Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 07.04.2006Wenn es um Leben und Tod geht, ist die Kultur kein Argument
Auch Konzepte, die sich weltanschaulich neutral nennen, sind begründungspflichtig: Drei Bücher fragen nach dem Wert des Embryos
Zu den beunruhigenden Zügen der deutschen Diskussion über den Rang von Embryonen gehört die Diskrepanz zwischen einer Rhetorik, die Würde und Lebensrecht der Ungeborenen hochhält, und einer Praxis, die davon häufig nur wenig übrigläßt. Prominentes Beispiel ist das Abtreibungsrecht, wie es zuletzt etwa von Reinhard Merkel kritisiert wurde: Einerseits hat das Bundesverfassungsgericht die nicht durch eine Indikation gedeckte Abtreibung während der ersten drei Schwangerschaftsmonate für rechtswidrig erklärt, andererseits hat es strikt untersagt, aus dem Umstand der Rechtswidrigkeit irgendwelche strafrechtlichen Konsequenzen zu ziehen. Wenn Prinzipien und Praxis derart auseinanderklaffen, ist freilich nicht stets die letztere dafür verantwortlich zu machen. Manchmal stellt eine freizügige Praxis lediglich eine verdeckte Notwehr gegen eine Semantik dar, die, obwohl sie offiziell noch aufrechterhalten wird, längst als unhaltbar durchschaut ist. Liegt es so auch im Falle des Umgangs mit dem ungeborenen Leben?
Diese Frage stand im Mittelpunkt des dem "Wert des Menschen" gewidmeten Philosophicum in Lech, dessen Beiträge jetzt von Konrad Paul Liessmann als Buch herausgegeben wurden. Die Antworten fielen so aus, wie man dies nach dem Studium der Teilnehmerliste erwarten konnte. Norbert Hoerster und Reinhard Merkel bekräftigten ihre These von der Anknüpfung des Rechts auf Leben an ein faktisches Lebensinteresse, während Robert Spaemann und Eberhard Schockenhoff ein Lebensrecht des Embryos vom Beginn seiner biologischen Existenz an verteidigten. Also alles wie gehabt? Nicht ganz. Die bisherigen Hauptargumente zugunsten eines umfassenden Lebensschutzes waren ontologischer Natur: Das genetische Entwicklungspotential eines Menschen sei mit der Verschmelzung von Ei und Samenzelle vollständig entstanden. Dieses Potential entfalte sich im Verlaufe eines kontinuierlichen biologischen Prozesses. Embryo und geborener Mensch seien identisch.
In Lech stützten Spaemann und Schockenhoff ihre Kritik an der Gegenauffassung demgegenüber in erster Linie auf ein normatives Argument. Welche Konsequenzen hätte es, so fragte Spaemann, wenn wir als Mitglieder der menschlichen Rechtsgemeinschaft nur unter der Voraussetzung anerkannt würden, daß wir bestimmte tatsächliche Eigenschaften aufwiesen? In diesem Fall läge es im Belieben der bereits anerkannten Mitglieder, diejenigen Eigenschaften zu definieren, aufgrund deren jemand Menschenwürde besitze und Menschenrechte beanspruchen dürfe. "Das aber würde den Gedanken des Menschenrechts überhaupt aufheben. Dieser setzt nämlich voraus, daß jeder Mensch als geborenes Mitglied der Menschheit kraft eigenen Rechts den anderen gegenübertritt, und dies wiederum bedeutet, daß die biologische Zugehörigkeit zur Spezies Homo sapiens allein es sein darf, die jene Minimalwürde begründet, welche wir Menschenwürde nennen."
Was ist von diesen Argumenten, den herkömmlichen sowie dem neu hinzugekommenen, zu halten? Nichts, erwidert Dieter Birnbacher. Birnbacher, einer der wenigen bekennenden Utilitaristen unter Deutschlands Philosophen, gehört hierzulande zu den Bioethikern der ersten Stunde. Eine Auswahl seiner einschlägigen Aufsätze liegt nun unter dem Titel "Bioethik zwischen Natur und Interesse" vor. Die Schwäche des Potentialitätsarguments erblickt Birnbacher darin, "daß wir in allen anderen Anwendungsfällen als dem Anwendungsfall Mensch es weit von uns weisen, ein potentielles x mit denselben Rechten und demselben Status auszustatten wie das x, zu dem sich das potentielle x normalerweise oder günstigstenfalls entwickelt". Entsprechendes gelte in bezug auf das Identitätsargument. "Kinder haben nicht dieselben Rechte und Pflichten wie die Erwachsenen, zu denen sie im Laufe der Zeit heranwachsen." Diesen Befund hat freilich niemand jemals bezweifelt. Daß Embryonen und Kinder nicht sämtliche Rechte von Erwachsenen haben, bedeutet aber nicht, daß ihnen nicht zumindest einige von deren Rechtspositionen zustehen können. Und für welches Recht liegt diese Annahme näher als für das Recht auf Leben, dessen Respektierung die Grundvoraussetzung für den Erwerb aller weiteren Rechtspositionen darstellt?
Kaum besser sieht es mit Birnbachers Kritik an der neuen, auf den Menschenwürdebegriff gestützten Begründungsstrategie seiner Gegner aus. Birnbacher erblickt darin eine problematische "Naturalisierung" jenes Begriffs. Gegenstand der von dem Prinzip der Menschenwürde geforderten Achtung sei nun "nicht mehr (nur) der Mensch als bewußtes und in personale und gesellschaftliche Bezüge eingebundenes Individuum, sondern mehr und mehr die diesem Wesen vorausliegende naturale Basis, insbesondere seine genetische Ausstattung und die Modalitäten seines Entstehens und Vergehens". Damit mißversteht Birnbacher die von ihm kritisierte Position jedoch gründlich. Schockenhoff hat dies in Lech überzeugend klargestellt. Weil Natur und Person, Leib und Ich, biologisches Individuum und moralisches Subjekt konkret immer nur als untrennbare Einheit gegeben seien, sei das Leben die unhintergehbare Voraussetzung moralischer Selbstbestimmung. In dieser Funktion, nicht kraft seiner Naturhaftigkeit als solcher, partizipiere es an der Garantie der Menschenwürde. Mit einer Apologie des Naturwüchsigen hat eine solche Begründung nichts zu tun.
Die Konsequenzen, die Birnbacher zieht, stehen den Auffassungen Hoersters und Merkels nahe. Danach ist die subjektive Erlebnisfähigkeit eines Wesens die Mindestbedingung für dessen Verletzbarkeit. "Pflichten können wir nur gegenüber Wesen haben, die zumindest ein Minimum an Subjektivität besitzen." Für menschliche Embryonen treffe dies zumindest während ihrer Frühphase nicht zu. Der moralische Status des frühen Embryos sei vielmehr dem eines Leichnams vergleichbar. "Wie der Leichnam ein Symbol der Person zu Lebzeiten ist, ist der frühe Embryo ein Symbol des Lebens, dessen Potential er in sich trägt."
Daß dem Embryo dennoch ein gewisser rechtlicher Schutz gewährt werden solle, ergibt sich Birnbacher zufolge lediglich aus der Rücksichtnahme auf die "Gefühle und Empfindlichkeit" derer, die irrationalerweise "das menschliche Leben in allen seinen Stadien, einschließlich des frühesten, für sakrosankt und menschlicher Verfügung entzogen halten". Sollte freilich das Potential der Stammzellforschung auch nur halbwegs so groß sein, wie dies von den interessierten Forschern behauptet werde, dann vermag dieser Umstand nach Birnbachers Überzeugung die Verletzung des Pietätsgefühls der Ewiggestrigen auszustechen. Bereits der Ausgangspunkt seiner Argumentation leidet an einer folgenschweren Kategorienvermengung. Birnbacher vermischt die Anforderungen an die Binnenstruktur einer moralischen Argumentation mit der Frage nach deren vermutlicher Durchsetzungsfähigkeit. Daß moralische Sätze statt durch Rückgriff auf partikuläre, etwa religiöse Traditionsbestände unter Berufung auf die allgemeinmenschliche Vernunft gerechtfertigt werden müssen, bestreiten auch Birnbachers Gegner nicht. Daraus die philosophische Überlegenheit desjenigen Wertesystems abzuleiten, das dem Überzeugungshaushalt des jeweiligen Zielpublikums mutmaßlich am besten entspricht, setzt indessen eine Faktizitätsgläubigkeit voraus, die selbst die Position Hegels noch weit in den Schatten stellt. Birnbacher würde eine solche Auffassung wahrscheinlich weit von sich weisen. Dann sollte er aber einräumen, daß er Philosophie und Gremienstrategie konfundiert und statt genuiner Philosophie eine Art Philosophie-Diplomatie betreibt.
Endgültig unhaltbar wird Birnbachers Position dort, wo sie sich mit der Feder der Toleranz schmückt, indem sie auch den Empfindlichkeiten und Ängsten der Gegenseite einen Platz innerhalb der utilitaristischen Folgenabwägung zugesteht. Denkt man diesen Gedanken zu Ende, so hinge danach die Berücksichtigungsfähigkeit einer nach der Überzeugung des Urteilenden verfehlten Position von dem Ausmaß des Krawalls ab, den die Vertreter dieser Auffassung andernfalls veranstalten würden. Ja, so mögen Politiker im Philosophenmantel kalkulieren.
"Es ist von grundlegender Bedeutung, ob der Mensch über seinen Leib als Besitz verfügt, oder ob der Leib Grundsubstanz, Fundament und Träger des Menschseins ist", schreibt Peter Wick in dem Sammelband "Kulturübergreifende Bioethik". Während Schockenhoff mit seinem Bekenntnis zur "leib-seelischen Einheit des Menschen" den letzteren Standpunkt vertritt, legt Birnbacher stillschweigend die erstgenannte Deutung zugrunde und gelangt deshalb zu dem durchaus konsequenten Schluß, daß die moralische Dignität eines physischen Bestandes von der Erlebnis- und Steuerungsfähigkeit seines Besitzers abhängt. Wick zeigt, daß beide Deutungsmodelle tief in der Geschichte des europäischen Denkens verwurzelt sind. Im Neuen Testament, wie zuvor bereits in der hebräischen Bibel, werde der Leib als Subjekt verstanden. In der Neuzeit sei hingegen die Objektvorstellung des Leibes im Vordringen begriffen.
Die Darlegungen Wicks illustrieren, daß das historische Erbe einer Kultur kaum einmal eindeutig ist, sondern typischerweise einen ganzen Fundus von Plausibilitätsvorstellungen bereithält. Welche dieser Vorstellungen ein Autor jeweils aufgreift und was er aus ihnen macht, obliegt seiner persönlichen Entscheidung und ist begründungspflichtig. Wie wenig selbstverständlich diese vermeintlich banale Erkenntnis ist, zeigt sich an der Unbefangenheit, mit der Birnbacher die weltanschauliche Neutralität seiner Konzeption preist.
Anderswo geht man freilich noch weitaus unkritischer zu Werke. So zeichnen Ole Döring am Beispiel Chinas und Jens Schlieter am Beispiel der bioethischen Diskussion in Südostasien die dort verbreitete Praxis nach, konfuzianische, buddhistische oder daoistische Klassiker als Belege für eine bestimmte, in der Regel forschungsfreundliche Position heranzuziehen, ohne daß die Auswahl im einzelnen begründet oder auch nur die Übertragbarkeit der alten Texte auf die heutigen Problemstellungen thematisiert wird. Wie Schlieter resümiert, scheint dieses eklektizistische Verfahren hauptsächlich dem Zweck zu dienen, einer Praxis, die von politischer Seite als wünschenswert angesehen wird, eine zusätzliche, vordergründig unpolitische Legitimation zu verschaffen. Verhält es sich aber so, dann lassen sich existentiell bedeutsame Belastungen einzelner Individuen nicht allein durch den Verweis auf die Besonderheiten der je eigenen Kultur, sondern nur anhand von kulturübergreifenden Begründungsstandards rechtfertigen.
Thomas Sören Hoffmann umschreibt dementsprechend in dem Band das "erste bioethische Menschenrecht" als das Recht des Menschen, "in seiner leiblichen Urposition nicht durch den Anspruch einer ,Kultur' enteignet, sondern ursprünglich und uneingeschränkt frei zu sein". Im Lichte des kantischen Gedankens von der ursprünglichen Freiheit des Menschen wird freilich nicht nur die Begründungsfaulheit des Kulturalismus offenbar, sondern auch die Unrechtlichkeit eines Präferenzutilitarismus à la Birnbacher. Auch der Nutzen vieler gibt ihnen kein Recht gegen den einzelnen. Nicht nur die chinesische Biopolitik, sondern auch ein beträchtlicher Teil der deutschen Rechtswirklichkeit versagt vor Hoffmanns Menschenrecht.
MICHAEL PAWLIK
Konrad Paul Liessmann (Hrsg.): "Der Wert des Menschen". An den Grenzen des Humanen. Philosophicum Lech, Bd. 9. Paul Zsolnay Verlag, Wien 2006. 298 S., br., 19,90 [Euro].
Dieter Birnbacher: "Bioethik zwischen Natur und Interesse". Mit einer Einleitung von Andreas Kuhlmann. Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 2006. 395 S., br., 14,- [Euro].
Thomas Eich, Thomas Sören Hoffmann (Hrsg.): "Kulturübergreifende Bioethik". Zwischen globaler Herausforderung und regionaler Perspektive. Verlag Karl Alber, Freiburg 2006. 229 S., geb., 35,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Auch Konzepte, die sich weltanschaulich neutral nennen, sind begründungspflichtig: Drei Bücher fragen nach dem Wert des Embryos
Zu den beunruhigenden Zügen der deutschen Diskussion über den Rang von Embryonen gehört die Diskrepanz zwischen einer Rhetorik, die Würde und Lebensrecht der Ungeborenen hochhält, und einer Praxis, die davon häufig nur wenig übrigläßt. Prominentes Beispiel ist das Abtreibungsrecht, wie es zuletzt etwa von Reinhard Merkel kritisiert wurde: Einerseits hat das Bundesverfassungsgericht die nicht durch eine Indikation gedeckte Abtreibung während der ersten drei Schwangerschaftsmonate für rechtswidrig erklärt, andererseits hat es strikt untersagt, aus dem Umstand der Rechtswidrigkeit irgendwelche strafrechtlichen Konsequenzen zu ziehen. Wenn Prinzipien und Praxis derart auseinanderklaffen, ist freilich nicht stets die letztere dafür verantwortlich zu machen. Manchmal stellt eine freizügige Praxis lediglich eine verdeckte Notwehr gegen eine Semantik dar, die, obwohl sie offiziell noch aufrechterhalten wird, längst als unhaltbar durchschaut ist. Liegt es so auch im Falle des Umgangs mit dem ungeborenen Leben?
Diese Frage stand im Mittelpunkt des dem "Wert des Menschen" gewidmeten Philosophicum in Lech, dessen Beiträge jetzt von Konrad Paul Liessmann als Buch herausgegeben wurden. Die Antworten fielen so aus, wie man dies nach dem Studium der Teilnehmerliste erwarten konnte. Norbert Hoerster und Reinhard Merkel bekräftigten ihre These von der Anknüpfung des Rechts auf Leben an ein faktisches Lebensinteresse, während Robert Spaemann und Eberhard Schockenhoff ein Lebensrecht des Embryos vom Beginn seiner biologischen Existenz an verteidigten. Also alles wie gehabt? Nicht ganz. Die bisherigen Hauptargumente zugunsten eines umfassenden Lebensschutzes waren ontologischer Natur: Das genetische Entwicklungspotential eines Menschen sei mit der Verschmelzung von Ei und Samenzelle vollständig entstanden. Dieses Potential entfalte sich im Verlaufe eines kontinuierlichen biologischen Prozesses. Embryo und geborener Mensch seien identisch.
In Lech stützten Spaemann und Schockenhoff ihre Kritik an der Gegenauffassung demgegenüber in erster Linie auf ein normatives Argument. Welche Konsequenzen hätte es, so fragte Spaemann, wenn wir als Mitglieder der menschlichen Rechtsgemeinschaft nur unter der Voraussetzung anerkannt würden, daß wir bestimmte tatsächliche Eigenschaften aufwiesen? In diesem Fall läge es im Belieben der bereits anerkannten Mitglieder, diejenigen Eigenschaften zu definieren, aufgrund deren jemand Menschenwürde besitze und Menschenrechte beanspruchen dürfe. "Das aber würde den Gedanken des Menschenrechts überhaupt aufheben. Dieser setzt nämlich voraus, daß jeder Mensch als geborenes Mitglied der Menschheit kraft eigenen Rechts den anderen gegenübertritt, und dies wiederum bedeutet, daß die biologische Zugehörigkeit zur Spezies Homo sapiens allein es sein darf, die jene Minimalwürde begründet, welche wir Menschenwürde nennen."
Was ist von diesen Argumenten, den herkömmlichen sowie dem neu hinzugekommenen, zu halten? Nichts, erwidert Dieter Birnbacher. Birnbacher, einer der wenigen bekennenden Utilitaristen unter Deutschlands Philosophen, gehört hierzulande zu den Bioethikern der ersten Stunde. Eine Auswahl seiner einschlägigen Aufsätze liegt nun unter dem Titel "Bioethik zwischen Natur und Interesse" vor. Die Schwäche des Potentialitätsarguments erblickt Birnbacher darin, "daß wir in allen anderen Anwendungsfällen als dem Anwendungsfall Mensch es weit von uns weisen, ein potentielles x mit denselben Rechten und demselben Status auszustatten wie das x, zu dem sich das potentielle x normalerweise oder günstigstenfalls entwickelt". Entsprechendes gelte in bezug auf das Identitätsargument. "Kinder haben nicht dieselben Rechte und Pflichten wie die Erwachsenen, zu denen sie im Laufe der Zeit heranwachsen." Diesen Befund hat freilich niemand jemals bezweifelt. Daß Embryonen und Kinder nicht sämtliche Rechte von Erwachsenen haben, bedeutet aber nicht, daß ihnen nicht zumindest einige von deren Rechtspositionen zustehen können. Und für welches Recht liegt diese Annahme näher als für das Recht auf Leben, dessen Respektierung die Grundvoraussetzung für den Erwerb aller weiteren Rechtspositionen darstellt?
Kaum besser sieht es mit Birnbachers Kritik an der neuen, auf den Menschenwürdebegriff gestützten Begründungsstrategie seiner Gegner aus. Birnbacher erblickt darin eine problematische "Naturalisierung" jenes Begriffs. Gegenstand der von dem Prinzip der Menschenwürde geforderten Achtung sei nun "nicht mehr (nur) der Mensch als bewußtes und in personale und gesellschaftliche Bezüge eingebundenes Individuum, sondern mehr und mehr die diesem Wesen vorausliegende naturale Basis, insbesondere seine genetische Ausstattung und die Modalitäten seines Entstehens und Vergehens". Damit mißversteht Birnbacher die von ihm kritisierte Position jedoch gründlich. Schockenhoff hat dies in Lech überzeugend klargestellt. Weil Natur und Person, Leib und Ich, biologisches Individuum und moralisches Subjekt konkret immer nur als untrennbare Einheit gegeben seien, sei das Leben die unhintergehbare Voraussetzung moralischer Selbstbestimmung. In dieser Funktion, nicht kraft seiner Naturhaftigkeit als solcher, partizipiere es an der Garantie der Menschenwürde. Mit einer Apologie des Naturwüchsigen hat eine solche Begründung nichts zu tun.
Die Konsequenzen, die Birnbacher zieht, stehen den Auffassungen Hoersters und Merkels nahe. Danach ist die subjektive Erlebnisfähigkeit eines Wesens die Mindestbedingung für dessen Verletzbarkeit. "Pflichten können wir nur gegenüber Wesen haben, die zumindest ein Minimum an Subjektivität besitzen." Für menschliche Embryonen treffe dies zumindest während ihrer Frühphase nicht zu. Der moralische Status des frühen Embryos sei vielmehr dem eines Leichnams vergleichbar. "Wie der Leichnam ein Symbol der Person zu Lebzeiten ist, ist der frühe Embryo ein Symbol des Lebens, dessen Potential er in sich trägt."
Daß dem Embryo dennoch ein gewisser rechtlicher Schutz gewährt werden solle, ergibt sich Birnbacher zufolge lediglich aus der Rücksichtnahme auf die "Gefühle und Empfindlichkeit" derer, die irrationalerweise "das menschliche Leben in allen seinen Stadien, einschließlich des frühesten, für sakrosankt und menschlicher Verfügung entzogen halten". Sollte freilich das Potential der Stammzellforschung auch nur halbwegs so groß sein, wie dies von den interessierten Forschern behauptet werde, dann vermag dieser Umstand nach Birnbachers Überzeugung die Verletzung des Pietätsgefühls der Ewiggestrigen auszustechen. Bereits der Ausgangspunkt seiner Argumentation leidet an einer folgenschweren Kategorienvermengung. Birnbacher vermischt die Anforderungen an die Binnenstruktur einer moralischen Argumentation mit der Frage nach deren vermutlicher Durchsetzungsfähigkeit. Daß moralische Sätze statt durch Rückgriff auf partikuläre, etwa religiöse Traditionsbestände unter Berufung auf die allgemeinmenschliche Vernunft gerechtfertigt werden müssen, bestreiten auch Birnbachers Gegner nicht. Daraus die philosophische Überlegenheit desjenigen Wertesystems abzuleiten, das dem Überzeugungshaushalt des jeweiligen Zielpublikums mutmaßlich am besten entspricht, setzt indessen eine Faktizitätsgläubigkeit voraus, die selbst die Position Hegels noch weit in den Schatten stellt. Birnbacher würde eine solche Auffassung wahrscheinlich weit von sich weisen. Dann sollte er aber einräumen, daß er Philosophie und Gremienstrategie konfundiert und statt genuiner Philosophie eine Art Philosophie-Diplomatie betreibt.
Endgültig unhaltbar wird Birnbachers Position dort, wo sie sich mit der Feder der Toleranz schmückt, indem sie auch den Empfindlichkeiten und Ängsten der Gegenseite einen Platz innerhalb der utilitaristischen Folgenabwägung zugesteht. Denkt man diesen Gedanken zu Ende, so hinge danach die Berücksichtigungsfähigkeit einer nach der Überzeugung des Urteilenden verfehlten Position von dem Ausmaß des Krawalls ab, den die Vertreter dieser Auffassung andernfalls veranstalten würden. Ja, so mögen Politiker im Philosophenmantel kalkulieren.
"Es ist von grundlegender Bedeutung, ob der Mensch über seinen Leib als Besitz verfügt, oder ob der Leib Grundsubstanz, Fundament und Träger des Menschseins ist", schreibt Peter Wick in dem Sammelband "Kulturübergreifende Bioethik". Während Schockenhoff mit seinem Bekenntnis zur "leib-seelischen Einheit des Menschen" den letzteren Standpunkt vertritt, legt Birnbacher stillschweigend die erstgenannte Deutung zugrunde und gelangt deshalb zu dem durchaus konsequenten Schluß, daß die moralische Dignität eines physischen Bestandes von der Erlebnis- und Steuerungsfähigkeit seines Besitzers abhängt. Wick zeigt, daß beide Deutungsmodelle tief in der Geschichte des europäischen Denkens verwurzelt sind. Im Neuen Testament, wie zuvor bereits in der hebräischen Bibel, werde der Leib als Subjekt verstanden. In der Neuzeit sei hingegen die Objektvorstellung des Leibes im Vordringen begriffen.
Die Darlegungen Wicks illustrieren, daß das historische Erbe einer Kultur kaum einmal eindeutig ist, sondern typischerweise einen ganzen Fundus von Plausibilitätsvorstellungen bereithält. Welche dieser Vorstellungen ein Autor jeweils aufgreift und was er aus ihnen macht, obliegt seiner persönlichen Entscheidung und ist begründungspflichtig. Wie wenig selbstverständlich diese vermeintlich banale Erkenntnis ist, zeigt sich an der Unbefangenheit, mit der Birnbacher die weltanschauliche Neutralität seiner Konzeption preist.
Anderswo geht man freilich noch weitaus unkritischer zu Werke. So zeichnen Ole Döring am Beispiel Chinas und Jens Schlieter am Beispiel der bioethischen Diskussion in Südostasien die dort verbreitete Praxis nach, konfuzianische, buddhistische oder daoistische Klassiker als Belege für eine bestimmte, in der Regel forschungsfreundliche Position heranzuziehen, ohne daß die Auswahl im einzelnen begründet oder auch nur die Übertragbarkeit der alten Texte auf die heutigen Problemstellungen thematisiert wird. Wie Schlieter resümiert, scheint dieses eklektizistische Verfahren hauptsächlich dem Zweck zu dienen, einer Praxis, die von politischer Seite als wünschenswert angesehen wird, eine zusätzliche, vordergründig unpolitische Legitimation zu verschaffen. Verhält es sich aber so, dann lassen sich existentiell bedeutsame Belastungen einzelner Individuen nicht allein durch den Verweis auf die Besonderheiten der je eigenen Kultur, sondern nur anhand von kulturübergreifenden Begründungsstandards rechtfertigen.
Thomas Sören Hoffmann umschreibt dementsprechend in dem Band das "erste bioethische Menschenrecht" als das Recht des Menschen, "in seiner leiblichen Urposition nicht durch den Anspruch einer ,Kultur' enteignet, sondern ursprünglich und uneingeschränkt frei zu sein". Im Lichte des kantischen Gedankens von der ursprünglichen Freiheit des Menschen wird freilich nicht nur die Begründungsfaulheit des Kulturalismus offenbar, sondern auch die Unrechtlichkeit eines Präferenzutilitarismus à la Birnbacher. Auch der Nutzen vieler gibt ihnen kein Recht gegen den einzelnen. Nicht nur die chinesische Biopolitik, sondern auch ein beträchtlicher Teil der deutschen Rechtswirklichkeit versagt vor Hoffmanns Menschenrecht.
MICHAEL PAWLIK
Konrad Paul Liessmann (Hrsg.): "Der Wert des Menschen". An den Grenzen des Humanen. Philosophicum Lech, Bd. 9. Paul Zsolnay Verlag, Wien 2006. 298 S., br., 19,90 [Euro].
Dieter Birnbacher: "Bioethik zwischen Natur und Interesse". Mit einer Einleitung von Andreas Kuhlmann. Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 2006. 395 S., br., 14,- [Euro].
Thomas Eich, Thomas Sören Hoffmann (Hrsg.): "Kulturübergreifende Bioethik". Zwischen globaler Herausforderung und regionaler Perspektive. Verlag Karl Alber, Freiburg 2006. 229 S., geb., 35,- [Euro].
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Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 28.04.2006Die Stimmung entscheidet
Dieter Birnbacher streitet für einen aufgeklärten Utilitarismus
Utilitaristen haben es schwer. In einem Klima von kantianisch geprägten Pflichten- oder Diskursethiken einerseits und von (krypto)christlichen Wertvorstellungen andererseits gelten Utilitaristen als kaltherzige Buchhalter der Handlungsfolgen, als zynische Berechner des größtmöglichen Nutzens. Seit den unhaltbaren bioethischen Extrempositionen Peter Singers ist der Utilitarismus zum Schreckgespenst geworden.
Trotz der schwierigen Rahmenbedingungen ist Dieter Birnbacher, Philosophieprofessor in Düsseldorf, seit Jahren eine sichere Bank in Sachen Utilitarismus: Er vertritt jedoch eine wohlreflektierte, klug dargelegte, deeskalierende Variante, die ihn von Singers Thesen deutlich unterscheidet. Gleichwohl kritisiert er die „Kampagnen” gegen den Kollegen und betont selbstbewusst die aufklärerische und „kämpferische Note” des Utilitarismus. Nicht zuletzt sein engagiertes Argumentieren hat Birnbacher zu einem der herausragenden Bioethiker werden lassen.
Bei Suhrkamp ist nun eine Sammlung von Birnbachers jüngsten Bioethik-Artikeln erschienen, die zum einen die große Bandbreite seiner Arbeiten dokumentiert - ökologische und tierethische Fragen, Suizid, Embryonenschutz, Verteilungsprobleme des Gesundheitswesens und das Stammzellgesetz werden unter anderem behandelt - und zum anderen die theoretischen Grundlagen seiner Argumentation deutlich macht. Birnbachers Texte liest man gern, sie bestechen durch rationale Klarheit und Sachkenntnis. Dass man trotz dieser philosophischen Sekundärtugenden seine Meinung am Ende nicht immer teilt, verringert den Erkenntnisgewinn keineswegs.
Einer der Gegenstände von Birnbachers theoretischen und metaethischen Vorüberlegungen sind die anthropologischen Prämissen, die sich in moralphilosophischen Diskussionen gern einschleichen. Birnbacher wendet sich gegen Argumentationen mit dem Kriterium der „Natürlichkeit” und gegen die anthropologische Überfrachtung des Personenbegriffs: die (meist metaphysisch) motivierten Versuche, Menschsein und Personsein auch in Grenzfällen zusammenfallen zu lassen, hält er für wenig plausibel, und daher will er dem Embryo den Status einer Person nicht zusprechen. Allerdings distanziert er sich auch von der Gegenposition, Singers Personenbegriff (Fähigkeit zu Selbstbewusstsein, Empfindungsfähigkeit), der bekanntlich nicht nur Embryonen, sondern auch andere Formen des menschlichen Lebens, etwa Menschen mit schwersten Behinderungen aus dem exklusiven Kreis der Personen ausschließt. Nach einer Dilemmata-Analyse fordert Birnbacher, „bioethische Diskussionen ohne den Rückgriff auf den Personenbegriff zu führen oder ihm zumindest eine weniger zentrale Funktion zuzuweisen”.
Verkraften wir Euthanasie?
Wie argumentiert man stattdessen im Rahmen einer Ethik, die es sich als einen Vorzug anrechnet, ohne Metaphysik auszukommen? Da der Utilitarismus keinen intrinsischen Wert wie die „Heiligkeit des Lebens” akzeptiert, zielt Birnbachers Argument gegen die Früheuthanasie auf das soziale Umfeld. Er fragt (mit Hans Jonas), ob wir in einer Gesellschaft leben wollen, „in der Neugeborene unter bestimmten Bedingungen getötet werden.” Diesen Punkt spitzt er in einer rhetorischen Frage zu: „Von der Abtreibung können wir mit einiger Sicherheit sagen, dass sie auch von großen Teilen der Gesellschaft verkraftet wird. Gilt das aber auch von der Tötung Neugeborener (unter wie immer restriktiven Bedingungen) - in einer Gesellschaft, die dadurch unweigerlich an die Euthanasie-Aktionen der Nazizeit erinnert wird?”
Ein gesellschaftliches Stimmungsbild zum zentralen Bestandteil der Argumentation zu machen ist tatsächlich hübsch unmetaphysisch; aber man muss schon einigermaßen hartgesotten sein, wenn man dies ohne eine Restbeklemmung als theoretisch erfrischend und moralphilosophisch befriedigend empfindet - davon abgesehen, dass die Einschätzungen der Handlungsfolgen nicht in allen Fällen eindeutig sind; manchmal, scheint es, bewegt man sich an der Grenze der Sophistik: „Es ist keineswegs immer sozial nützlich”, schreibt Birnbacher, „Menschen nach Kriterien sozialer Nützlichkeit zu beurteilen.”
Schaut man auf den Kerngehalt der utilitaristischen Argumente, kann man die Sehnsucht nach einem deontologischen Rigorismus (strikt auf Pflicht und den „guten Willen” setzend) oder sogar nach einer „natürlichen”, etwa „aristotelischen” Verankerung der moralischen Werte gut verstehen. Zurecht kann der Mensch von sich, seiner Moral und seinen Werten Gehaltvolleres erwarten. Etwas stärkere moralphilosophische Prämissen müssen nicht von vornherein verwerflich sein - unsere Kultur sollte ein Raum von überzeugenden Wertvorstellungen sein, die nicht christlich, sondern im emphatischen Sinne vernünftig sind. Ein wenig Idealismus hinsichtlich der „Natur des Menschen” kann dabei nicht schaden, eine nüchterne Abwägung der sozialen Gegebenheiten steht dem nicht entgegen. Mit gretchenhaftem Grauen vor den Utilitaristen zurückzuschrecken, ist jedoch schlicht unmündig.
OLIVER MÜLLER
DIETER BIRNBACHER: Bioethik zwischen Natur und Interesse. Mit einer Einleitung von Andreas Kuhlmann. Suhrkamp Verlag, Franfurt am Main 2006. 395 Seiten, 14 Euro.
SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Eine Dienstleistung der DIZ München GmbH
Dieter Birnbacher streitet für einen aufgeklärten Utilitarismus
Utilitaristen haben es schwer. In einem Klima von kantianisch geprägten Pflichten- oder Diskursethiken einerseits und von (krypto)christlichen Wertvorstellungen andererseits gelten Utilitaristen als kaltherzige Buchhalter der Handlungsfolgen, als zynische Berechner des größtmöglichen Nutzens. Seit den unhaltbaren bioethischen Extrempositionen Peter Singers ist der Utilitarismus zum Schreckgespenst geworden.
Trotz der schwierigen Rahmenbedingungen ist Dieter Birnbacher, Philosophieprofessor in Düsseldorf, seit Jahren eine sichere Bank in Sachen Utilitarismus: Er vertritt jedoch eine wohlreflektierte, klug dargelegte, deeskalierende Variante, die ihn von Singers Thesen deutlich unterscheidet. Gleichwohl kritisiert er die „Kampagnen” gegen den Kollegen und betont selbstbewusst die aufklärerische und „kämpferische Note” des Utilitarismus. Nicht zuletzt sein engagiertes Argumentieren hat Birnbacher zu einem der herausragenden Bioethiker werden lassen.
Bei Suhrkamp ist nun eine Sammlung von Birnbachers jüngsten Bioethik-Artikeln erschienen, die zum einen die große Bandbreite seiner Arbeiten dokumentiert - ökologische und tierethische Fragen, Suizid, Embryonenschutz, Verteilungsprobleme des Gesundheitswesens und das Stammzellgesetz werden unter anderem behandelt - und zum anderen die theoretischen Grundlagen seiner Argumentation deutlich macht. Birnbachers Texte liest man gern, sie bestechen durch rationale Klarheit und Sachkenntnis. Dass man trotz dieser philosophischen Sekundärtugenden seine Meinung am Ende nicht immer teilt, verringert den Erkenntnisgewinn keineswegs.
Einer der Gegenstände von Birnbachers theoretischen und metaethischen Vorüberlegungen sind die anthropologischen Prämissen, die sich in moralphilosophischen Diskussionen gern einschleichen. Birnbacher wendet sich gegen Argumentationen mit dem Kriterium der „Natürlichkeit” und gegen die anthropologische Überfrachtung des Personenbegriffs: die (meist metaphysisch) motivierten Versuche, Menschsein und Personsein auch in Grenzfällen zusammenfallen zu lassen, hält er für wenig plausibel, und daher will er dem Embryo den Status einer Person nicht zusprechen. Allerdings distanziert er sich auch von der Gegenposition, Singers Personenbegriff (Fähigkeit zu Selbstbewusstsein, Empfindungsfähigkeit), der bekanntlich nicht nur Embryonen, sondern auch andere Formen des menschlichen Lebens, etwa Menschen mit schwersten Behinderungen aus dem exklusiven Kreis der Personen ausschließt. Nach einer Dilemmata-Analyse fordert Birnbacher, „bioethische Diskussionen ohne den Rückgriff auf den Personenbegriff zu führen oder ihm zumindest eine weniger zentrale Funktion zuzuweisen”.
Verkraften wir Euthanasie?
Wie argumentiert man stattdessen im Rahmen einer Ethik, die es sich als einen Vorzug anrechnet, ohne Metaphysik auszukommen? Da der Utilitarismus keinen intrinsischen Wert wie die „Heiligkeit des Lebens” akzeptiert, zielt Birnbachers Argument gegen die Früheuthanasie auf das soziale Umfeld. Er fragt (mit Hans Jonas), ob wir in einer Gesellschaft leben wollen, „in der Neugeborene unter bestimmten Bedingungen getötet werden.” Diesen Punkt spitzt er in einer rhetorischen Frage zu: „Von der Abtreibung können wir mit einiger Sicherheit sagen, dass sie auch von großen Teilen der Gesellschaft verkraftet wird. Gilt das aber auch von der Tötung Neugeborener (unter wie immer restriktiven Bedingungen) - in einer Gesellschaft, die dadurch unweigerlich an die Euthanasie-Aktionen der Nazizeit erinnert wird?”
Ein gesellschaftliches Stimmungsbild zum zentralen Bestandteil der Argumentation zu machen ist tatsächlich hübsch unmetaphysisch; aber man muss schon einigermaßen hartgesotten sein, wenn man dies ohne eine Restbeklemmung als theoretisch erfrischend und moralphilosophisch befriedigend empfindet - davon abgesehen, dass die Einschätzungen der Handlungsfolgen nicht in allen Fällen eindeutig sind; manchmal, scheint es, bewegt man sich an der Grenze der Sophistik: „Es ist keineswegs immer sozial nützlich”, schreibt Birnbacher, „Menschen nach Kriterien sozialer Nützlichkeit zu beurteilen.”
Schaut man auf den Kerngehalt der utilitaristischen Argumente, kann man die Sehnsucht nach einem deontologischen Rigorismus (strikt auf Pflicht und den „guten Willen” setzend) oder sogar nach einer „natürlichen”, etwa „aristotelischen” Verankerung der moralischen Werte gut verstehen. Zurecht kann der Mensch von sich, seiner Moral und seinen Werten Gehaltvolleres erwarten. Etwas stärkere moralphilosophische Prämissen müssen nicht von vornherein verwerflich sein - unsere Kultur sollte ein Raum von überzeugenden Wertvorstellungen sein, die nicht christlich, sondern im emphatischen Sinne vernünftig sind. Ein wenig Idealismus hinsichtlich der „Natur des Menschen” kann dabei nicht schaden, eine nüchterne Abwägung der sozialen Gegebenheiten steht dem nicht entgegen. Mit gretchenhaftem Grauen vor den Utilitaristen zurückzuschrecken, ist jedoch schlicht unmündig.
OLIVER MÜLLER
DIETER BIRNBACHER: Bioethik zwischen Natur und Interesse. Mit einer Einleitung von Andreas Kuhlmann. Suhrkamp Verlag, Franfurt am Main 2006. 395 Seiten, 14 Euro.
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Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
Scharf geht Rezensent Michael Pawlik mit den nun vorliegenden Aufsätzen des "bekennenden Utilitaristen" und Bioethikers Dieter Birnbacher ins Gericht. Vor allem Birnbachers Überlegungen zum Wert menschlicher Embryonen sowie seine Auseinandersetzung mit Autoren, die für einen umfassenden Lebensschutz argumentieren, fordern Pawlik heraus. Kritik übt er an der Auffassung des Autors, die subjektive Erlebnisfähigkeit eines Wesens sei Mindestbedingung für dessen Verletzbarkeit. Bei menschlichen Embryonen sehe der Autor das Kriterium der Subjektivität zumindest in der Frühphase nicht gegeben, weshalb wir ihnen gegenüber auch keine Pflichten hätten. Geradezu verärgert zeigt sich Pawlik darüber, dass sich Birnbacher "mit der Feder der Toleranz schmückt", wenn er auch den Empfindlichkeiten und Ängsten der Gegenseite einen Platz innerhalb der utilitaristischen Folgenabwägung zugesteht.
© Perlentaucher Medien GmbH
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»[Birnbacher] gibt eine anspruchsvolle Zusammenfassung seiner Positionen zu Fragen der Bioethik. Klarheit, Präzision und profundes Wissen fallen in allen Artikeln Birnbachers auf. Der Leser gewinnt einen fundierten Eindruck in die jeweilige Fragestellung, da Birnbacher zumeist den state of the art referiert, bevor er seine eigene Position darstellt.« Stefan Lorenz Sorgner Spektrum der Wissenschaft