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Im Zusammenhang mit der Sozialhygiene des Gesellschaftskörpers, der gereinigt und freigehalten werden soll von degenerierten und degenerierenden Kräften, hat Foucault in der letzten Sitzung seiner Vorlesung Il faut défendre la société eine Bestimmung des Rassismus geprägt, die auch das aktuelle Begehren hinter der Präimplantations- und der pränatalen Diagnostik, geistig oder körperlich behinderte Kinder gar nicht erst zur Welt kommen zu lassen, in ein grelles Licht rückt: »Was ist der Rassismus letztendlich? Zunächst ein Mittel, um in diesen Bereich des Lebens, den die Macht in Beschlag…mehr

Produktbeschreibung
Im Zusammenhang mit der Sozialhygiene des Gesellschaftskörpers, der gereinigt und freigehalten werden soll von degenerierten und degenerierenden Kräften, hat Foucault in der letzten Sitzung seiner Vorlesung Il faut défendre la société eine Bestimmung des Rassismus geprägt, die auch das aktuelle Begehren hinter der Präimplantations- und der pränatalen Diagnostik, geistig oder körperlich behinderte Kinder gar nicht erst zur Welt kommen zu lassen, in ein grelles Licht rückt: »Was ist der Rassismus letztendlich? Zunächst ein Mittel, um in diesen Bereich des Lebens, den die Macht in Beschlag genommen hat, eine Zäsur einzuführen: die Zäsur zwischen dem, was leben soll, und dem, was sterben muß.« Im Licht dieser Entscheidung verliert der Begriff »Biopolitik« die Unschuld der Neutralität, mit der er - ohne Wissen um seine Bedeutung im Werk Foucaults - zunehmend gebraucht wird. In exemplarischen historischen Fallstudien, deren Fluchtpunkt jeweils in der Gegenwart liegt, zeichnen die Autoren die Geschichte der Entscheidung darüber, »was leben soll und was sterben muß«, nach.

Autorenporträt
Stingelin, MartinMartin Stingelin ist Professor für Neuere deutsche Literaturwissenschaft am Deutschen Seminar der Universität Basel.
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 04.11.2003

Rassismus, frisch auf den Labortisch
Martin Stingelin lädt zur Bio-Politik / Von Michael Jeismann

Lange hat es nicht gedauert nach dem großen Aufatmen von 1989, bis neue Zwänge und neues Zwangsdenken sich breit machten. Soviel war mit dem Ostblock zu Ende gegangen, daß man schon vom Ende der Ideologien oder gar dem Ende der Geschichte zu sprechen begann. Es kam bekanntlich anders.

Man schaute rückwärts: Die großen Gegenwartsdebatten der neunziger Jahre waren Vergangenheitsdebatten, und von heute aus betrachtet scheint es so, als habe die Erinnerung noch einmal die Schreckensgeschichte des zwanzigsten Jahrhunderts von der Judenvernichtung bis zur Vertreibung sich vor Augen halten müssen. Am Beispiel des umstrittenen Zentrums für Vertreibungen kann man verfolgen, wie diese politische Erinnerung sich nach und nach unter vielerlei Kämpfen justiert und ausbalanciert. Während dieser Prozeß noch im Gang ist, ist im Rücken dieser Vergangenheitsklärung eine Zukunft heraufgezogen wie eine grollende Gewitterwand. Und wer genau hinschaut, sieht darin Energien, die sich aus anderen Vergangenheiten herleiten, aus weniger beachteten Nebengeschichten, ja aus dem Abseitigen des achtzehnten und neunzehnten Jahrhunderts.

Man schaut vorwärts, merkt indessen, daß man wiederum rückwärts schauen muß, aber mit einem anderen Blickwinkel als bisher, um auch nur irgend etwas erkennen zu können. Das trifft für viele Lebens- und Wissensgebiete zu, von der Kommunikation über die Migration bis hin zu den politischen Grundbegriffen von Demokratie und internationalisierter Konfliktlösung. Wenn nicht mehr das Gegeneinander von Ost - West, von Sozialismus versus Kapitalismus das grundlegende Ordnungsschema ist, was tritt dann an seine Stelle? Unwahrscheinlich jedenfalls, daß der Platz leer bleibt: Wenn alle Geschichte die Geschichte von Unterscheidungen ist, dann muß die Frage lauten: Welche neuen Unterscheidungen werden nun neue Geschichten antreiben? Nach der Entschlüsselung des genetischen Codes und mit den Fortschritten der Reproduktionsmedizin ist absehbar, daß bei diesen Unterscheidungen biologische Kriterien eine bedeutende Rolle spielen werden. Dies kündigt sich in einem ganzen Schub von Begriffsgeläufigkeiten an, der nach und nach die Begriffe gesellschaftlichen und individuellen Selbstverständnisses umformt.

Wir stehen vor der Fortsetzung einer alten Geschichte mit neuen Mitteln. Man kann es auch so sagen wie Martin Stingelin, der Herausgeber des Bandes "Biopolitik und Rassismus": Was leben soll und was sterben muß, das ist eine Frage, der man nicht mehr ausweichen kann, weil die Technik sie möglich macht. Sie beantworten zu wollen unter den neuen Bedingungen der Biotechnik berührt eine solche Menge grundsätzlicher Fragen, daß zu befürchten steht, es könnte am Ende allein die schiere Macht zu entscheiden schon die Antwort sein. Einer der wenigen Geisteswissenschaftler, der sich früh für die untergründigen Diskurse, für die Vertäfelung des sozialen Lebens interessiert hat, war der 1984 gestorbene französische Philosoph und Historiker Michel Foucault.

Im Medium seiner Schriften und inspiriert durch ihn betrachten in diesem Band eine Reihe ausgewiesener Wissenschaftler verschiedener Fakultäten den Körper als Schauplatz der Historie. Das Spektrum reicht von "Wert und Unwert des Lebens" bei Nietzsche (Hubert Thüring) über "Die Geburt der modernen Reproduktionsmedizin" bis hin zu Erörterung der Begrifflichkeit bei Foucault und der "Gegenwart der Eugenik". Am Kern der Verbindung operiert Philipp Sarasin, indem er die Frage aufwirft, ob es denn zweierlei Rassismus geben könne: einen traditionellen, der zum Beispiel Schwarze oder Asiaten ablehnt, und einen anderen, positiven Rassismus, der scheinbar harmlos nur das Beste für die Menschen will, Fehlbildungen vermindern oder vermeiden, das genetische Material zu verbessern sucht. Sarasin argumentiert überzeugend, daß man sich gefaßt zu machen hat auf neue Definitionen des Fremden und Minderwertigen: die genetische Wahrscheinlichkeit, bestimmte Krankheiten zu bekommen, bestimmte Eigenschaften zu haben oder nicht zu haben, zu jung oder zu alt zu sterben und vieles mehr. All diese Unterscheidungen - noch nicht ihr politischer Gebrauch - sind ihrerseits nicht zu entfernende Bestandteile jeder Biotechnik.

Das heißt, ein solcher Rassismus müßte gar keine unmittelbare Verbindung mehr zu den Axiomen und Begrifflichkeiten des traditionellen Rassismus haben, sondern die schlichte Tatsache, daß Menschen verschieden sind, mit Hilfe einer biologischen Optimierungsskala politisch aufladen. Welche Dynamik aus solchen Unterscheidungen sich historisch-politisch im konkreten Fall entwickeln wird, ist nicht abzusehen. Im Hintergrund all dieser möglichen Unterscheidungen und ihrer Geschichten aber steht das Begriffspaar, das absolute Souveränität und absoluten Zwang ausübt. Es ist die Unterscheidung von Mensch und Unmensch.

Martin Stingelin (Hrsg.): "Biopolitik und Rassismus". Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 2003. 274 S., br., 11,- [Euro].

Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
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Perlentaucher-Notiz zur Süddeutsche Zeitung-Rezension

Robert Jütte erinnert bei der Besprechung des Bandes über Biopolitik und Rassismus daran, dass der Begriff Biopolitik, der heute in keiner Gentechnik-Debatte fehlt, einem "philosophisches Theorem" von Michel Foucault entspringt. Der Sammelband widmet sich diesen philosophischen Grundlagen und erprobt dessen Instrumentarium zur Untersuchung des "modernen Rassismus", erklärt der Rezensent. Allerdings verlangt das Buch von seinen Lesern "einiges an Theoriekenntnissen", warnt er. Außerdem hätte er sich "mehr Beiträge gewünscht, die weniger die Brauchbarkeit des Foucaultschen Ansatzes für die philosophische Analyse gegenwärtiger Debatten um die Gentechnologie als für die historische Forschung aufgezeigt hätten". Dennoch ist Jütte insgesamt angetan von den verschiedenen Aufsätzen. Besonders den Beitrag von Philip Sarasin, der argumentiert, dass Biopolitik nicht notwenig Rassismus bedeute, lobt Jütte als "theoretisch und quellenmäßig fundiert. Besonders lesenswert findet unser Rezensent Clemens Pornschlegels Darstellung eines Rechtsstreits, in dem Eltern, die ein schwerstbehindertes Kind bekamen, wegen der ärztlichen Fehldiagnose klagten, aufgrund derer sie eine Abtreibung nicht in Erwägung gezogen hatten. Hier fand Jütte heute relevante biopolitische Fragen mit Foucaults "Begriffsinstrumentarium" erörtert.

© Perlentaucher Medien GmbH…mehr