Produktdetails
- Verlag: EOS Verlag
- 1., Aufl.
- Seitenzahl: 871
- Deutsch
- Abmessung: 302mm x 220mm
- Gewicht: 2650g
- ISBN-13: 9783000126260
- ISBN-10: 3000126260
- Artikelnr.: 12963161
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 12.12.2003Ein überfälliges Denkmal
Der erste Band über Münchens ermordete Juden
Erika Bock, geboren am 3. September 1930 in München, wurde nur elf Jahre alt. Von ihr geblieben ist ein Foto, versehen mit zwei Stempeln, auf denen der Reichsadler samt Hakenkreuz prangt: ein ernstes, fast fragiles Kindergesicht, das Haar exakt gescheitelt, das linke Ohr freigelegt. Ihre letzte Adresse war die Lindwurmstraße 13, dritter Stock. Was man sonst von ihr weiß, steht in dürren Worten neben ihrem Porträt: „Deportiert am 20.11.1941 nach Kaunas. Ermordet in Kaunas am 25.11.1941.” Dazu der Nachsatz: „Die Familie Bock versuchte vergeblich im Winter 1938 nach Palästina und im Sommer 1939 in die USA auszuwandern.”
Erika war Jüdin. Ihr Vater Ernst Bock arbeitete als Provisionsvertreter für Schuhwaren in der Marsstraße. Er und seine Frau Hilde wurden am selben Tag wie ihre Tochter in Kaunas, Litauen, von den Nazis oder ihren Helfern umgebracht. Drei Leidenswege, an deren Ende der gewaltsame Tod stand. Wollte man allen Opfern gerecht werden, müssten hier mehr als 3000 weitere Namen stehen. So weit bekannt ist, haben die Nazis 3040 jüdische Männer, Frauen und Kinder aus München deportiert und ermordet. Selbst diese Zahl belegt nicht vollständig das Ausmaß der Vernichtungsgewalt, der die jüdischen Bürger Münchens im Dritten Reich ausgesetzt waren. 276 haben zwischen 1933 und 1945 den Freitod gewählt, die meisten vermutlich, weil sie aufgrund der Verfolgung keinen Ausweg wussten. Etwa 8000 sind vor dem mörderischen Regime ins Ausland geflohen. Vor 1933 lebten mehr als 12 000 jüdische Menschen in München. Bis auf ein paar Dutzend waren zum Ende des Krieges alle aus der Stadt verschwunden.
Zahlen, die die Effizienz der Mordmaschinerie dokumentieren – doch hinter ihnen verschwindet leicht das Leid, das dem Einzelnen zugefügt wurde. Gestern hat das Münchner Stadtarchiv den ersten Band des „Biographischen Gedenkbuchs der Münchner Juden 1933-1945” vorgestellt. Ziel des Projekts ist, möglichst viele Informationen über Leben und Sterben der Opfer zusammenzutragen und zu publizieren. Wenn der zweite Band vollendet ist – voraussichtlich im nächsten Jahr – liegen 4596 Kurzbiographien vor. Aufgeführt sind die Lebensskizzen all jener Münchner Bürger jüdischen Glaubens und jüdischer Herkunft, die in den Vernichtungsstätten der Nazis umgekommen sind. Ferner dokumentiert das Buch die Lebensläufe von denjenigen, die Suizid verübt haben sowie von den Juden, die zwischen 1933 und 1945 in München eines amtlich beurkundeten „natürlichen” Todes gestorben sind.
„Das Buch ist nichts anderes als ein längst überfälliges Denkmal, das die Stadt den jüdischen Mitbürgern widmet, die den Holocaust nicht überlebt haben”, sagte OB Christian Ude bei der Buchpräsentation im Rathaus. Charlotte Knobloch, die Präsidentin der Israelitischen Kultusgemeinde, fügte hinzu: „Mit diesem Gedenkbuch bekommen die Menschen ihr Gesicht und ihre Würde wieder.”
Sowohl Ude als auch Knobloch verteidigten den Beschluss des Ältestenrats, sich nicht, wie andere Städte, an der Aktion „Stolpersteine” des Künstlers Gunter Demnig zu beteiligen. Demnigs Idee ist, Gedenksteine in das Pflaster von Gehwegen einzulassen, die an die Opfer der Nazis erinnern. Charlotte Knobloch nannte es eine „abscheuliche und entsetzliche” Vorstellung, wenn Passanten über die Steine hinweggehen, ohne zu wissen, was sie bedeuten. Ude berichtete, dass er häufig Briefe von München-Besuchern bekomme, die sich über das Kurt-Eisner-Denkmal beklagten, das ebenfalls in den Boden eingelassen ist. „Dies kann auch als weitere Diskriminierung gesehen werden”, sagte der OB. Zudem hält Ude es für ausgeschlossen, dass man genug zahlungskräftige Paten finden werde, um alle 4500 Münchner Opfer mit einem Stolperstein zu würdigen. Damit habe man das „fürchterliche Problem” der Auswahl: „Warum soll es für 137 eine individuelle Erinnerung geben und für mehr als 4000 andere nicht”, fragte Ude.
Marian Offman, CSU-Stadtrat und Vorstandsmitglied der Israelitischen Kultusgemeinde, sagte am Rande der Veranstaltung: „Als ich von der Idee hörte, war in mir sofort das Bild der Münchner Jüdinnen und Juden, die mit Zahnbürsten von den Nazis gezwungen worden sind, die Gehsteige zu reinigen. Ich finde Namen Verstorbener, Ermordeter im Gehsteig eingelassen, in dem sich dann vielleicht die Neonazis den Schmutz ihrer Springerstiefel abwischen können – eine unerträgliche Vorstellung”
Wolfgang Görl
Das Kaufhaus Uhlfelder nach dem Pogrom vom 9. November – systematisch vernichteten die Nazis das jüdische Leben in München.
Foto: Stadtarchiv
Das Kaufhaus Uhlfelder nach dem Pogrom vom 9. November – systematisch vernichteten die Nazis das jüdische Leben in München.
Foto: Stadtarchiv
Ein überfälliges Denkmal
Der erste Band über Münchens ermordete Juden
Erika Bock, geboren am 3. September 1930 in München, wurde nur elf Jahre alt. Von ihr geblieben ist ein Foto, versehen mit zwei Stempeln, auf denen der Reichsadler samt Hakenkreuz prangt: ein ernstes, fast fragiles Kindergesicht, das Haar exakt gescheitelt, das linke Ohr freigelegt. Ihre letzte Adresse war die Lindwurmstraße 13, dritter Stock. Was man sonst von ihr weiß, steht in dürren Worten neben ihrem Porträt: „Deportiert am 20.11.1941 nach Kaunas. Ermordet in Kaunas am 25.11.1941.” Dazu der Nachsatz: „Die Familie Bock versuchte vergeblich im Winter 1938 nach Palästina und im Sommer 1939 in die USA auszuwandern.”
Erika war Jüdin. Ihr Vater Ernst Bock arbeitete als Provisionsvertreter für Schuhwaren in der Marsstraße. Er und seine Frau Hilde wurden am selben Tag wie ihre Tochter in Kaunas, Litauen, von den Nazis oder ihren Helfern umgebracht. Drei Leidenswege, an deren Ende der gewaltsame Tod stand. Wollte man allen Opfern gerecht werden, müssten hier mehr als 3000 weitere Namen stehen. So weit bekannt ist, haben die Nazis 3040 jüdische Männer, Frauen und Kinder aus München deportiert und ermordet. Selbst diese Zahl belegt nicht vollständig das Ausmaß der Vernichtungsgewalt, der die jüdischen Bürger Münchens im Dritten Reich ausgesetzt waren. 276 haben zwischen 1933 und 1945 den Freitod gewählt, die meisten vermutlich, weil sie aufgrund der Verfolgung keinen Ausweg wussten. Etwa 8000 sind vor dem mörderischen Regime ins Ausland geflohen. Vor 1933 lebten mehr als 12 000 jüdische Menschen in München. Bis auf ein paar Dutzend waren zum Ende des Krieges alle aus der Stadt verschwunden.
Zahlen, die die Effizienz der Mordmaschinerie dokumentieren – doch hinter ihnen verschwindet leicht das Leid, das dem Einzelnen zugefügt wurde. Gestern hat das Münchner Stadtarchiv den ersten Band des „Biographischen Gedenkbuchs der Münchner Juden 1933-1945” vorgestellt. Ziel des Projekts ist, möglichst viele Informationen über Leben und Sterben der Opfer zusammenzutragen und zu publizieren. Wenn der zweite Band vollendet ist – voraussichtlich im nächsten Jahr – liegen 4596 Kurzbiographien vor. Aufgeführt sind die Lebensskizzen all jener Münchner Bürger jüdischen Glaubens und jüdischer Herkunft, die in den Vernichtungsstätten der Nazis umgekommen sind. Ferner dokumentiert das Buch die Lebensläufe von denjenigen, die Suizid verübt haben sowie von den Juden, die zwischen 1933 und 1945 in München eines amtlich beurkundeten „natürlichen” Todes gestorben sind.
„Das Buch ist nichts anderes als ein längst überfälliges Denkmal, das die Stadt den jüdischen Mitbürgern widmet, die den Holocaust nicht überlebt haben”, sagte OB Christian Ude bei der Buchpräsentation im Rathaus. Charlotte Knobloch, die Präsidentin der Israelitischen Kultusgemeinde, fügte hinzu: „Mit diesem Gedenkbuch bekommen die Menschen ihr Gesicht und ihre Würde wieder.”
Sowohl Ude als auch Knobloch verteidigten den Beschluss des Ältestenrats, sich nicht, wie andere Städte, an der Aktion „Stolpersteine” des Künstlers Gunter Demnig zu beteiligen. Demnigs Idee ist, Gedenksteine in das Pflaster von Gehwegen einzulassen, die an die Opfer der Nazis erinnern. Charlotte Knobloch nannte es eine „abscheuliche und entsetzliche” Vorstellung, wenn Passanten über die Steine hinweggehen, ohne zu wissen, was sie bedeuten. Ude berichtete, dass er häufig Briefe von München-Besuchern bekomme, die sich über das Kurt-Eisner-Denkmal beklagten, das ebenfalls in den Boden eingelassen ist. „Dies kann auch als weitere Diskriminierung gesehen werden”, sagte der OB. Zudem hält Ude es für ausgeschlossen, dass man genug zahlungskräftige Paten finden werde, um alle 4500 Münchner Opfer mit einem Stolperstein zu würdigen. Damit habe man das „fürchterliche Problem” der Auswahl: „Warum soll es für 137 eine individuelle Erinnerung geben und für mehr als 4000 andere nicht”, fragte Ude.
Marian Offman, CSU-Stadtrat und Vorstandsmitglied der Israelitischen Kultusgemeinde, sagte am Rande der Veranstaltung: „Als ich von der Idee hörte, war in mir sofort das Bild der Münchner Jüdinnen und Juden, die mit Zahnbürsten von den Nazis gezwungen worden sind, die Gehsteige zu reinigen. Ich finde Namen Verstorbener, Ermordeter im Gehsteig eingelassen, in dem sich dann vielleicht die Neonazis den Schmutz ihrer Springerstiefel abwischen können – eine unerträgliche Vorstellung”
Wolfgang Görl
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Der erste Band über Münchens ermordete Juden
Erika Bock, geboren am 3. September 1930 in München, wurde nur elf Jahre alt. Von ihr geblieben ist ein Foto, versehen mit zwei Stempeln, auf denen der Reichsadler samt Hakenkreuz prangt: ein ernstes, fast fragiles Kindergesicht, das Haar exakt gescheitelt, das linke Ohr freigelegt. Ihre letzte Adresse war die Lindwurmstraße 13, dritter Stock. Was man sonst von ihr weiß, steht in dürren Worten neben ihrem Porträt: „Deportiert am 20.11.1941 nach Kaunas. Ermordet in Kaunas am 25.11.1941.” Dazu der Nachsatz: „Die Familie Bock versuchte vergeblich im Winter 1938 nach Palästina und im Sommer 1939 in die USA auszuwandern.”
Erika war Jüdin. Ihr Vater Ernst Bock arbeitete als Provisionsvertreter für Schuhwaren in der Marsstraße. Er und seine Frau Hilde wurden am selben Tag wie ihre Tochter in Kaunas, Litauen, von den Nazis oder ihren Helfern umgebracht. Drei Leidenswege, an deren Ende der gewaltsame Tod stand. Wollte man allen Opfern gerecht werden, müssten hier mehr als 3000 weitere Namen stehen. So weit bekannt ist, haben die Nazis 3040 jüdische Männer, Frauen und Kinder aus München deportiert und ermordet. Selbst diese Zahl belegt nicht vollständig das Ausmaß der Vernichtungsgewalt, der die jüdischen Bürger Münchens im Dritten Reich ausgesetzt waren. 276 haben zwischen 1933 und 1945 den Freitod gewählt, die meisten vermutlich, weil sie aufgrund der Verfolgung keinen Ausweg wussten. Etwa 8000 sind vor dem mörderischen Regime ins Ausland geflohen. Vor 1933 lebten mehr als 12 000 jüdische Menschen in München. Bis auf ein paar Dutzend waren zum Ende des Krieges alle aus der Stadt verschwunden.
Zahlen, die die Effizienz der Mordmaschinerie dokumentieren – doch hinter ihnen verschwindet leicht das Leid, das dem Einzelnen zugefügt wurde. Gestern hat das Münchner Stadtarchiv den ersten Band des „Biographischen Gedenkbuchs der Münchner Juden 1933-1945” vorgestellt. Ziel des Projekts ist, möglichst viele Informationen über Leben und Sterben der Opfer zusammenzutragen und zu publizieren. Wenn der zweite Band vollendet ist – voraussichtlich im nächsten Jahr – liegen 4596 Kurzbiographien vor. Aufgeführt sind die Lebensskizzen all jener Münchner Bürger jüdischen Glaubens und jüdischer Herkunft, die in den Vernichtungsstätten der Nazis umgekommen sind. Ferner dokumentiert das Buch die Lebensläufe von denjenigen, die Suizid verübt haben sowie von den Juden, die zwischen 1933 und 1945 in München eines amtlich beurkundeten „natürlichen” Todes gestorben sind.
„Das Buch ist nichts anderes als ein längst überfälliges Denkmal, das die Stadt den jüdischen Mitbürgern widmet, die den Holocaust nicht überlebt haben”, sagte OB Christian Ude bei der Buchpräsentation im Rathaus. Charlotte Knobloch, die Präsidentin der Israelitischen Kultusgemeinde, fügte hinzu: „Mit diesem Gedenkbuch bekommen die Menschen ihr Gesicht und ihre Würde wieder.”
Sowohl Ude als auch Knobloch verteidigten den Beschluss des Ältestenrats, sich nicht, wie andere Städte, an der Aktion „Stolpersteine” des Künstlers Gunter Demnig zu beteiligen. Demnigs Idee ist, Gedenksteine in das Pflaster von Gehwegen einzulassen, die an die Opfer der Nazis erinnern. Charlotte Knobloch nannte es eine „abscheuliche und entsetzliche” Vorstellung, wenn Passanten über die Steine hinweggehen, ohne zu wissen, was sie bedeuten. Ude berichtete, dass er häufig Briefe von München-Besuchern bekomme, die sich über das Kurt-Eisner-Denkmal beklagten, das ebenfalls in den Boden eingelassen ist. „Dies kann auch als weitere Diskriminierung gesehen werden”, sagte der OB. Zudem hält Ude es für ausgeschlossen, dass man genug zahlungskräftige Paten finden werde, um alle 4500 Münchner Opfer mit einem Stolperstein zu würdigen. Damit habe man das „fürchterliche Problem” der Auswahl: „Warum soll es für 137 eine individuelle Erinnerung geben und für mehr als 4000 andere nicht”, fragte Ude.
Marian Offman, CSU-Stadtrat und Vorstandsmitglied der Israelitischen Kultusgemeinde, sagte am Rande der Veranstaltung: „Als ich von der Idee hörte, war in mir sofort das Bild der Münchner Jüdinnen und Juden, die mit Zahnbürsten von den Nazis gezwungen worden sind, die Gehsteige zu reinigen. Ich finde Namen Verstorbener, Ermordeter im Gehsteig eingelassen, in dem sich dann vielleicht die Neonazis den Schmutz ihrer Springerstiefel abwischen können – eine unerträgliche Vorstellung”
Wolfgang Görl
Das Kaufhaus Uhlfelder nach dem Pogrom vom 9. November – systematisch vernichteten die Nazis das jüdische Leben in München.
Foto: Stadtarchiv
Das Kaufhaus Uhlfelder nach dem Pogrom vom 9. November – systematisch vernichteten die Nazis das jüdische Leben in München.
Foto: Stadtarchiv
Ein überfälliges Denkmal
Der erste Band über Münchens ermordete Juden
Erika Bock, geboren am 3. September 1930 in München, wurde nur elf Jahre alt. Von ihr geblieben ist ein Foto, versehen mit zwei Stempeln, auf denen der Reichsadler samt Hakenkreuz prangt: ein ernstes, fast fragiles Kindergesicht, das Haar exakt gescheitelt, das linke Ohr freigelegt. Ihre letzte Adresse war die Lindwurmstraße 13, dritter Stock. Was man sonst von ihr weiß, steht in dürren Worten neben ihrem Porträt: „Deportiert am 20.11.1941 nach Kaunas. Ermordet in Kaunas am 25.11.1941.” Dazu der Nachsatz: „Die Familie Bock versuchte vergeblich im Winter 1938 nach Palästina und im Sommer 1939 in die USA auszuwandern.”
Erika war Jüdin. Ihr Vater Ernst Bock arbeitete als Provisionsvertreter für Schuhwaren in der Marsstraße. Er und seine Frau Hilde wurden am selben Tag wie ihre Tochter in Kaunas, Litauen, von den Nazis oder ihren Helfern umgebracht. Drei Leidenswege, an deren Ende der gewaltsame Tod stand. Wollte man allen Opfern gerecht werden, müssten hier mehr als 3000 weitere Namen stehen. So weit bekannt ist, haben die Nazis 3040 jüdische Männer, Frauen und Kinder aus München deportiert und ermordet. Selbst diese Zahl belegt nicht vollständig das Ausmaß der Vernichtungsgewalt, der die jüdischen Bürger Münchens im Dritten Reich ausgesetzt waren. 276 haben zwischen 1933 und 1945 den Freitod gewählt, die meisten vermutlich, weil sie aufgrund der Verfolgung keinen Ausweg wussten. Etwa 8000 sind vor dem mörderischen Regime ins Ausland geflohen. Vor 1933 lebten mehr als 12 000 jüdische Menschen in München. Bis auf ein paar Dutzend waren zum Ende des Krieges alle aus der Stadt verschwunden.
Zahlen, die die Effizienz der Mordmaschinerie dokumentieren – doch hinter ihnen verschwindet leicht das Leid, das dem Einzelnen zugefügt wurde. Gestern hat das Münchner Stadtarchiv den ersten Band des „Biographischen Gedenkbuchs der Münchner Juden 1933-1945” vorgestellt. Ziel des Projekts ist, möglichst viele Informationen über Leben und Sterben der Opfer zusammenzutragen und zu publizieren. Wenn der zweite Band vollendet ist – voraussichtlich im nächsten Jahr – liegen 4596 Kurzbiographien vor. Aufgeführt sind die Lebensskizzen all jener Münchner Bürger jüdischen Glaubens und jüdischer Herkunft, die in den Vernichtungsstätten der Nazis umgekommen sind. Ferner dokumentiert das Buch die Lebensläufe von denjenigen, die Suizid verübt haben sowie von den Juden, die zwischen 1933 und 1945 in München eines amtlich beurkundeten „natürlichen” Todes gestorben sind.
„Das Buch ist nichts anderes als ein längst überfälliges Denkmal, das die Stadt den jüdischen Mitbürgern widmet, die den Holocaust nicht überlebt haben”, sagte OB Christian Ude bei der Buchpräsentation im Rathaus. Charlotte Knobloch, die Präsidentin der Israelitischen Kultusgemeinde, fügte hinzu: „Mit diesem Gedenkbuch bekommen die Menschen ihr Gesicht und ihre Würde wieder.”
Sowohl Ude als auch Knobloch verteidigten den Beschluss des Ältestenrats, sich nicht, wie andere Städte, an der Aktion „Stolpersteine” des Künstlers Gunter Demnig zu beteiligen. Demnigs Idee ist, Gedenksteine in das Pflaster von Gehwegen einzulassen, die an die Opfer der Nazis erinnern. Charlotte Knobloch nannte es eine „abscheuliche und entsetzliche” Vorstellung, wenn Passanten über die Steine hinweggehen, ohne zu wissen, was sie bedeuten. Ude berichtete, dass er häufig Briefe von München-Besuchern bekomme, die sich über das Kurt-Eisner-Denkmal beklagten, das ebenfalls in den Boden eingelassen ist. „Dies kann auch als weitere Diskriminierung gesehen werden”, sagte der OB. Zudem hält Ude es für ausgeschlossen, dass man genug zahlungskräftige Paten finden werde, um alle 4500 Münchner Opfer mit einem Stolperstein zu würdigen. Damit habe man das „fürchterliche Problem” der Auswahl: „Warum soll es für 137 eine individuelle Erinnerung geben und für mehr als 4000 andere nicht”, fragte Ude.
Marian Offman, CSU-Stadtrat und Vorstandsmitglied der Israelitischen Kultusgemeinde, sagte am Rande der Veranstaltung: „Als ich von der Idee hörte, war in mir sofort das Bild der Münchner Jüdinnen und Juden, die mit Zahnbürsten von den Nazis gezwungen worden sind, die Gehsteige zu reinigen. Ich finde Namen Verstorbener, Ermordeter im Gehsteig eingelassen, in dem sich dann vielleicht die Neonazis den Schmutz ihrer Springerstiefel abwischen können – eine unerträgliche Vorstellung”
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