Durch einen Unfall verliert Gerson das Augenlicht. Plötzlich merken seine älteren Zwillingsbrüder, wie schwer es ist, blind zu sein in einer Welt, die zum Sehen gemacht ist. Sie versuchen alles, um ihrem Bruder zu helfen. Ein aufwühlendes Buch aus einer ungewöhnlichen "Wir"-Perspektive.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 01.12.2001Mit geschlossenen Augen das Ziel finden
Meister der leisen Töne: "Birnbäume blühen weiß" von Gerbrand Bakker
Es war ein Unfall. Aber das ist kein Trost für den Vater, der am Steuer saß und das Fahrzeug von rechts nicht gesehen hatte. Ein Unfall, der das Leben der drei Brüder mit einem Schlag veränderte und für einen von ihnen nicht mehr lebenswert machte. Gerbrand Bakkers Geschichte hat kein glückliches Ende.
Überfordert man jugendliche Leser nicht mit dieser Tragödie einer Familie, die es auch vorher schon nicht leicht hatte? Gerard, der Vater, Rechtsanwalt von Beruf, ist nicht darüber hinweggekommen, daß ihn seine Frau mit einem anderen Mann verlassen hat und außer Postkarten aus Italien nichts von sich hören läßt. Die Söhne sind wütend auf ihre Mutter, fühlen sich alleingelassen und sehnen sich nach ihr.
Früher, das heißt vor dem Unfall, haben sie oft "Schwarz" gespielt. Es galt mit geschlossenen Augen ein Ziel zu finden. Für Gerson, den jüngeren Bruder, ist es nun kein Spiel mehr: Nachdem er tagelang bewußtlos im Krankenhaus gelegen hat, ist er als Blinder aufgewacht. Seine Zwillingsbrüder versuchen ihm zu helfen, wo sie nur können. Sie möchten ihn beschützen und teilnehmen lassen am Leben, dem er sich nicht mehr gewachsen fühlt. Abwechselnd erzählen sie, was in diesen Wochen seit dem Autounfall geschah: Gersons Krankengeschichte und wie sie beide versucht haben, ihren Bruder aus dem Koma zu wecken. Ihre Stimmen sind kaum zu unterscheiden. Die Zwillinge sind immer zusammen, waren nie allein, wie Gerson es jetzt viel mehr noch ist als zuvor. Als er im tagelangen Koma in seinem Bett lag, haben sie ihn gestreichelt, geküßt, haben ihm heimlich seinen Hund ins Krankenhaus gebracht und alles getan, was der verständnisvolle Krankenpfleger ihnen geraten hat.
Jetzt, nachdem er nach Haus zurückgekehrt ist, müßte der blinde Bruder selbst etwas tun, doch er zieht sich zurück, möchte nur in Ruhe gelassen werden, träumt davon, wie er "früher" die Blüten von Apfel- und Birnbäumen unterscheiden konnte. "Birnbäume blühen weiß" ist sein letzter Satz gewesen, bevor der Laster das kleine Auto zermalmte, bevor die Welt für ihn schwarz wurde. Nach Wochen fahren der Vater und seine Söhne noch einmal die Strecke entlang, wo das Unglück geschah. Vielleicht, so hoffen sie, wird es Gerson gelingen, die Wirklichkeit zu akzeptieren, vielleicht wird er sich in der liebevollen Obhut der Großeltern erholen und die ersten Schritte in die Selbständigkeit machen.
Doch sein erster Spaziergang allein mit dem weißen Stock, den einer seiner Brüder für ihn geschnitzt hat, endet in dem See nicht weit vom Haus seiner Großeltern. Erst am nächsten Tag wird er tot gefunden. Diesmal treffen die Schuldgefühle die ganze Familie, und die Frage, ob es ein Unfall war, läßt keine Entlastung zu.
Gerbrand Bakker hat sich mit seinem ersten Jugendroman als ein Meister der leisen Töne bewiesen. Dem schwierigen Thema ist er mit genauer Beobachtung, fast ohne Emotionen auszusprechen, gerecht geworden. Indem er die Brüder erzählen läßt, weckt er im Leser Anteilnahme und Betroffenheit. Ein Buch, das lange nachklingt. Es regt an, über Schuld, Versagen, Schicksal, Zufall oder Verhängnis nachzudenken.
MARIA FRISÉ.
Gerbrand Bakker: "Birnbäume blühen weiß". Aus dem Niederländischen übersetzt von Andrea Kluitmann. Patmos Verlag, Düsseldorf 2001. 126 S. , geb. l9,80 DM. Ab 12 J.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Meister der leisen Töne: "Birnbäume blühen weiß" von Gerbrand Bakker
Es war ein Unfall. Aber das ist kein Trost für den Vater, der am Steuer saß und das Fahrzeug von rechts nicht gesehen hatte. Ein Unfall, der das Leben der drei Brüder mit einem Schlag veränderte und für einen von ihnen nicht mehr lebenswert machte. Gerbrand Bakkers Geschichte hat kein glückliches Ende.
Überfordert man jugendliche Leser nicht mit dieser Tragödie einer Familie, die es auch vorher schon nicht leicht hatte? Gerard, der Vater, Rechtsanwalt von Beruf, ist nicht darüber hinweggekommen, daß ihn seine Frau mit einem anderen Mann verlassen hat und außer Postkarten aus Italien nichts von sich hören läßt. Die Söhne sind wütend auf ihre Mutter, fühlen sich alleingelassen und sehnen sich nach ihr.
Früher, das heißt vor dem Unfall, haben sie oft "Schwarz" gespielt. Es galt mit geschlossenen Augen ein Ziel zu finden. Für Gerson, den jüngeren Bruder, ist es nun kein Spiel mehr: Nachdem er tagelang bewußtlos im Krankenhaus gelegen hat, ist er als Blinder aufgewacht. Seine Zwillingsbrüder versuchen ihm zu helfen, wo sie nur können. Sie möchten ihn beschützen und teilnehmen lassen am Leben, dem er sich nicht mehr gewachsen fühlt. Abwechselnd erzählen sie, was in diesen Wochen seit dem Autounfall geschah: Gersons Krankengeschichte und wie sie beide versucht haben, ihren Bruder aus dem Koma zu wecken. Ihre Stimmen sind kaum zu unterscheiden. Die Zwillinge sind immer zusammen, waren nie allein, wie Gerson es jetzt viel mehr noch ist als zuvor. Als er im tagelangen Koma in seinem Bett lag, haben sie ihn gestreichelt, geküßt, haben ihm heimlich seinen Hund ins Krankenhaus gebracht und alles getan, was der verständnisvolle Krankenpfleger ihnen geraten hat.
Jetzt, nachdem er nach Haus zurückgekehrt ist, müßte der blinde Bruder selbst etwas tun, doch er zieht sich zurück, möchte nur in Ruhe gelassen werden, träumt davon, wie er "früher" die Blüten von Apfel- und Birnbäumen unterscheiden konnte. "Birnbäume blühen weiß" ist sein letzter Satz gewesen, bevor der Laster das kleine Auto zermalmte, bevor die Welt für ihn schwarz wurde. Nach Wochen fahren der Vater und seine Söhne noch einmal die Strecke entlang, wo das Unglück geschah. Vielleicht, so hoffen sie, wird es Gerson gelingen, die Wirklichkeit zu akzeptieren, vielleicht wird er sich in der liebevollen Obhut der Großeltern erholen und die ersten Schritte in die Selbständigkeit machen.
Doch sein erster Spaziergang allein mit dem weißen Stock, den einer seiner Brüder für ihn geschnitzt hat, endet in dem See nicht weit vom Haus seiner Großeltern. Erst am nächsten Tag wird er tot gefunden. Diesmal treffen die Schuldgefühle die ganze Familie, und die Frage, ob es ein Unfall war, läßt keine Entlastung zu.
Gerbrand Bakker hat sich mit seinem ersten Jugendroman als ein Meister der leisen Töne bewiesen. Dem schwierigen Thema ist er mit genauer Beobachtung, fast ohne Emotionen auszusprechen, gerecht geworden. Indem er die Brüder erzählen läßt, weckt er im Leser Anteilnahme und Betroffenheit. Ein Buch, das lange nachklingt. Es regt an, über Schuld, Versagen, Schicksal, Zufall oder Verhängnis nachzudenken.
MARIA FRISÉ.
Gerbrand Bakker: "Birnbäume blühen weiß". Aus dem Niederländischen übersetzt von Andrea Kluitmann. Patmos Verlag, Düsseldorf 2001. 126 S. , geb. l9,80 DM. Ab 12 J.
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Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
""Ein Buch, das lange nachklingt", schreibt Rezensentin Maria Frise. Bakker habe sich mit seinem ersten Jugendroman als "ein Meister der leisen Töne" bewiesen. Erzählt wird die Geschichte dreier Brüder, von denen einer durch einen schweren Autounfall erblindet. Das blinde Kind stirbt am Ende, und wenn man die Rezensentin richtig versteht, bleibt offen, ob es ein Selbstmord war. Dem schwierigen Thema sei Bakker mit genauer Beobachtung, fast ohne Emotionen anzusprechen, gerecht geworden. Das Buch rege an, über "Schuld, Versagen, Schicksal, Zufall oder Verhängnis" nachzudenken. Maria Frise fragt aber auch, ob man jugendliche Leser mit dieser Familientragödie vielleicht überfordert.
© Perlentaucher Medien GmbH"
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