Diese zwischen Dokumentation und Fiktion changierenden Fallgeschichten leisten einen wichtigen Beitrag zur Anthropologie der Aufklärung, die den Menschen bevorzugt auf den Schattenseiten von Wahn, Verbrechen oder Suizid erforscht.Für Walter Benjamin verkörperte er, »was die Deutschen lasen, während ihre Klassiker schrieben«: Christian Heinrich Spieß fesselte als Erfolgsschriftsteller tatsächlich ein großes Publikum mit pikanten Erzählungen über die Triebnatur des Menschen. Seine »Biographien der Wahnsinnigen« sind dank einer Neuauswahl heute noch verfügbar, die »Biographien der Selbstmörder« (1785-1789) hingegen in Bibliotheken nur selten zu finden. Diese zwischen Dokumentation und Fiktion changierenden Fallgeschichten leisten über ihren Unterhaltungswert hinaus einen wichtigen Beitrag zur Anthropologie der Aufklärung. Sie zeigen, daß Werther kein Einzelfall blieb, Suizid vielmehr zum brennenden Modethema des melancholischen Zeitalters wurde: Theologen, Philosophen, Mediziner, Kriminalpsychologen, Historiker, Juristen und eben Literaten wandten sich diesem uralten Tabu im Zeichen der Säkularisation intensiv zu. Auch Karl Philipp Moritz baute für seine programmatische Erfahrungsseelenkunde auf die »Geschichte der Missethäter und der Selbstmörder« als vorzüglichsten Stoff. Spieß liefert dafür beängstigende und rührende Beispiele, die seinen Lesern unerwartete Einblicke in die sozialen und psychologischen Motive von Suizidenten gewähren: Liebe, Ehrgeiz, Armut, Wollust, Schwermut, Todesangst lauten die Rubriken der Sammlung. Unaufdringlich und geschickt fügt Spieß so seine moraldidaktischen Absichten in ein unterhaltsames Genre ein, das im Gegensatz zu zahlreichen Abhandlungen über Selbstmord das große Publikum wirklich erreichte und aufklärte.
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