"Es ist für die Weltliteratur von Bedeutung, dass Aharon Appelfeld sich zum Schreiben entschlossen hat." (Der Spiegel)
Österreich-Ungarn, zu Beginn des 20. Jahrhunderts. Blanka und Otto, eine junge Mutter und ihr kleiner Sohn, sind auf der Flucht. Erschöpft vom wochenlangen Umherziehen, mieten sie ein Häuschen an einem Fluß, umgeben von Schlingpflanzen und Weidenbäumen, weit abgelegen von der Straße. Eines Tages fragt Otto, wo sein Vater sei. "Er wird schon kommen", sagt Blanka, obwohl sie weiß, dass das nicht stimmt. Mit großer Poesie erzählt Aharon Appelfeld von einer Frau, die in den Augen anderer Schuld auf sich geladen hat, um nach dreifachem Unglück zu bestehen: dem Gefängnis ihrer Ehe, dem Verlust ihrer Eltern und des jüdischen Glaubens auch. Ganz auf sich gestellt, liebevoll bedacht auf das Wohl ihres Sohnes, begibt sie sich auf die Suche nach ihren jüdischen Wurzeln. Doch die Schlinge derer, die sie verfolgen, legt sich ihr immer enger um den Hals. Ein fesselnder, ergreifender Roman, der den Untergang des modernen Judentums erzählt - im meisterhaft melodiös-lakonischen Stil, für den Aharon Appelfeld so berühmt ist.
Hinweis: Dieser Artikel kann nur an eine deutsche Lieferadresse ausgeliefert werden.
Österreich-Ungarn, zu Beginn des 20. Jahrhunderts. Blanka und Otto, eine junge Mutter und ihr kleiner Sohn, sind auf der Flucht. Erschöpft vom wochenlangen Umherziehen, mieten sie ein Häuschen an einem Fluß, umgeben von Schlingpflanzen und Weidenbäumen, weit abgelegen von der Straße. Eines Tages fragt Otto, wo sein Vater sei. "Er wird schon kommen", sagt Blanka, obwohl sie weiß, dass das nicht stimmt. Mit großer Poesie erzählt Aharon Appelfeld von einer Frau, die in den Augen anderer Schuld auf sich geladen hat, um nach dreifachem Unglück zu bestehen: dem Gefängnis ihrer Ehe, dem Verlust ihrer Eltern und des jüdischen Glaubens auch. Ganz auf sich gestellt, liebevoll bedacht auf das Wohl ihres Sohnes, begibt sie sich auf die Suche nach ihren jüdischen Wurzeln. Doch die Schlinge derer, die sie verfolgen, legt sich ihr immer enger um den Hals. Ein fesselnder, ergreifender Roman, der den Untergang des modernen Judentums erzählt - im meisterhaft melodiös-lakonischen Stil, für den Aharon Appelfeld so berühmt ist.
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Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 10.07.2006Ich und du, das Land dazu
Bis es hell wird: Aharon Appelfeld sucht Israel, ohne zu predigen
Viele Schriftsteller und Kritiker haben uns vom abenteuerlichen Leben Aharon Appelfelds erzählt - allen voran er selbst in seiner aufrichtigen und gedankenreichen Autobiographie -; aber welcher religiösen oder philosophischen Richtung er als Israeli-Autor osteuropäischer Herkunft und hebräischer Sprache angehört, ist noch immer eine offene Frage. Theologische Spekulationen oder gar Spitzfindigkeiten sind seine Sache nicht, er schreibt lieber über die Jahre vor und nach dem Holocaust, anstatt, als Betroffener, das Unbeschreibliche zu beschreiben; und wenn er auf den Zionismus zu sprechen kommt, geschieht das in einem melancholischen Ton unerfüllter oder gar unerfüllbarer Hoffnungen. Das Buch "Badenheim 1939" (erschienen 1975 in Jerusalem) erhob ihn in den Rang eines weltliterarischen Autors, und sein Roman "Bis der Tag anbricht" ist der neunzehnte in einer fast ununterbrochenen epischen Reihe.
Er hat die besondere Tugend, zu Appelfelds wesentlichen Interessen und poetischen Motiven zurückzukehren, tiefer und beharrlicher, um nicht zu sagen: strenger und sanfter denn je, und obwohl die deutsche Edition elf Jahre auf sich warten ließ, bewegen wir uns auf die Mitte seines Werkes zu.
Das Idyllische des Anbeginns trügt. Lange Bahnfahrten, in welchen Mutter und Kind enger zusammenfinden, haben in Appelfelds Erzählungen immer ihre eigene Ambivalenz, nicht nur im Kontrast mit dem Abtransport der Juden in Viehwaggons. Die junge Blanka und ihr vierjähriger Sohn Otto finden Frieden in einer österreichischen Flußlandschaft; aber es sind nicht schöne Ferien wie sonst, denn Blanka verbringt ihre ruhelosen Nächte damit, die Geschichte ihres geplagten Lebens niederzuschreiben, die ihr Sohn einmal lesen soll. Es ist die Geschichte ihrer jüdischen Eltern, die nicht mehr am alten Glauben hängen, von ihrer Taufe, denn sie hat, gleich nach Schulabschluß, einen christlichen jungen Mann geheiratet (sie glaubte, ihre Taufe könnte der Krankheit der Mutter Einhalt gebieten). Blanka ging eine Ehe ein, in der sie ihr judenfeindlicher Mann täglich herabsetzte, mißbrauchte und bis aufs Blut prügelte, ehe sie als Altenhelferin zu arbeiten begann und er ein dörfliches Dienstmädchen, das ihm auch die Gattin zu ersetzen begann, ins Haus holte. Wir lesen nicht Blankas Nacht-Manuskript, sondern den Bericht des weitblickenden Erzählers und beginnen zu begreifen, daß sich Blanka und Otto auf der Flucht befinden, denn sie hat ihren Mann in einem Moment der Hilflosigkeit und Erniedrigung mit der Axt getötet.
Der Erzähler Appelfeld ist nicht darauf bedacht, Zeit und Raum realistisch zu definieren, verrät uns aber genug, um alle Aufmerksamkeit auf die intimen Konflikte der Familie und der jüdischen Kleinstädter zu lenken. Er kann es nicht versäumen, die großen Städte zu nennen, die am Horizont erscheinen, Wien, Salzburg, oder Prag; aber die Orte der Geschehnisse heißen Feierberg, Winterweiss, Blitzstein, Himmelberg oder, wenn's hoch kommt, Starozhinez - genug, um uns in eine Geographie zu versetzen, die k. u. k. österreichisch ist und auch wieder nicht.
Es geht Appelfeld darum, eine Szenerie zu entwerfen, in der viele Juden ihrem ererbten Glauben durch Indifferenz oder Taufe untreu geworden sind und nur wenige den alten Glauben suchen und zu einer Fahrt in die alte Heimat aufbrechen, wie Blanka nach Czernowitz (wo Appelfeld in derselben Gasse wohnte wie Paul Celan), an den Fluß Pruth, die mächtigen Waldkarpaten. Nur ein einziges Datum wird genannt, Ottos Geburt (16. Februar 1908), das uns zur Orientierung dienen mag. Der Poetisierung der Landschaft entspricht die Privatisierung des Geschichtlichen. Blanka und die Ihren leben in einer Welt ganz ohne historische Parteien oder Organisationen, ohne antisemitische Schönerer-Leute (Blankas brutalen Gatten Adolf zu nennen, ist ein allegorischer Mißgriff) und ohne glühende Theodor-Herzl-Zionisten. Alle religiösen Sehnsüchte und ideologischen Laster sind allein im Schicksal und im Charakter der einzelnen, ihrer Familie und ihrer Freunde zu begreifen. Es ist nicht ganz ironisch gemeint, wenn Blanka von dem Glück träumt, Adalbert Stifter zu lesen.
Der Glaube der Väter und Vorväter hat seinen eigenen Rhythmus, und Appelfelds Figuren leben, noch in den Jahren vor dem Ersten Weltkrieg, in der Epoche der fortschreitenden Assimilation, die den jüdischen Gemeingeist zu zerstören droht. Das hilfreiche Miteinander fehlt, die jüdischen Altersheime und Spitäler leiden Not, denn die gemeinnützigen Unterstützungen bleiben aus. In dem Altersheim, in dem Blanka arbeitet, stehen die zerschlissenen Betten auf den Korridoren; und es genügt nicht, daß der Oberarzt des Spitals alle Patienten, die sein Haus umlagern, selbst behandeln will. Es sind die Frauen eher als die Männer, die die Bedrohung fühlen, die greise Großmutter Blankas postiert sich am Tore der geschlossenen Synagoge und verflucht alle, die der Tora untreu geworden sind. Blanka begegnet immer wieder Freundinnen, die sich, wie sie, auf die Suche nach religiöser Sicherheit und Familienwärme begeben, ostwärts, wo die Urgroßväter lebten, die noch alle Jiddisch sprachen und in dörflichen Holzsynagogen beteten. Sonja aus Sarajevo, die Mutter Jüdin, der Vater Kroate, hat sich in den Kopf gesetzt, "mutig und extravagant" die ukrainische Glaubensheimat ihrer Mutter zu finden, und Zilla, als Kind getauft und schon Novizin im Kloster Stillstein, hat nicht aufgehört, das Land ihrer jüdischen Väter mit der Seele zu suchen.
Blanka und der Erzähler haben Zilla besonders ins Herz geschlossen, denn ihre Lieblingslektüre ist Martin Bubers Sammlung chassidischer Legenden, und die öffnet auch Blankas Blick für eine schlichte, mystische Frömmigkeit. Zilla zählt zu den ersten Leserinnen der Buberschen Ba'al-Schem-Tov-Legenden - im Jahre 1908 ist die Druckerschwärze kaum getrocknet -, dabei sind es Zillas Gedanken, die Blanka den Weg in die chassidische Landschaft weisen, sehr zum Erstaunen ihrer Wirtin in der Bukowina, die bemerkt, viele assimilierte Jüdinnen gesehen zu haben, aber noch keine, die Chassidim sucht.
Appelfeld zögert jedenfalls nicht, unsere Gedanken über Menschen, Gerechtigkeit und Religiosität auf eine strenge Probe zu stellen. Blanka sucht sich selbst, Erleuchtung und Heiligkeit, aber ihre Wallfahrt ist zugleich eine Flucht vor den Gesetzen der Welt - sie hat ja im Altenheim einen wertvollen Ring gestohlen, ihren Mann getötet, und die späteren Stationen ihres Weges sind von brennenden Kirchen gezeichnet: Die erste hat sie fahrlässig angezündet, weil sie sich wärmen wollte, die anderen wie unter Zwang. Appelfeld ist kein Moralist, der uns zu einem Urteil zwingen will. Sein lakonischer und poetischer Roman, den Anne Birkenhauer wieder loyal übertragen hat, legt uns eher nahe, die mildernden Umstände zu bedenken. Seine Zurückhaltung ist mutiger als die salbungsvollste Predigt.
PETER DEMETZ.
Aharon Appelfeld: "Bis der Tag anbricht". Roman. Aus dem Hebräischen übersetzt von Anne Birkenhauer. Rowohlt Berlin Verlag, Berlin 2006. 255 S., geb., 17,90 [Euro].
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Bis es hell wird: Aharon Appelfeld sucht Israel, ohne zu predigen
Viele Schriftsteller und Kritiker haben uns vom abenteuerlichen Leben Aharon Appelfelds erzählt - allen voran er selbst in seiner aufrichtigen und gedankenreichen Autobiographie -; aber welcher religiösen oder philosophischen Richtung er als Israeli-Autor osteuropäischer Herkunft und hebräischer Sprache angehört, ist noch immer eine offene Frage. Theologische Spekulationen oder gar Spitzfindigkeiten sind seine Sache nicht, er schreibt lieber über die Jahre vor und nach dem Holocaust, anstatt, als Betroffener, das Unbeschreibliche zu beschreiben; und wenn er auf den Zionismus zu sprechen kommt, geschieht das in einem melancholischen Ton unerfüllter oder gar unerfüllbarer Hoffnungen. Das Buch "Badenheim 1939" (erschienen 1975 in Jerusalem) erhob ihn in den Rang eines weltliterarischen Autors, und sein Roman "Bis der Tag anbricht" ist der neunzehnte in einer fast ununterbrochenen epischen Reihe.
Er hat die besondere Tugend, zu Appelfelds wesentlichen Interessen und poetischen Motiven zurückzukehren, tiefer und beharrlicher, um nicht zu sagen: strenger und sanfter denn je, und obwohl die deutsche Edition elf Jahre auf sich warten ließ, bewegen wir uns auf die Mitte seines Werkes zu.
Das Idyllische des Anbeginns trügt. Lange Bahnfahrten, in welchen Mutter und Kind enger zusammenfinden, haben in Appelfelds Erzählungen immer ihre eigene Ambivalenz, nicht nur im Kontrast mit dem Abtransport der Juden in Viehwaggons. Die junge Blanka und ihr vierjähriger Sohn Otto finden Frieden in einer österreichischen Flußlandschaft; aber es sind nicht schöne Ferien wie sonst, denn Blanka verbringt ihre ruhelosen Nächte damit, die Geschichte ihres geplagten Lebens niederzuschreiben, die ihr Sohn einmal lesen soll. Es ist die Geschichte ihrer jüdischen Eltern, die nicht mehr am alten Glauben hängen, von ihrer Taufe, denn sie hat, gleich nach Schulabschluß, einen christlichen jungen Mann geheiratet (sie glaubte, ihre Taufe könnte der Krankheit der Mutter Einhalt gebieten). Blanka ging eine Ehe ein, in der sie ihr judenfeindlicher Mann täglich herabsetzte, mißbrauchte und bis aufs Blut prügelte, ehe sie als Altenhelferin zu arbeiten begann und er ein dörfliches Dienstmädchen, das ihm auch die Gattin zu ersetzen begann, ins Haus holte. Wir lesen nicht Blankas Nacht-Manuskript, sondern den Bericht des weitblickenden Erzählers und beginnen zu begreifen, daß sich Blanka und Otto auf der Flucht befinden, denn sie hat ihren Mann in einem Moment der Hilflosigkeit und Erniedrigung mit der Axt getötet.
Der Erzähler Appelfeld ist nicht darauf bedacht, Zeit und Raum realistisch zu definieren, verrät uns aber genug, um alle Aufmerksamkeit auf die intimen Konflikte der Familie und der jüdischen Kleinstädter zu lenken. Er kann es nicht versäumen, die großen Städte zu nennen, die am Horizont erscheinen, Wien, Salzburg, oder Prag; aber die Orte der Geschehnisse heißen Feierberg, Winterweiss, Blitzstein, Himmelberg oder, wenn's hoch kommt, Starozhinez - genug, um uns in eine Geographie zu versetzen, die k. u. k. österreichisch ist und auch wieder nicht.
Es geht Appelfeld darum, eine Szenerie zu entwerfen, in der viele Juden ihrem ererbten Glauben durch Indifferenz oder Taufe untreu geworden sind und nur wenige den alten Glauben suchen und zu einer Fahrt in die alte Heimat aufbrechen, wie Blanka nach Czernowitz (wo Appelfeld in derselben Gasse wohnte wie Paul Celan), an den Fluß Pruth, die mächtigen Waldkarpaten. Nur ein einziges Datum wird genannt, Ottos Geburt (16. Februar 1908), das uns zur Orientierung dienen mag. Der Poetisierung der Landschaft entspricht die Privatisierung des Geschichtlichen. Blanka und die Ihren leben in einer Welt ganz ohne historische Parteien oder Organisationen, ohne antisemitische Schönerer-Leute (Blankas brutalen Gatten Adolf zu nennen, ist ein allegorischer Mißgriff) und ohne glühende Theodor-Herzl-Zionisten. Alle religiösen Sehnsüchte und ideologischen Laster sind allein im Schicksal und im Charakter der einzelnen, ihrer Familie und ihrer Freunde zu begreifen. Es ist nicht ganz ironisch gemeint, wenn Blanka von dem Glück träumt, Adalbert Stifter zu lesen.
Der Glaube der Väter und Vorväter hat seinen eigenen Rhythmus, und Appelfelds Figuren leben, noch in den Jahren vor dem Ersten Weltkrieg, in der Epoche der fortschreitenden Assimilation, die den jüdischen Gemeingeist zu zerstören droht. Das hilfreiche Miteinander fehlt, die jüdischen Altersheime und Spitäler leiden Not, denn die gemeinnützigen Unterstützungen bleiben aus. In dem Altersheim, in dem Blanka arbeitet, stehen die zerschlissenen Betten auf den Korridoren; und es genügt nicht, daß der Oberarzt des Spitals alle Patienten, die sein Haus umlagern, selbst behandeln will. Es sind die Frauen eher als die Männer, die die Bedrohung fühlen, die greise Großmutter Blankas postiert sich am Tore der geschlossenen Synagoge und verflucht alle, die der Tora untreu geworden sind. Blanka begegnet immer wieder Freundinnen, die sich, wie sie, auf die Suche nach religiöser Sicherheit und Familienwärme begeben, ostwärts, wo die Urgroßväter lebten, die noch alle Jiddisch sprachen und in dörflichen Holzsynagogen beteten. Sonja aus Sarajevo, die Mutter Jüdin, der Vater Kroate, hat sich in den Kopf gesetzt, "mutig und extravagant" die ukrainische Glaubensheimat ihrer Mutter zu finden, und Zilla, als Kind getauft und schon Novizin im Kloster Stillstein, hat nicht aufgehört, das Land ihrer jüdischen Väter mit der Seele zu suchen.
Blanka und der Erzähler haben Zilla besonders ins Herz geschlossen, denn ihre Lieblingslektüre ist Martin Bubers Sammlung chassidischer Legenden, und die öffnet auch Blankas Blick für eine schlichte, mystische Frömmigkeit. Zilla zählt zu den ersten Leserinnen der Buberschen Ba'al-Schem-Tov-Legenden - im Jahre 1908 ist die Druckerschwärze kaum getrocknet -, dabei sind es Zillas Gedanken, die Blanka den Weg in die chassidische Landschaft weisen, sehr zum Erstaunen ihrer Wirtin in der Bukowina, die bemerkt, viele assimilierte Jüdinnen gesehen zu haben, aber noch keine, die Chassidim sucht.
Appelfeld zögert jedenfalls nicht, unsere Gedanken über Menschen, Gerechtigkeit und Religiosität auf eine strenge Probe zu stellen. Blanka sucht sich selbst, Erleuchtung und Heiligkeit, aber ihre Wallfahrt ist zugleich eine Flucht vor den Gesetzen der Welt - sie hat ja im Altenheim einen wertvollen Ring gestohlen, ihren Mann getötet, und die späteren Stationen ihres Weges sind von brennenden Kirchen gezeichnet: Die erste hat sie fahrlässig angezündet, weil sie sich wärmen wollte, die anderen wie unter Zwang. Appelfeld ist kein Moralist, der uns zu einem Urteil zwingen will. Sein lakonischer und poetischer Roman, den Anne Birkenhauer wieder loyal übertragen hat, legt uns eher nahe, die mildernden Umstände zu bedenken. Seine Zurückhaltung ist mutiger als die salbungsvollste Predigt.
PETER DEMETZ.
Aharon Appelfeld: "Bis der Tag anbricht". Roman. Aus dem Hebräischen übersetzt von Anne Birkenhauer. Rowohlt Berlin Verlag, Berlin 2006. 255 S., geb., 17,90 [Euro].
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Perlentaucher-Notiz zur NZZ-Rezension
Aharon Appelfeld schreibt "jüdische Geschichten", und er tut es aus dem Wissen dessen heraus, was den Juden später widerfahren ist, erklärt Rezensent Andreas Breitenstein. In diesem - wunderbar ins Deutsche übersetzten - Roman, so der Rezensent, erzählt Appelfeld "die Geschichte einer Assimilation, die im Albtraum endet". Blanka, begabte Tochter aus einem jüdischen und religiös entwurzelten Haus, konvertiere zum Christentum um den hübschen, aber geistig schlichten Adolf zu heiraten, der sich jedoch als Pascha und Judenhasser entpuppe und sie zunehmend erniedrige. Blanka müsse schließlich feststellen, dass ihr die Assimilation genauso wenig geglückt ist wie der Generation ihrer Eltern, die sich von dem eigenen Glauben zurückgezogen hatten. Blankas Ausweg, so der Rezensent, ist die Flucht vor dem Ehemann und die Rückkehr zum Glauben, durch den sie Freiheit und Sicherheit des Handelns zurückerlangt, wiewohl die Handlung ungebremst auf den Abgrund zurast. Sehr gefallen hat dem Rezensenten die "betörend schlichte" Art, mit der Appelfeld den Leser in seinen Bann zieht und dabei doch den Trost mit Zweifel behaftet. Der Roman, so Breitenstein, "endet mit einer Utopie der Versöhnung, die in Wirklichkeit eine Hinrichtung ist."
© Perlentaucher Medien GmbH
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Aharon Appelfeld ist ein wichtiger Zeuge des vergangenen Jahrhunderts. Er lebt in Israel, zählt jedoch zu den großen jüdischen Erzählern Osteuropas. FAZ.NET