpträume der Nächte, gemeinsam singen sie „Ein Männchen steht im Walde ...“ Er nimmt Rache für sie, an den drei Typen. Amerikanischer Paternalismus kann ungemein infantil sein – über seinem Bemühen um Protektion liegt immer auch ein Schatten von Impotenz. Billy hatte in der Kindheit den Tod seiner kleinen Schwester, neun Jahre alt, nicht verhindern können, der Stiefvater hat sie brutal umgebracht.
Schriftstellernd beginnt Billy sein Leben zu erzählen, die Kindheit im Trailer, Jugendheim, erste Liebe, Ausbildung bei den Marines, die blutigen Kommandos im Irakkrieg. Für die True-crime-Story vom Tod der Schwester wählt er einen literarischen Modus der Einfältigkeit. „Der Mann wo mit meiner Mama zusammen war, kam mit einem gebrochenen Arm nach Haus ... meine Schwester wollte Plätzchen backen, aber die waren total verbrannt ... Er hat meine Schwester umgebracht und ich weiß nicht mal seinen Namen.“ Der junge Billy holt die Waffe des Mannes aus dessen Soldatenkiste und schießt ihm mitten in die Brust. „Die Geschichte von Benjy Compson“ nennt Billy diese Geschichte, das literarische Vorbild ist der erste Teil von William Faulkners „The Sound and the Fury“. Irgendwann im Verlauf des Schreibens wird er dann die Namen ersetzen, Benjy durch Billy, Compson durch Summers. Lost and found, ein Roman ums Verlorengehen und um die Schmerzen, die es bereitet sich wiederzufinden, um Stagnation und um Lockdown. Die Geschichte ist in einer merkwürdigen Zeitlosigkeit verortet, sie ist voller poröser mysteriöser Stellen, an denen eine unerklärliche Bedrohlichkeit anklingt. „Wie alle anderen weiß keiner der beiden, dass ein gefährliches Virus in einem halben Jahr das Leben in Amerika und auf der ganzen Welt herunterfahren wird ...“
Schon einmal hat es bei Stephen King den Wahnsinn des Schreibens gegeben, beim schreibblockierten Jack Torrance in „The Shining“. Auf ihrer Flucht finden Billy und Alice Unterschlupf bei Billys bestem Freund, dessen Berghütte liegt in der Nähe der Ruinen eines niedergebrannten Hotels – Geister sollen sich dort rumtreiben, das wird auch Billys Schreiben prägen.
Eine Liebesgeschichte, die in der Schwebe bleibt, sich erst im Erzählen erfüllen wird, in einem diffusen Schaffensprozess. Ein Buch über Realismus und Fatalismus, und darüber, ob das am Ende nicht dasselbe ist. Wenn es einen Gott gibt, grübelt Billy auf der Fahrt sarkastisch, dann macht er seinen Job total beschissen. Alice, die auf dem Beifahrersitz aufgewacht ist, hält dagegen: Wenn es einen Gott gibt, dann hat er das erschaffen. Da ist ihr Blick gerade, zum ersten Mal, auf die Rocky Mountains gefallen.
FRITZ GÖTTLER
Stephen King schreibt jährlich einen Roman. Oder zwei.
Foto: Maja Hitij / dpa
Stephen King:
Billy Summers. Aus dem Englischen von Bernhard Kleinschmidt.
Heyne, München 2021.
719 Seiten, 26 Euro.
DIZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.sz-content.de
Ein Killer wandelt sich zum Autor in Stephen Kings „Billy Summers“
Billy Summers sitzt wartend in der Hotelhalle und hat ein Comic-Buch vor sich, aus der Reihe „Archie’s Pals and Gals“, aber nur zur Tarnung, in Gedanken ist er bei „Thérèse Raquin“, dem dritten Roman von Émile Zola. Es ist Freitagmittag, und er soll einen neuen Auftrag übernehmen, für zwei Millionen, den letzten Coup, dann will er sich zur Ruhe setzen. Billy ist Mitte vierzig, er war bei den Marines, im Irakkrieg, beim Kampf in Falludscha, ein exzellenter Scharfschütze. Zolas Roman sei das Buch eines jungen Mannes, findet er.
Billy spielt den andern gegenüber gern den Naiven und Einfältigen, aber er kennt sich sehr gut aus mit falschen Konten, Überwachungssoftware, Perücken oder vorgeschnallten künstlichen Bäuchen – mit allen Tricks, um sich unsichtbar zu machen in der modernen Gesellschaft. Billy Summers ist ein professioneller Auftragskiller, und fürs Überleben in diesem Metier ist es wichtig, dass er seine Welt in Ordnung hält, auf individuelle Weise, sensibel und offen für alles. Ein amerikanischer Intellektueller, pragmatisch und von amerikanischer Kultur geprägt, ein spielerisches Spiegelbild des Autors Stephen King. Zolas Buch, findet er, das sei, als hätte man einen Roman von James M. Cain mit einem EC-Comic aus den Fünfzigern gekreuzt. Am Abend, nachdem er den neuen Auftrag angenommen hat und sich im Internet kundig gemacht hat über das Opfer, schaut er sich „Asphalt Jungle“ an, einen „verhexten“ Letzter-Coup-Film. Man weiß, welches Ende Geschichten wie diese nehmen.
Mit behutsamer Präzision erzählt Stephen King von Billy Summers, mit manchmal unerhörter Naivität – in der das Selbstverständliche immer ganz komplex ist und das Untergründige ganz selbstverständlich. Der Charme des Buches kommt gerade von seiner Betulichkeit, auch was das Moralische angeht. Billy bringt nur schlechte Leute um. Er verachtet die Superreichen und Korrupten, allesamt miese, skrupellose Spießer. Seine Arbeit besteht vor allem im Warten, auf den exakten Moment für den tödlichen Schuss. Und der Erzähler Stephen King ist ein Meister des Hinauszögerns, der vergehenden Zeit und der Stillleben, die sie produziert. Die Tage sind lang, der Sommer vergeht.
Billy gibt sich als Schriftsteller aus, bezieht ein Büro in einem Tower in der Stadt Red Bluff, von einem Fenster dort hat er den besten Blick auf den Eingang des Gerichtsgebäudes – auf den Treppe davor soll er einen angeklagten Mörder, wenn er zu seiner Verhandlung geführt wird, mit einem Schuss erledigen. Während er darauf wartet, baut er falsche normalbürgerliche Existenzen auf, er trägt die Namen David und Dalton, kommt in Kontakt mit den Familien der Nachbarschaft, es gibt Gartenfeste, Monopoly mit den Kindern, jede Menge Feelgood. Auch: Sex mit einer jungen Angestellten aus dem Bürotower. Am Stadtrand mietet er heimlich, um unterzutauchen nach dem Schuss und der Aufregung, die der verursachen wird, eine Souterrainwohnung, und hier übernimmt er schließlich, als ein Nachbarehepaar verreisen muss, die Aufsicht über Daphne und Walter, eine Grünlilie und ein Fleißiges Lieschen.
Auf der Straße vor dieser Souterrainwohnung laden in einer Regennacht drei Typen ein bewusstloses Mädchen ab, Alice, dreimal vergewaltigt. Billy holt sie ins Haus und pflegt sie, hilft ihr über die Alpträume der Nächte, gemeinsam singen sie „Ein Männchen steht im Walde ...“ Er nimmt Rache für sie, an den drei Typen. Amerikanischer Paternalismus kann ungemein infantil sein – über seinem Bemühen um Protektion liegt immer auch ein Schatten von Impotenz. Billy hatte in der Kindheit den Tod seiner kleinen Schwester, neun Jahre alt, nicht verhindern können, der Stiefvater hat sie brutal umgebracht.
Schriftstellernd beginnt Billy sein Leben zu erzählen, die Kindheit im Trailer, Jugendheim, erste Liebe, Ausbildung bei den Marines, die blutigen Kommandos im Irakkrieg. Für die True-crime-Story vom Tod der Schwester wählt er einen literarischen Modus der Einfältigkeit. „Der Mann wo mit meiner Mama zusammen war, kam mit einem gebrochenen Arm nach Haus ... meine Schwester wollte Plätzchen backen, aber die waren total verbrannt ... Er hat meine Schwester umgebracht und ich weiß nicht mal seinen Namen.“ Der junge Billy holt die Waffe des Mannes aus dessen Soldatenkiste und schießt ihm mitten in die Brust. „Die Geschichte von Benjy Compson“ nennt Billy diese Geschichte, das literarische Vorbild ist der erste Teil von William Faulkners „The Sound and the Fury“. Irgendwann im Verlauf des Schreibens wird er dann die Namen ersetzen, Benjy durch Billy, Compson durch Summers. Lost and found, ein Roman ums Verlorengehen und um die Schmerzen, die es bereitet sich wiederzufinden, um Stagnation und um Lockdown. Die Geschichte ist in einer merkwürdigen Zeitlosigkeit verortet, sie ist voller poröser mysteriöser Stellen, an denen eine unerklärliche Bedrohlichkeit anklingt. „Wie alle anderen weiß keiner der beiden, dass ein gefährliches Virus in einem halben Jahr das Leben in Amerika und auf der ganzen Welt herunterfahren wird ...“
Schon einmal hat es bei Stephen King den Wahnsinn des Schreibens gegeben, beim schreibblockierten Jack Torrance in „The Shining“. Auf ihrer Flucht finden Billy und Alice Unterschlupf bei Billys bestem Freund, dessen Berghütte liegt in der Nähe der Ruinen eines niedergebrannten Hotels – Geister sollen sich dort rumtreiben, das wird auch Billys Schreiben prägen.
Eine Liebesgeschichte, die in der Schwebe bleibt, sich erst im Erzählen erfüllen wird, in einem diffusen Schaffensprozess. Ein Buch über Realismus und Fatalismus, und darüber, ob das am Ende nicht dasselbe ist. Wenn es einen Gott gibt, grübelt Billy auf der Fahrt sarkastisch, dann macht er seinen Job total beschissen. Alice, die auf dem Beifahrersitz aufgewacht ist, hält dagegen: Wenn es einen Gott gibt, dann hat er das erschaffen. Da ist ihr Blick gerade, zum ersten Mal, auf die Rocky Mountains gefallen.
FRITZ GÖTTLER
Stephen King schreibt jährlich einen Roman. Oder zwei.
Foto: Maja Hitij / dpa
Stephen King:
Billy Summers. Aus dem Englischen von Bernhard Kleinschmidt.
Heyne, München 2021.
719 Seiten, 26 Euro.
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