Opernarbeit: Hanjo Kesting über das Verhältnis von Librettisten und Komponisten
Als der Operettenkomponist Ralph Benatzky 1938 in Amerika eintraf, berichtete er in seinem Tagebuch über New York: "Ein unvorstellbar, unbeschreibbar, gigantischer Lichtreklamerummelplatz, von irrsinnigen Riesendimensionen. Dieser fast infernalische Jux, diese fast wieder kindische Freude an Lichtfluten!" Diese Beschreibung der amerikanischen Lust an der puren Überwältigungsästhetik und Reizüberflutung kann, wer einmal in Las Vegas gewesen ist - oder auch nur Ben Fountains Buch "Die irre Heldentour des Billy Lynn" gelesen hat -, leicht nachvollziehen. Das Tagebuch des Komponisten, ediert von Inge Jens, ist denn auch eine der großen Entdeckungen im neuen Buch des Literaturwissenschaftlers, Journalisten und Publizisten Hanjo Kesting über Oper und Literatur.
Um das Verhältnis von Text und Musik, von Wort und Ton in der Oper geht es laut der Einleitung; doch zum Glück steht nicht die unlösbare Frage nach der Vorherrschaft von dem einen oder anderen - prima la musica, poi le parole oder umgekehrt - im Mittelpunkt. Die meisten Kapitel handeln von viel Interessanterem: den Akteuren, Komponisten und Librettisten und von ihrem jeweiligen Verhältnis, schwierig oder auch nicht ganz so schwierig. Faszinierende Paare sind sie allesamt, von Da Ponte/Mozart über Hofmannsthal/Strauss und Boito/Verdi bis hin zu Auden/Strawinsky; alle mit unterschiedlichem Machtgefälle, Kommunikationsweisen und Umgangsformen. Da es tatsächlich kaum längsschnittartige Untersuchungen zum Verhältnis von Librettisten und Komponisten gibt - und wenn ja, konzentrieren sie sich mehr auf die Reimschemata als auf künstlerische, soziale oder menschliche Aspekte -, schließt das Buch auf sehr willkommene Weise eine Lücke.
Aus der Perspektive dessen, der eben nicht seine wissenschaftlichen Beglaubigungen nachweisen muss, hat der Gelehrte Hanjo Kesting ein lesenswertes und ungemein anregendes Buch geschrieben. Er kennt sich hervorragend aus mit seinen Sujets und arbeitet viel mit originalen Briefwechseln und Tagebüchern. Natürlich hat der Autor nicht alle Komponisten-Librettisten-Verhältnisse gleich eingehend betrachtet, natürlich bemerkt man seine persönlichen Vorlieben und Abneigungen (etwa gegen die "Kastraten des 18. Jahrhunderts"), sein brennendes Interesse an Wagners Selbstverständnis als Textdichter und Komponist und sein Desinteresse für anderes. Einige Kapitel - etwa zum "Freischütz", zu Mozart und zu Strawinsky - sind sehr gut gelungen, die Oper des 17. Jahrhunderts taucht dagegen gar nicht auf, und die Namen Graun, Vivaldi, Purcell, Rameau oder Händel (oder die Namen ihrer Librettisten) fallen gar nicht. Kesting scheint durch die Abneigung gegen die Kastraten ein ganzes Repertoire entgangen zu sein. Es ist also ein sehr persönliches, auch ein durchaus altmodisches Buch.
Der Autor gibt das schon auf den ersten Seiten zu erkennen, wenn er die "heutige Tyrannei der Regisseure" anprangert. Natürlich stimmt es, dass "alles in Mozarts Oper seine genau definierte Zeit, seinen bestimmten Ort, nicht zuletzt seinen historisch benennbaren Konflikt" hat. Aber warum genau haben Beaumarchais, Da Ponte und Mozart ihr Werk um den Grafen, seinen Diener und die Kammerzofe eigentlich in Aguas Frescas, drei Meilen von Sevilla, angesiedelt; und ist das signifikant? Und vor allem: Ist das überhaupt relevant, wo doch Kesting selbst auf die Wichtigkeit der Frage hinweist, ob ein Librettist die Handelnden der Oper als Menschen oder Marionetten angelegt hat? Sind dann nicht gerade die Menschen Da Pontes bei einem musikorientierten Regisseur wie etwa Peter Konwitschny oder Barrie Kosky, der sie als Handelnde ernst nimmt, besser aufgehoben als in einer spanisch ausstaffierten Bühnenversion mit herumstehenden, chargierenden Sängern, wie sie in Italien oder an amerikanischen Opernhäusern gerne gezeigt werden?
Außerdem, was machen Opernschaffende, wenn Teile des Publikums die kulturellen Codes nicht mehr verstehen oder sich, schlimmer noch, nicht mehr dafür interessieren? Weiterleben kann die Oper nur durch Veränderung, gerade innerhalb des repetitiven deutschen Repertoiresystems. Aber natürlich sind aktualisierende Inszenierungen einerseits Geschmackssache, andererseits durchaus gängige Praxis.
Auch ein anderer vermeintlicher Extremfall des Systems, ein von Kesting erwähnter Vertrag aus dem italienischen Opernleben des frühen neunzehnten Jahrhunderts, war jahrhundertelang gängige Opernpraxis: Der Komponist musste sich verpflichten, für den Impresario ein beliebiges Libretto zu vertonen, "in drei Wochen", und darüber hinaus das fertige Stück den Wünschen der Sänger anzupassen. Dann trat er das Stück an das Theater ab und verdiente dafür deutlich weniger als der primo uomo oder die Sopranistin.
Vor dem Aufkommen von Werkgedanken und der Idee vom autonomen Kunstwerk sowie der Durchsetzbarkeit von Urheberrechtsgesetzen störten sich nur wenige an solcher Praxis. Librettisten waren Textzulieferer, Komponisten verfertigten die Musik dazu. Wie Ralph Benatzky resigniert im amerikanischen Exil schrieb: "Der Autor, der Schöpfer selber, ist eine vollkommene Null." Das Genre Oper? Florierte und überlebte.
Kestings Buch regt zum Diskutieren an, über Opernregie und Repertoirefragen, über Libretti und Kompositionen und über komplizierte Beziehungen zwischen kapriziösen Künstlern. Wichtiger noch, es fordert dazu auf, sich mit Oper zu beschäftigen.
JUTTA TOELLE
Hanjo Kesting: "Bis der reitende Bote des Königs erscheint". Über Oper
und Literatur.
Wallstein Verlag, Göttingen 2017. 415 S.,
geb., 24,90 [Euro].
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Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
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