Marktplatzangebote
2 Angebote ab € 5,54 €
  • Broschiertes Buch

In einem Versteck im Warschauer Ghetto schrieb Calel Perechodnik kurz vor seinem Tode im Jahre 1944 eine Lebensbeichte von erschütternder Offenheit. Als jüdischer Ghetto-Polizist war er, in der Hoffnung, das Los seiner Familie ein wenig aufzubessern, von den Deutschen zu einem Werkzeug der Vernichtung des eigenen Volkes und der eigenen Familie gemacht worden, bevor er selber umkam. "Bin ich ein Mörder?" - diese Frage martert das Gewissen eines Opfers, das selbst zum Mittäter geworden ist, eines Familienvaters, der Frau und Kind ins Vernichtungslager gebracht hat, eines Getäuschten, der an seiner eigenen Leichtgläubigkeit verzweifelt.…mehr

Produktbeschreibung
In einem Versteck im Warschauer Ghetto schrieb Calel Perechodnik kurz vor seinem Tode im Jahre 1944 eine Lebensbeichte von erschütternder Offenheit. Als jüdischer Ghetto-Polizist war er, in der Hoffnung, das Los seiner Familie ein wenig aufzubessern, von den Deutschen zu einem Werkzeug der Vernichtung des eigenen Volkes und der eigenen Familie gemacht worden, bevor er selber umkam. "Bin ich ein Mörder?" - diese Frage martert das Gewissen eines Opfers, das selbst zum Mittäter geworden ist, eines Familienvaters, der Frau und Kind ins Vernichtungslager gebracht hat, eines Getäuschten, der an seiner eigenen Leichtgläubigkeit verzweifelt.
Autorenporträt
Calel Perechodnik, 1916 in Otwock geboren, starb 1944 während des Warschauer Aufstands in einem Bunker. Das Tagebuch konnte von Perechodniks Bruder, der als einziger der Familie überlebte, gerettet werden. Fast fünfzig Jahre lang lagerte es in Yad Vashem, erst 1993 wurde es in Israel und Polen publiziert. Bei zu Klampen erschien sein Werk »Bin ich ein Mörder?« (1997, 2015).
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 10.11.1997

Als ich durch die Ruinen meines Lebens ging
Das Protokoll einer fürchterlich genauen Gewissenserforschung

Calel Perechodnik: "Bin ich ein Mörder?". Das Testament eines jüdischen Ghetto-Polizisten. Aus dem Polnischen von Lavinia Oelkers. Mit einem Vorwort von Micha Brumlik. Dietrich zu Klampen Verlag, Lüneburg 1997. 314 Seiten, 38,- Mark.

In Arno Schmidts Roman "Die Gelehrtenrepublik" wird eine Warnung vor dem unbedachten Ankauf gesammelter Werke ausgesprochen: "Sie werden von selbst vorsichtiger, wissen Sie erst, daß Sie sich jedesmal mit einem kompletten Fremdleben, einem Superschicksal, belasten: mehr, als Sie bewältigen können." Der schriftliche Nachlaß des polnischen Ingenieurs Calel Perechodnik umfaßt nur ein einziges Werk, das sich aber ebensowenig bewältigen läßt wie die Vergangenheit, von der es spricht.

In Otwock bei Warschau trat Perechodnik während der deutschen Okkupation in die Dienste der jüdischen Ghetto-Polizei, in der trügerischen Hoffnung, dadurch seine Familie und sich selbst zu retten. Als das Ghetto 1942 liquidiert wurde, überredete er seine Frau, mit der gerade zwei Jahre alten Tochter das in Panik aufgesuchte Versteck zu verlassen; man hatte ihm zugesichert, daß den Frauen und Kindern der Ghetto-Polizisten nichts geschehen werde. Im Vertrauen auf seine Privilegien führte er seine Frau und seine Tochter auf den Sammelplatz und mußte erleben, wie sie schließlich mit achttausend anderen Juden deportiert wurden, nach Treblinka, in die Gaskammer: "Nicht genug, daß ich sie verloren habe, darüber hinaus bleibt mir die Erkenntnis, daß ich ihr Henker gewesen bin, der sie zum Tode geführt hat."

1943, in einem Versteck in Warschau, schrieb er seine Erinnerungen, und es dauerte ein halbes Jahrhundert, bis das Manuskript zum ersten Mal gedruckt wurde. 1993 erschienen eine hebräische Übersetzung und die erste polnische Ausgabe. Mit den literarisch durchgearbeiteten Werken von Primo Levi, Roman Frister, Louis Begley oder Aleksandar Trisma ist Perechodniks "ehrliche und aufrichtige Beichte" nicht zu vergleichen. Zieht man die entsetzlichen Umstände in Betracht, unter denen er sie abgelegt hat, den eigenen Tod vor Augen und vom Bewußtsein der Schuld gequält, verbietet es sich, literaturkritische Maßstäbe anzulegen.

Was Perechodnik geschrieben hat, ist ein langer Abschiedsbrief an seine Frau, das Protokoll einer fürchterlich genauen Gewissenserforschung, eine Anklageschrift gegen die deutschen Besatzer und ihre Handlanger und immer wieder auch ein hilfloser Schrei nach Rache, weil es für den, der außer seinem nackten Leben alles verloren hatte, auch seine Selbstachtung, keinen anderen Trost mehr geben konnte. "Ich höre jetzt noch Ankas prophetische Worte. Sie hämmern in meinem Hirn, bei Tag und Nacht erreichen mich laute Worte aus dem Jenseits: - du bist schuld, du hast uns ins Verderben gestürzt! Du bist schuld."

In der schmerzvollen Erinnerung an den Tag, als er einsehen mußte, daß er seine Frau und seine Tochter ihren Mördern zugeführt hatte, schreibt Perechodnik: "Tochter, Tochter, gerade heute wirst du zwei Jahre alt. Ach, wenn ich es gewußt hätte, vielleicht hätte ich dich vor zwei Jahren mit meinen eigenen Händen erdrosselt." Alles war besser als die Gewißheit, einen geliebten Menschen den SS-Männern ausgeliefert zu haben, über deren Charakter sich Perechodnik zu seiner späteren Verzweiflung bis zuletzt noch Illusionen hingegeben hatte: "Die Deutschen lassen unterdessen Stühle heranholen, sie setzen sich im Kreis, trinken Bier, rauchen, essen und lachen. Von Zeit zu Zeit schießen sie in die Menge, damit keiner aufzustehen wagt."

Es sind die mörderischen Einzelheiten, die dem Buch seinen Schrecken und sein Gewicht verleihen. Eine Jüdin, die im polnischen Teil der Stadt versteckt gelebt hatte, gab sich damals, um ihre Mutter in den Tod begleiten zu können, den deutschen Offizieren zu erkennen: "Als sie endlich dahinterkommen, worum es ihr geht, verneigen sie nicht einmal den Kopf vor ihrem Opfergang. Sie wird mit Schlagstöcken verprügelt und in die Reihe gestoßen." Ein Ghetto-Polizist, der sich ebenfalls dazu hatte verleiten lasen, seine Frau und seine Tochter auszuliefern, wandte sich, als er seinen Irrtum eingesehen hatte, mit der Bitte, getötet zu werden, an einen deutschen Offizier: "Selbstverständlich winkte der Deutsche ab. Sie töten gerne diejenigen, die leben wollen, aber nicht die, die um den Tod bitten."

Als Zeuge des Leidensweges des polnischen Judentums berichtet Perechodnik von Grausamkeiten und Verzweiflungstaten, die die Lektüre zur Qual machen - von Männern, die sich verstümmeln ließen, um nicht mehr als Juden identifiziert werden zu können, von der Plünderung und Schleifung jüdischer Häuser, von polnischen Antisemiten, die sich an den gejagten Juden bereicherten, von den eigenen Handlangerdiensten und vom Vegetieren in einer wahnsinnig gewordenen Welt: "So viele Jahre ging ich aufs Gymnasium, bekam das Abitur und das hat mich achttausend Zloty gekostet. Und heute habe ich für einen ganzen Tag auf dem Dachboden an die zweihunderttausend Zloty bezahlt."

Exemplarisch deutlich wird das furchtbare Dilemma, in dem er sich als Ghetto-Polizist befunden hatte, am Beispiel jener Frau, die er befehlsgemäß zu ihrer Exekution brachte. "Die Frau blieb dauernd stehen, versprach mir Tausende Zloty, wenn ich sie nur laufenließe. Sie bat, flehte, beschwor mich, und schließlich begann sie, mich zu verfluchen. Ich rechtfertigte mich, daß ich sie auch ohne Geld laufenließe, aber wir waren doch von der polnischen Polizei umringt und wurden von Gendarmen beobachtet." Mit sadistischer Genialität wurden so die Opfer der Judenvernichtung zu deren Vollstreckern gemacht. "Die Frau wurde hysterisch, versuchte sich loszureißen, fluchte, schrie, daß ich für ihren Tod Verantwortung trüge." Sie wurde erschossen. "Mein Glück war, daß ich ihren Namen nicht kenne. Aber was habe ich davon? Bis heute höre ich ihre Verwünschungen. Habe ich sie verdient oder nicht? Mein Gewissen bejaht es."

Mit Geschick und Glück entging Calel Perechodnik allen Selektionen und Massakern, doch er war dazu verurteilt, ein Dasein in der Hölle zu fristen. Bei einer Autofahrt durch Warschau wurde ihm klar, daß die intakte Welt, die er durchfuhr, nicht für Menschen wie ihn erschaffen war ("Würde ich das Auto verlassen, so hätte der erstbeste Polizist das Recht, mich totzuschlagen wie einen tollwütigen Hund"). Als er auf der Straße ein Mädchen sah, das ein Kind in jenem Kinderwagen spazierenschob, der einmal ihm gehört hatte, verspürte er den Wunsch, das Kind zu erwürgen: "Es ging nicht in meinen Kopf, daß ein arisches Kind das Recht hat, im geraubten Wagen zu fahren, und meine Aluska, weil sie von jüdischen Eltern stammt, nicht nur kein Recht hat, in ihrem Spazierwagen zu fahren, sondern überhaupt kein Recht zu leben." Die Not zwang ihn dazu, den Wintermantel seiner Frau zu verkaufen, was er als Sakrileg empfand ("Der Mantel ging für fünfhundert Zloty weg, und ich war an diesem Tag nicht imstande, irgend etwas zu essen"). Eines Tages fand er sich im Flur des Hauses wieder, in dem er mit seiner Frau gelebt hatte; er war nur aus alter Gewohnheit dorthin gegangen: "Ich kam erst im Treppenhaus wieder zu mir und fing bitterlich zu weinen an."

In einer absurden Anstrengung versuchte er, wenigstens noch dem Schmerz etwas abzugewinnen, womit sich leben ließ: "Ich fand Gefallen an dem Druck ums Herz, als ich die Häuser und ihre Bewohner sah, die hinter ihren Mauern in Sicherheit lebten. Es fällt mir schwer, meine Gefühle zu definieren, als ich über die Ruinen meines Lebens ging."

Was er erlitten hat, läßt sich nicht nachvollziehen oder nachempfinden, aber es tritt einem doch so drastisch vor Augen, daß es auch sein Bedürfnis nach blutiger Vergeltung erklärt. "Auf die Frage, was man mit dem geschlagenen Deutschland anfangen soll, wüßte ich nur zweierlei zu antworten", schrieb Adorno 1944. "Einmal: ich möchte um keinen Preis, unter gar keinen Bedingungen Henker sein oder Rechtstitel für Henker liefern. Dann: ich möchte keinem, und gar mit der Apparatur des Gesetzes, in den Arm fallen, der sich für Geschehenes rächt." Calel Perechodniks ohnmächtige Rachephantasien gingen weit über alles hinaus, woran Adorno damals gedacht haben mag: "Für meine kleine Tochter, für alle jüdischen Kinder würde ich hundertfache Rache nehmen. Mein Herz bebt schon vor Freude, die blassen Wangen erröten freudig bei dem Gedanken, welche psychischen und physischen Torturen ich den Deutschen vor ihrem Tod zufügen würde. Und dann, durch Blut und Rache gesättigt, kann ich zusammen mit meinen Feinden untergehen."

Für Perechodnik war es unvorstellbar, nach dem Krieg noch einmal so etwas wie ein normales Leben aufzunehmen, und er erwartete auch nicht, daß er den deutschen Vernichtungsfeldzug überleben werde: "Ich habe schon so viele Hinrichtungen gesehen, daß ich nur die Augen zu schließen brauche, um Einzelheiten meines eigenen Todes zu sehen." Es heißt, daß Calel Perechodnik 1944, während des Warschauer Aufstands, in einem Bunker verbrannt sei. Überdauert hat den Krieg Perechodniks Vermächtnis, eine verzweifelte Liebeserklärung an seine Frau und seine Tochter, von deren Leiden und Tod die Welt ohne diese Memoiren heute so wenig wüßte wie vom Leiden und vom Tod Millionen anderer, die nur als Nullen in Hochrechnungen fortleben. GERHARD HENSCHEL

Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
…mehr