Sibirien, 1908. Ein Knall erschüttert den sibirischen Wald Tunguska. Zwei Jahrzehnte später plant Stalin eine jüdisch-sozialistische Autonomie an der Grenze zu China: Birobidschan. Was als stalinistisches Experiment der 1930er Jahre scheitert, wird in Tomer Dotan-Dreyfus' Debütroman zum Dreh- und Angelpunkt einer funkensprühenden Geschichte: Da sind Alex und Rachel, verliebt seit Kindertagen. Boris Klayn, Fischer und Ur-Birobidschaner. Gregory und Sascha, enge Freunde, einer hat Depressionen, der andere nimmt ihn mit auf einen Roadtrip gen Tunguska. Dmitrij, der Angst vor Wölfen hat. Das Leben in Birobidschan geht seinen Gang, die kleinen und großen Sorgen der Bewohner drehen sich fern allen Weltgeschehens - bis sich die Ereignisse überschlagen: Zwei fremde Männer und ein stummes Mädchen bringen die idyllische Gemeinschaft zum Bersten.In Birobidschan erzählt Tomer Dotan-Dreyfus die so unwahrscheinliche wie charmante Geschichte eines jüdisch-sozialistischen Schtetls in Sibirien und knüpft damit an die jiddische Erzähltradition und den magischen Realismus an. Ein gewitzter Debütroman, eigenwillig und voller Fabulierlust.
Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
Rezensentin Elena Witzeck fühlt sich wohl in Tomer Dotan-Dreyfus' Buch. Der Titel verweist, erfahren wir, auf den Ort der Handlung, ein kleiner Ort im sibirischen Nirgendwo, mit jüdischer Bevölkerung. Wie überall in solchen Orten ist es, führt Witzeck aus, auch in Birobidschan gelegentlich langweilig, gerade für junge Leute. Gleichzeitig aber, so fährt sie fort, entwirft das Buch ein Panorama faszinierender Gestalten, die ihre geistige Beweglichkeit vereint. Ziemlich fordernd ist das gelegentlich, findet die Rezensentin: so viele Figuren und auch noch Zeitsprünge, dazu außerdem teils düster und schwermütig. Den Ort gibt es wirklich, weiß Witzeck, aber das ist nicht so wichtig, da der Einfallsreichtum Dotan-Dreyfus' sich selbst genug ist. Besonders positiv hebt die Rezensentin den am Lyrischen geschulten Tonfall der Prosa hervor.
© Perlentaucher Medien GmbH
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Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 19.09.2023Etwas stimmt nicht mit dieser Stadt
Sibirische Träume bis zum Sündenfall: Tomer Dotan-Dreyfus' Roman "Birobidschan"
Was braucht eine verschworene Gemeinschaft? Sie braucht Gesprächs- und Diskussionsstoff, auf den sie sich einigen kann, gemeinsame Überzeugungen, etwas zum Träumen, zum Grübeln und zum Genießen. Eine Erinnerung an ein unerhörtes Ereignis zum Beispiel - und einen Fischstand. Ihrem langjährigen Erhalt kommt außerdem zugute, wenn sie sich so wenig wie möglich von der Welt da draußen reinreden lässt.
Aus der Literatur, einer unserer wichtigsten Quellen historischen Wissens, wissen wir, wie unwahrscheinlich so ein Szenario ist und wie viel unwahrscheinlicher noch, dass es langjährigen Bestand hat. Der Name Macondo klang bei Gabriel García Márquez wie ein Paradies. Als die Buendías dorthin kamen, schien alles neu und magisch. Am Ende war Macondo Zentrum allen Übels im Schnelldurchlauf, vom Kolonialismus bis zum Imperialismus.
Bei Birobidschan sieht die Lage vielversprechender aus. Birobidschan liegt tief in der sibirischen Tundra, ist also angemessen abgeschieden, und bis auf Fisch gibt es hier im ewigen Winter tatsächlich wenig zum Genießen. Boris, der älteste (noch) lebende Bewohner des Ortes, hatte den Sehnsuchtsort als Kind, bevor seine Familie die Gegend besiedelte, auf einem Plakat gesehen: weiße Gipfel, grüne Abhänge, Felder, "ein jüdisches sozialistisches Paradies". Und weil die Zeit in dieser Geschichte nicht linear, sondern in Kreisen fließt, fuhr seine Familie also damals los und erschuf sich gemeinsam mit anderen ihre Utopie selbst. Das war 1934, ist also lange her und nah zugleich.
Geht es nach den Möglichkeiten, die sich für junge Menschen und Erzähler im Örtchen Birobidschan eröffnen, könnte man mit Langeweile rechnen. Einmal am Tag kommt ein Zug vorbei, der nächste Ort ist eine Stunde entfernt, und wenngleich das Weltgeschehen irgendwie durchdringt, wenngleich sich auch in Birobidschan Jugendliche sehr zeitgemäß "streng genommen" nicht als Paar definieren, ist der Vorteil einer solchen Gemeinschaft ihre Autonomie - allerdings auch ein Nachteil für ihren Horizont. Manche Birobidschaner merken das. Trotzdem bleiben die meisten. Und wer geht, schaut nicht zurück.
Andererseits ist da etwas in der Ernsthaftigkeit, Eigenartigkeit und Diskussionsfreude der Bewohner dieses Schtetls, in ihrer Bereitschaft, sich von einem Schmetterling den Gedankengang durcheinanderbringen zu lassen, eine Tiefgründigkeit, die ihren lesenden Beobachtern bewundernswert vorkommt.
Da wäre Boris, der in seinem Leben vieles gesehen hat, auch unsichtbare Mädchen. Da wäre Dmitri, das Waisenkind, später zuständig für die Schnaps- und Glücksspielversorgung des Ortes. Da sind Rachel und Alex, die Kindheitsfreunde, die zum Liebespaar geworden sind, und da ist Alex' Bruder, der zwischen den beiden eine bedenkliche Rolle einnimmt. Da wären die Freundinnen Sulamith und Josephin, von denen eine besonders schlecht vom Schicksal behandelt wurde, und die Freunde Sascha und Gregory, die eine Reise machen, von denen nur einer zurückkehrt. Und noch mehr Saschas und noch mehr Reisen, es ist ein einziges Gehen und Kommen und Umbenennen und Fortbestehen, eine riesige Verschachtelung für so einen kleinen Ort.
Wir lesenden Beobachter stöhnen also ein bisschen, weil uns das Gewirr der Zeitebenen und Charaktere, die birobidschansche Selbstverständlichkeit der Gleichzeitigkeit von allem herausfordert. Und weil in alldem, auch dem Lustigen, eine große Melancholie steckt, als wäre das jüdische Schicksal da draußen in dieser abgeschotteten Gemeinschaft irgendwie enthalten. Und weil Gregory und Sulamith und Rachel und die anderen so philosophisch diskutieren, wie wir es auch gerne täten, wenn in unseren Leben mehr Zeit dafür wäre: Ist es wichtig, woher man kommt? Kann man Verhaltensweisen überwinden? Was erfordert eine tiefe Freundschaft? Ist eine Gesellschaft ohne Waffen möglich? Auch von ihrer Wahrhaftigkeit wünscht man sich etwas für unsere Gemeinschaft.
Es gibt dieses Birobidschan wirklich, es ist die Hauptstadt eines jüdischen autonomen Oblasts in Sibirien, eineinhalb Autostunden von der chinesischen Grenze entfernt, noch von Stalin politisch entworfen, ein Ort, von dessen Amtssprache (Jiddisch) und Besiedlungsgeschichte heute, also in der Wirklichkeit, nur noch wenig übrig ist. Aber was heute jenseits des Plätscherns der Bira wirklich dort vor sich geht, muss an dieser Stelle keine Rolle spielen, denn das Birobidschan, das Tomer Dotan-Dreyfus entwirft, mit zweisprachigen Straßenschildern, der Tageszeitung "Schtern" und den sozialistisch-verklärten Träumen, ist farbenfroh genug. Bis sich die Magie am Bösen stößt. Bis ein Bär, zwei fremde Männer und ein Mädchen auftauchen und ein Mord geschieht. Und mit ihm der Sündenfall. "Etwas stimmt nicht in unserer Stadt", sagt die alte, ein wenig verwirrte Julia zu ihrer Tochter Sulamith. "Hast du auch manchmal das Gefühl, als wärst du, als wäre dein Leben der Traum einer anderen Person? Und dann: "Zu was werden wir, wenn die Person aufwacht?"
Tomer Dotan-Dreyfus, 1987 in Haifa geboren, ist Lyriker. Mit Angang zwanzig kam er nach Berlin. Wenn sich so jemand beim Träumen in sein lyrisches Potential stürzt, wenn er seinen jüdischen Humor dabeihat und eine Prise Wahnsinn, dann klingt das mitunter auch so: "Eine frische Sehnsuchtswelle brach sich in seinem Herzen wie an einem Wellenbrecher, und als das Wasser sich zurückzog, blieben winzige Salzkörnchen schmerzend zwischen den Felsen seines Herzens."
Aber nicht nur. Es klingt auch mal eigensinnig, selbstironisch, mystisch, es klingt wild und unermesslich wie der Wind, der über die Tundra fegt und durch die Tiefen der menschlichen Seele. ELENA WITZECK
Tomer Dotan-Dreyfus: "Birobidschan". Roman.
Voland & Quist, Berlin 2023. 324 S., geb., 24,- Euro.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Sibirische Träume bis zum Sündenfall: Tomer Dotan-Dreyfus' Roman "Birobidschan"
Was braucht eine verschworene Gemeinschaft? Sie braucht Gesprächs- und Diskussionsstoff, auf den sie sich einigen kann, gemeinsame Überzeugungen, etwas zum Träumen, zum Grübeln und zum Genießen. Eine Erinnerung an ein unerhörtes Ereignis zum Beispiel - und einen Fischstand. Ihrem langjährigen Erhalt kommt außerdem zugute, wenn sie sich so wenig wie möglich von der Welt da draußen reinreden lässt.
Aus der Literatur, einer unserer wichtigsten Quellen historischen Wissens, wissen wir, wie unwahrscheinlich so ein Szenario ist und wie viel unwahrscheinlicher noch, dass es langjährigen Bestand hat. Der Name Macondo klang bei Gabriel García Márquez wie ein Paradies. Als die Buendías dorthin kamen, schien alles neu und magisch. Am Ende war Macondo Zentrum allen Übels im Schnelldurchlauf, vom Kolonialismus bis zum Imperialismus.
Bei Birobidschan sieht die Lage vielversprechender aus. Birobidschan liegt tief in der sibirischen Tundra, ist also angemessen abgeschieden, und bis auf Fisch gibt es hier im ewigen Winter tatsächlich wenig zum Genießen. Boris, der älteste (noch) lebende Bewohner des Ortes, hatte den Sehnsuchtsort als Kind, bevor seine Familie die Gegend besiedelte, auf einem Plakat gesehen: weiße Gipfel, grüne Abhänge, Felder, "ein jüdisches sozialistisches Paradies". Und weil die Zeit in dieser Geschichte nicht linear, sondern in Kreisen fließt, fuhr seine Familie also damals los und erschuf sich gemeinsam mit anderen ihre Utopie selbst. Das war 1934, ist also lange her und nah zugleich.
Geht es nach den Möglichkeiten, die sich für junge Menschen und Erzähler im Örtchen Birobidschan eröffnen, könnte man mit Langeweile rechnen. Einmal am Tag kommt ein Zug vorbei, der nächste Ort ist eine Stunde entfernt, und wenngleich das Weltgeschehen irgendwie durchdringt, wenngleich sich auch in Birobidschan Jugendliche sehr zeitgemäß "streng genommen" nicht als Paar definieren, ist der Vorteil einer solchen Gemeinschaft ihre Autonomie - allerdings auch ein Nachteil für ihren Horizont. Manche Birobidschaner merken das. Trotzdem bleiben die meisten. Und wer geht, schaut nicht zurück.
Andererseits ist da etwas in der Ernsthaftigkeit, Eigenartigkeit und Diskussionsfreude der Bewohner dieses Schtetls, in ihrer Bereitschaft, sich von einem Schmetterling den Gedankengang durcheinanderbringen zu lassen, eine Tiefgründigkeit, die ihren lesenden Beobachtern bewundernswert vorkommt.
Da wäre Boris, der in seinem Leben vieles gesehen hat, auch unsichtbare Mädchen. Da wäre Dmitri, das Waisenkind, später zuständig für die Schnaps- und Glücksspielversorgung des Ortes. Da sind Rachel und Alex, die Kindheitsfreunde, die zum Liebespaar geworden sind, und da ist Alex' Bruder, der zwischen den beiden eine bedenkliche Rolle einnimmt. Da wären die Freundinnen Sulamith und Josephin, von denen eine besonders schlecht vom Schicksal behandelt wurde, und die Freunde Sascha und Gregory, die eine Reise machen, von denen nur einer zurückkehrt. Und noch mehr Saschas und noch mehr Reisen, es ist ein einziges Gehen und Kommen und Umbenennen und Fortbestehen, eine riesige Verschachtelung für so einen kleinen Ort.
Wir lesenden Beobachter stöhnen also ein bisschen, weil uns das Gewirr der Zeitebenen und Charaktere, die birobidschansche Selbstverständlichkeit der Gleichzeitigkeit von allem herausfordert. Und weil in alldem, auch dem Lustigen, eine große Melancholie steckt, als wäre das jüdische Schicksal da draußen in dieser abgeschotteten Gemeinschaft irgendwie enthalten. Und weil Gregory und Sulamith und Rachel und die anderen so philosophisch diskutieren, wie wir es auch gerne täten, wenn in unseren Leben mehr Zeit dafür wäre: Ist es wichtig, woher man kommt? Kann man Verhaltensweisen überwinden? Was erfordert eine tiefe Freundschaft? Ist eine Gesellschaft ohne Waffen möglich? Auch von ihrer Wahrhaftigkeit wünscht man sich etwas für unsere Gemeinschaft.
Es gibt dieses Birobidschan wirklich, es ist die Hauptstadt eines jüdischen autonomen Oblasts in Sibirien, eineinhalb Autostunden von der chinesischen Grenze entfernt, noch von Stalin politisch entworfen, ein Ort, von dessen Amtssprache (Jiddisch) und Besiedlungsgeschichte heute, also in der Wirklichkeit, nur noch wenig übrig ist. Aber was heute jenseits des Plätscherns der Bira wirklich dort vor sich geht, muss an dieser Stelle keine Rolle spielen, denn das Birobidschan, das Tomer Dotan-Dreyfus entwirft, mit zweisprachigen Straßenschildern, der Tageszeitung "Schtern" und den sozialistisch-verklärten Träumen, ist farbenfroh genug. Bis sich die Magie am Bösen stößt. Bis ein Bär, zwei fremde Männer und ein Mädchen auftauchen und ein Mord geschieht. Und mit ihm der Sündenfall. "Etwas stimmt nicht in unserer Stadt", sagt die alte, ein wenig verwirrte Julia zu ihrer Tochter Sulamith. "Hast du auch manchmal das Gefühl, als wärst du, als wäre dein Leben der Traum einer anderen Person? Und dann: "Zu was werden wir, wenn die Person aufwacht?"
Tomer Dotan-Dreyfus, 1987 in Haifa geboren, ist Lyriker. Mit Angang zwanzig kam er nach Berlin. Wenn sich so jemand beim Träumen in sein lyrisches Potential stürzt, wenn er seinen jüdischen Humor dabeihat und eine Prise Wahnsinn, dann klingt das mitunter auch so: "Eine frische Sehnsuchtswelle brach sich in seinem Herzen wie an einem Wellenbrecher, und als das Wasser sich zurückzog, blieben winzige Salzkörnchen schmerzend zwischen den Felsen seines Herzens."
Aber nicht nur. Es klingt auch mal eigensinnig, selbstironisch, mystisch, es klingt wild und unermesslich wie der Wind, der über die Tundra fegt und durch die Tiefen der menschlichen Seele. ELENA WITZECK
Tomer Dotan-Dreyfus: "Birobidschan". Roman.
Voland & Quist, Berlin 2023. 324 S., geb., 24,- Euro.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
»Absurd, märchenhaft und radikal.« Sandra Gugic »Ein Spiel mit der Zeit, mit Lust, Gewalt und Grenzen, dessen größtes Opfer am Ende der Autor selbst wird. Fesselnd, überraschend und sprachlich herausragend.« Ira Peter »Birobidschan ist (Tomer Dotan-Dreyfus) Debütroman. Und was für einer! Der in Haifa geborene Israeli bringt einen Ton in die deutsche Literatur zurück, deren Übersetzungen jiddischer Klassiker wie Scholem Alejchem oder Jizchok Leib Perez erinnern. Spielerisch überschreitet der Autor die Grenzen herkömmlicher Logik und scheut sich nicht mit seiner Stetl-Geschichte aus dem 21. Jahrhundert einen unterhaltsamen, teils märchenhaften, teils mystery-mässigen Genre-Mix herzustellen. Tomer Dotan-Dreyfus ist ein mit vielen Wassern der Literatur gewaschener Autor: anspruchsvoll, witzig und experimentierfreudig.« DLF Büchermarkt »Dort [Birobidschan] verschmelzen Gestern und Heute, treten illustre Figuren auf, ereignen sich skurrile Begebenheiten. Zwei Leichen und die mysteriöse Jagd auf einen Bären wirbeln die friedliche Gemeinschaft durcheinander, wobei der Erzähler den Bewohnern keine Zumutung erspart. Poesie in schönster Form.« Rheinische Post »Es mischen sich Witz und Tragik. Ein herrlicher, kluger Spaß, der verzaubert. Schön, dass es dieses ungewöhnliche Buch auf die Liste der Nominierten für den Deutschen Buchpreis geschafft hat.« Lesart »Eine wunderbare Geschichte - poetisch, eigenwillig und mit jüdischem Witz, mit Nachdruck empfohlen für Liebhaber und Liebhaberinnen außergewöhnlicher Romane.« Medienprofile »Der Autor Tomer Dotan-Dreyfus hat unter anderem Philosophie studiert und lässt seine Gedanken spielerisch in die Handlung einfließen. Damit folgt er der jiddischen Erzähltradition, tiefgründig, humorvoll, aber auch tragisch.« Radio Schalom