Die Rautenbergs: die Geschichte einer westdeutschen Unternehmerfamilie und ihres Verfalls. Als Wilhelm und Inga sich kennenlernen, sitzt Adenauer noch im Kanzleramt. Arzttochter Inga ist eine Schönheit und Wilhelm, ein erfolgreicher Dressurreiter, die beste Partie. Doch kurz nach der Geburt des zweiten Kindes stirbt Inga an Leukämie. Die jüngere Tochter wird zu den Großeltern mütterlicherseits gegeben, die ältere bleibt beim Vater. Der baut sich, um den Zwängen der Freikirchlichen Gemeinde und seiner strengen Mutter zu entfliehen, ein Haus, kilometerweit vom nächsten Nachbarn. Nach sieben Jahren holt Wilhelm seine Jüngste wieder zu sich - , ganz wie im Märchen. Was aber folgt, ist alles andere als märchenhaft.
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Eva Sichelschmidt beschreibt mit gekonnten Zeitsprüngen den Aufstieg und Fall einer westdeutschen Familie in der Nachkriegszeit. Sie zeichnet voller Freude am Detail Lebenswelten, die uns prägten. Der Kern ihres Buches aber ist das Schicksal eines Mannes, der trotz Erfolg nicht das Leben führen durfte, das er ersehnte, und für dessen Unglück alle bezahlen müssen. Brigitte 20200603
Unter Mördern und Irren
Champagner, Prunk und Frivolitäten: Eva Sichelschmidts doppelbödiger Roman „Bis wieder einer weint“
Eva Sichelschmidts Roman „Bis wieder einer weint“ erzählt von zwei westdeutschen Frauen, die ein gemeinsames Ziel haben: ein möglichst reibungsloses Leben in schönster Übereinkunft mit ihrem unmittelbaren Umfeld. Sie wollen sich gut unterhalten, gut aussehen und einen guten Eindruck machen. Daran ist erst einmal nichts auszusetzen, und das hat der Roman auch nicht vor.
Eine dieser beiden Frauen heißt Inga, wurde 1941 als Tochter eines Provinzarztes im Ruhrgebiet geboren und heiratet den beliebtesten Junggesellen der Gegend, den gut aussehenden Unternehmenserben Wilhelm Rautenberg („keiner sah so schmuck aus wie er“). Im Zuge des Wirtschaftswunders wächst die Firma rasant und wirft sehr bald so viel Geld ab, dass sich die Familie kein Haus baut, sondern einen Sitz, einen abgelegenen Großbürgerpalast mit Schwimmhalle, Reitstall und Tennisplatz, in dem selbst für die bettlägerige Großmutter ein eigener Flügel eingeplant ist.
Die andere Frau ist eigentlich ein Mädchen, Ingas jüngste Tochter, die kleine Suse, die aus der Ich-Perspektive berichtet, wie es ist, in den Siebzigerjahren unter erschwerten Bedingungen aufzuwachsen: rothaarig, absurd reich, unter einem alleinerziehenden Vater, dessen psychischer Zustand sich kontinuierlich verschlechtert und ohne Erinnerung an die Mutter. Denn Inga Rautenberg, die blonde Dorfschönheit, die regelmäßig mit der Schauspielerin Grace Kelly verglichen wird, bevor aus dieser die leicht verlebte Fürstengattin Grace Patricia Grimaldi wurde, stirbt in ihrem dreißigsten Jahr an Leukämie.
Der Tod der Inga Rautenberg ist das Gravitationszentrum des Romans. Auf der reinen Erzählebene begibt er sich scheinbar kritiklos hinein in die Selbsterzählung der Fünfzigerjahre als heile Welt, in der die Dinge übersichtlicher waren und noch nicht alles unentwegt politisiert und sexuell befreit werden musste. Inga richtet sich mit einer fröhlichen Bestimmtheit in ihrer Ehe ein, die man vielleicht von den englischen Bürgerstöchtern in George Eliots „Middlemarch“ kennt. Sie bewundert ihren Wilhelm, wenn er beim Dressurreiten hoch zu Ross eins wird mit dem Tier und sie mag auch ihren neuen Namen, weil er ihrer Unterschrift eine neue Eleganz verleiht.
Durch die Ehe, so sieht sie das, wird sie „erwachsen, nicht mehr nur Tochter, sondern vor allem Ehefrau sein. Die Ehe wird ihr gut zu Gesicht stehen.“ An anderer Stelle erfahren wir fast nebenbei von einer anderen Eigenschaft der Inga Rautenberg, obwohl die für ihr neues Leben als westdeutsche Industrieunternehmergattin vielleicht noch viel größere Bedeutung hat: „Inga hatte in Geschichte nicht besonders gut aufgepasst.“
Nur wenige Jahre später allerdings bricht diese schöne junge Mutter, Gattin und Hausfrau, die zwar manchmal gelangweilt in ihrem neuen Leben herumsteht, wenn Wilhelm erst spät aus dem Reiterstübchen kommt, aber auch nicht zu sehr, ausgerechnet auf der Party zusammen, die eigentlich die finale Ankunft der Familie in den höchsten sozialen Zirkeln markieren sollte, auf dem Oktoberfestempfang der Familie Krupp. Die Einladung wird als große Ehre empfunden. Als sie im Hause Rautenberg eintrifft, erinnert sich die personale Erzählstimme an die ausschweifenden Feste des Patriarchen Alfried Krupp in der Villa Hügel, die Wilhelm und Inga selbst schon einmal besuchen durften: „Inga hatte man den ganzen Abend nicht von der Tanzfläche bekommen, mit allen Männern hatte sie getanzt, sogar mit dem alten Krupp. Eine imposante Erscheinung war dieser hochgewachsene Patriarch, mit scharf geschnittenen Gesichtszügen.“ Alfried Krupp ist im Bewusstsein der Rautenbergs ein Unternehmer alten Formats, man spricht von ihm ausschließlich mit Hochachtung. Die subtile Erzählkunst dieses Romans besteht darin, dass Eva Sichelschmidt auch hier, als längst alle Alarmglocken schrillen, nicht abweicht von der Perspektive ihrer naiven Protagonistin Inga. Es bleibt also unerwähnt, dass Alfried Krupp zwei Jahrzehnte zuvor in den Nürnberger Prozessen zu zwölf Jahren Haft verurteilt worden war, die er zumindest teilweise absitzen musste, bevor er 1951 amnestiert wurde. Sein Unternehmen hatte für die Ausrüstung der Wehrmacht mit schwerem Gerät etwa 60 000 Zwangsarbeiter beschäftigt und, als das noch immer nicht genügte, zusätzlich jüdische KZ-Insassen angefordert. Bis zu seinem Lebensende hat Alfried Krupp die Nürnberger Prozesse als ungerechtfertigt betrachtet.
Trotzdem geht es Familie und Konzern in der Romangegenwart schon wieder blendend, ihr Ruf in der westdeutschen Oberschicht ist tadellos, die Einladungen zu ihren Empfängen gleichen Ritterschlägen: „Von der Feier auf einem Schloss der Familie Krupp in der Nähe von Salzburg hat Uli noch Monate geschwärmt. Champagner hat es gegeben, viel Prunk und allerhand Frivolitäten in sogenannten Separés.“ Auf diesem Oktoberfestempfang also bricht Inga Rautenberg kreidebleich zusammen, womit sich die Verdrängungskultur der jungen, neureichen Bundesrepublik motivisch verschränkt mit der Leukämie der Protagonistin. Ein Leben ist hier eigentlich nicht möglich. Selbst die Ärzte belügen sie und verschweigen ihr die Diagnose.
Von diesem Kippmoment aus betrachtet verwandelt sich die ausgestellte Betulichkeit der Erzählung in eine Dokumentation der praktizierten Verdrängungskultur. Durch die Pelze und Perlenketten schimmert immer noch der Massenmord. Die junge Bundesrepublik begräbt ihre Schuld unter Protz, Konsum und Ausschweifung.
Die nationalsozialistischen Überhänge sind im Roman allgegenwärtig, aber man sieht leicht über sie hinweg, weil Inga Rautenberg über sie hinwegsieht. Die Reiter treffen sich abends bei dem ehemaligen Schweinebauern Brinkmann, der auf Pferde umgesattelt hat und damit neuerdings zu einigem Geld gekommen ist: „Der unzeitgemäße Spruch ‚Meine Ehre heißt Treue‘, der über dem Eingang zur Brinkmann’schen Wohnstube prangt, wird allgemein übersehen“, heißt es da, genau wie die gekreuzten SS-Dolche über dem Sofa: „Ein Kauz eben.“ Als die Enkelin die geliebten Großeltern fragt, wie sie es eigentlich damals gehalten haben mit Hitler, wird sie gemaßregelt, nicht so schlau daherzureden: „Man muss das auch mal von der anderen Seite sehen.“ Und selbst der weiche Wilhelm Rautenberg lässt zwar die Schulfreunde seiner Töchter den Pool benutzen, aber nur, wenn sie weiß sind: „Wenn hier ständig Neger in mein Schwimmbad springen, lass ich das Wasser raus.“
Eva Sichelschmidts Roman gibt sich erzählerisch teilweise so naiv wie seine Protagonistinnen, aber die Erzählkonstruktion, die das gesamte Tableau um den symbolträchtigen Tod von Inga Rautenberg herum anordnet, legt eine zweite Ebene frei. Diese Welt ist nicht deshalb so behaglich und übersichtlich, weil sie heil, sondern weil sie verstümmelt ist. Und die Sprache dieser Zeit ist nur deshalb so formatiert und beherrscht, weil sie nie zwecklos sein darf, sondern permanent verleugnen muss. Bei all den eleganten, wohlhabenden Westdeutschen, die diesen Roman bevölkern, handelt es sich in Wahrheit um die „Mörder und Irren“, deren Allgegenwart Ingeborg Bachmann in ihrem Erzählungsband „Das dreißigste Jahr“ beschrieben hat. So ist es vielleicht kein Zufall, dass auch Eva Sichelschmidts Protagonistin dreißig Jahre alt ist, als sie stirbt.
FELIX STEPHAN
Eva Sichelschmidt: Bis wieder ein weint. Roman. Rowohlt Hundert Augen, Hamburg 2020. 480 Seiten, 22 Euro.
Von Alfried Krupp wird voller
Hochachtung gesprochen,
trotz der Nürnberger Prozesse
Diese Welt ist nur deshalb
so behaglich und übersichtlich,
weil sie verstümmelt ist
Von hier aus wurde die Wehrmacht ausgerüstet, nach dem Krieg floss bald wieder Champagner: die Villa Hügel, Sitz der Familie Krupp.
Foto: imago/Schöning
DIZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.sz-content.de
Champagner, Prunk und Frivolitäten: Eva Sichelschmidts doppelbödiger Roman „Bis wieder einer weint“
Eva Sichelschmidts Roman „Bis wieder einer weint“ erzählt von zwei westdeutschen Frauen, die ein gemeinsames Ziel haben: ein möglichst reibungsloses Leben in schönster Übereinkunft mit ihrem unmittelbaren Umfeld. Sie wollen sich gut unterhalten, gut aussehen und einen guten Eindruck machen. Daran ist erst einmal nichts auszusetzen, und das hat der Roman auch nicht vor.
Eine dieser beiden Frauen heißt Inga, wurde 1941 als Tochter eines Provinzarztes im Ruhrgebiet geboren und heiratet den beliebtesten Junggesellen der Gegend, den gut aussehenden Unternehmenserben Wilhelm Rautenberg („keiner sah so schmuck aus wie er“). Im Zuge des Wirtschaftswunders wächst die Firma rasant und wirft sehr bald so viel Geld ab, dass sich die Familie kein Haus baut, sondern einen Sitz, einen abgelegenen Großbürgerpalast mit Schwimmhalle, Reitstall und Tennisplatz, in dem selbst für die bettlägerige Großmutter ein eigener Flügel eingeplant ist.
Die andere Frau ist eigentlich ein Mädchen, Ingas jüngste Tochter, die kleine Suse, die aus der Ich-Perspektive berichtet, wie es ist, in den Siebzigerjahren unter erschwerten Bedingungen aufzuwachsen: rothaarig, absurd reich, unter einem alleinerziehenden Vater, dessen psychischer Zustand sich kontinuierlich verschlechtert und ohne Erinnerung an die Mutter. Denn Inga Rautenberg, die blonde Dorfschönheit, die regelmäßig mit der Schauspielerin Grace Kelly verglichen wird, bevor aus dieser die leicht verlebte Fürstengattin Grace Patricia Grimaldi wurde, stirbt in ihrem dreißigsten Jahr an Leukämie.
Der Tod der Inga Rautenberg ist das Gravitationszentrum des Romans. Auf der reinen Erzählebene begibt er sich scheinbar kritiklos hinein in die Selbsterzählung der Fünfzigerjahre als heile Welt, in der die Dinge übersichtlicher waren und noch nicht alles unentwegt politisiert und sexuell befreit werden musste. Inga richtet sich mit einer fröhlichen Bestimmtheit in ihrer Ehe ein, die man vielleicht von den englischen Bürgerstöchtern in George Eliots „Middlemarch“ kennt. Sie bewundert ihren Wilhelm, wenn er beim Dressurreiten hoch zu Ross eins wird mit dem Tier und sie mag auch ihren neuen Namen, weil er ihrer Unterschrift eine neue Eleganz verleiht.
Durch die Ehe, so sieht sie das, wird sie „erwachsen, nicht mehr nur Tochter, sondern vor allem Ehefrau sein. Die Ehe wird ihr gut zu Gesicht stehen.“ An anderer Stelle erfahren wir fast nebenbei von einer anderen Eigenschaft der Inga Rautenberg, obwohl die für ihr neues Leben als westdeutsche Industrieunternehmergattin vielleicht noch viel größere Bedeutung hat: „Inga hatte in Geschichte nicht besonders gut aufgepasst.“
Nur wenige Jahre später allerdings bricht diese schöne junge Mutter, Gattin und Hausfrau, die zwar manchmal gelangweilt in ihrem neuen Leben herumsteht, wenn Wilhelm erst spät aus dem Reiterstübchen kommt, aber auch nicht zu sehr, ausgerechnet auf der Party zusammen, die eigentlich die finale Ankunft der Familie in den höchsten sozialen Zirkeln markieren sollte, auf dem Oktoberfestempfang der Familie Krupp. Die Einladung wird als große Ehre empfunden. Als sie im Hause Rautenberg eintrifft, erinnert sich die personale Erzählstimme an die ausschweifenden Feste des Patriarchen Alfried Krupp in der Villa Hügel, die Wilhelm und Inga selbst schon einmal besuchen durften: „Inga hatte man den ganzen Abend nicht von der Tanzfläche bekommen, mit allen Männern hatte sie getanzt, sogar mit dem alten Krupp. Eine imposante Erscheinung war dieser hochgewachsene Patriarch, mit scharf geschnittenen Gesichtszügen.“ Alfried Krupp ist im Bewusstsein der Rautenbergs ein Unternehmer alten Formats, man spricht von ihm ausschließlich mit Hochachtung. Die subtile Erzählkunst dieses Romans besteht darin, dass Eva Sichelschmidt auch hier, als längst alle Alarmglocken schrillen, nicht abweicht von der Perspektive ihrer naiven Protagonistin Inga. Es bleibt also unerwähnt, dass Alfried Krupp zwei Jahrzehnte zuvor in den Nürnberger Prozessen zu zwölf Jahren Haft verurteilt worden war, die er zumindest teilweise absitzen musste, bevor er 1951 amnestiert wurde. Sein Unternehmen hatte für die Ausrüstung der Wehrmacht mit schwerem Gerät etwa 60 000 Zwangsarbeiter beschäftigt und, als das noch immer nicht genügte, zusätzlich jüdische KZ-Insassen angefordert. Bis zu seinem Lebensende hat Alfried Krupp die Nürnberger Prozesse als ungerechtfertigt betrachtet.
Trotzdem geht es Familie und Konzern in der Romangegenwart schon wieder blendend, ihr Ruf in der westdeutschen Oberschicht ist tadellos, die Einladungen zu ihren Empfängen gleichen Ritterschlägen: „Von der Feier auf einem Schloss der Familie Krupp in der Nähe von Salzburg hat Uli noch Monate geschwärmt. Champagner hat es gegeben, viel Prunk und allerhand Frivolitäten in sogenannten Separés.“ Auf diesem Oktoberfestempfang also bricht Inga Rautenberg kreidebleich zusammen, womit sich die Verdrängungskultur der jungen, neureichen Bundesrepublik motivisch verschränkt mit der Leukämie der Protagonistin. Ein Leben ist hier eigentlich nicht möglich. Selbst die Ärzte belügen sie und verschweigen ihr die Diagnose.
Von diesem Kippmoment aus betrachtet verwandelt sich die ausgestellte Betulichkeit der Erzählung in eine Dokumentation der praktizierten Verdrängungskultur. Durch die Pelze und Perlenketten schimmert immer noch der Massenmord. Die junge Bundesrepublik begräbt ihre Schuld unter Protz, Konsum und Ausschweifung.
Die nationalsozialistischen Überhänge sind im Roman allgegenwärtig, aber man sieht leicht über sie hinweg, weil Inga Rautenberg über sie hinwegsieht. Die Reiter treffen sich abends bei dem ehemaligen Schweinebauern Brinkmann, der auf Pferde umgesattelt hat und damit neuerdings zu einigem Geld gekommen ist: „Der unzeitgemäße Spruch ‚Meine Ehre heißt Treue‘, der über dem Eingang zur Brinkmann’schen Wohnstube prangt, wird allgemein übersehen“, heißt es da, genau wie die gekreuzten SS-Dolche über dem Sofa: „Ein Kauz eben.“ Als die Enkelin die geliebten Großeltern fragt, wie sie es eigentlich damals gehalten haben mit Hitler, wird sie gemaßregelt, nicht so schlau daherzureden: „Man muss das auch mal von der anderen Seite sehen.“ Und selbst der weiche Wilhelm Rautenberg lässt zwar die Schulfreunde seiner Töchter den Pool benutzen, aber nur, wenn sie weiß sind: „Wenn hier ständig Neger in mein Schwimmbad springen, lass ich das Wasser raus.“
Eva Sichelschmidts Roman gibt sich erzählerisch teilweise so naiv wie seine Protagonistinnen, aber die Erzählkonstruktion, die das gesamte Tableau um den symbolträchtigen Tod von Inga Rautenberg herum anordnet, legt eine zweite Ebene frei. Diese Welt ist nicht deshalb so behaglich und übersichtlich, weil sie heil, sondern weil sie verstümmelt ist. Und die Sprache dieser Zeit ist nur deshalb so formatiert und beherrscht, weil sie nie zwecklos sein darf, sondern permanent verleugnen muss. Bei all den eleganten, wohlhabenden Westdeutschen, die diesen Roman bevölkern, handelt es sich in Wahrheit um die „Mörder und Irren“, deren Allgegenwart Ingeborg Bachmann in ihrem Erzählungsband „Das dreißigste Jahr“ beschrieben hat. So ist es vielleicht kein Zufall, dass auch Eva Sichelschmidts Protagonistin dreißig Jahre alt ist, als sie stirbt.
FELIX STEPHAN
Eva Sichelschmidt: Bis wieder ein weint. Roman. Rowohlt Hundert Augen, Hamburg 2020. 480 Seiten, 22 Euro.
Von Alfried Krupp wird voller
Hochachtung gesprochen,
trotz der Nürnberger Prozesse
Diese Welt ist nur deshalb
so behaglich und übersichtlich,
weil sie verstümmelt ist
Von hier aus wurde die Wehrmacht ausgerüstet, nach dem Krieg floss bald wieder Champagner: die Villa Hügel, Sitz der Familie Krupp.
Foto: imago/Schöning
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Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 29.01.2020Am Rande des Reviers
Eva Sichelschmidts Roman "Bis wieder einer weint"
Dass der Rezensent einmal das Wort "Klümpchen" in einem Roman finden würde, hätte er nicht erwartet. Bei der Lektüre weckt es ganze Erinnerungskaskaden an Kindertage. Der Proust'sche Madeleine-Effekt funktioniert also auch mit einem Bonbon, und es braucht den Geschmack gar nicht dazu (erfreulicherweise, denn Klümpchen waren und sind eine reichlich vollsaftige Angelegenheit), sondern der Klang eines umgangssprachlichen Begriffs genügt, um eine Zeit, eine Gegend, eine Stimmung heraufzubeschwören. Dergleichen Signalwörter (Markennamen, Fernsehsendungen, westfälisches Idiom) gibt es einige in Eva Sichelschmidts Roman "Bis wieder einer weint".
Angesiedelt ist er allerdings auf zwei Zeitebenen, in zwei fiktiven Gemeinden am südlichen Rand des Ruhrgebiets und in zwei Stimmungen: einer Familie erst im Aufbruch und dann im Zusammenbruch. Die zwanzigjährige Arzttochter Inga Lüdersheim verguckt sich in den elf Jahre älteren Unternehmersohn Wilhelm Rautenberg, und am Ende des ersten von vier Teilen des Romans sind beide verheiratet. Dann schlägt das Schicksal bürgerlich bitter zu: Geld-, Ehe- und Gesundheitsprobleme stellen sich ein, und wenn man der Handlung ihren Reiz nicht nehmen will, verrät man hier nichts weiter. Die zweite Zeitebene setzt zehn Jahre später ein, mit der Geburt von Susanne, der zweiten Tochter des Ehepaars. Sie begleiten wir beim Aufwachsen im Zeichen der erwähnten Probleme bis hinein ins junge Erwachsenenalter, und sie ist für ihre Hälfte des Buchs auch dessen Ich-Erzählerin (bei einer auffälligen biographischen Schnittmenge mit der Autorin).
Es ist Eva Sichelschmidts zweiter Roman nach "Die Ruhe weg", der 2017 bei Knaus herauskam. Diesen Verlag gibt es nicht mehr, er ging in Penguin auf, und ein Teil seiner Autoren verließ das Haus - über die Frage, von welcher Seite jeweils die Trennung ausging, mag man spekulieren. Jedenfalls ist Eva Sichelschmidt zu Rowohlt gewechselt, also einer prominenten Adresse, allerdings in den dortigen "Hundert Augen"-Imprint, wo man sein Glück mit etwas leichtfüßigerer Literatur versucht als im Hauptprogramm. Und die Erzählung aus weiblicher Perspektive über die sechziger bis neunziger Jahre passt ja auch genau ins Beuteschema des Buchhandels, dem die Babyboomer der lohnendste Kundenkreis sind. Da es so viele Angehörige dieser Generation gibt, erscheinen heute auch recht viele Romane über jene reizvollen Jahre, als die Babyboomer noch jung waren und sich nicht nur so fühlten.
So zwangsläufig wenig originell dadurch der Inhalt von "Bis wieder einer weint" ist, so ambitioniert ist die Form des Buchs. Erzählt wird im ständigen, auch typographisch hervorgehobenen Wechsel zwischen mit Schlagworten betitelten Abschnitten aus Ich-Perspektive (zu Susannes Leben) und durchnumerierten, dafür jedoch namenlosen auktorialen Kapiteln (parallel zum Leben von Susannes Vater Wilhelm). Die Namen der Ich-Abschnitte geben jeweils ein Leitmotiv vor, das dann auch das folgende, zeitlich jedoch stets früher angesiedelte Kapitel prägt. So wird der Kurzschluss, dass die Fehler des Vaters sich auf die Tochter vererbt haben könnten, subtil ausgehebelt, weil man zunächst immer von der Jüngeren erzählt bekommt. Erst ganz zum Schluss werden beide Zeitebenen zusammengeführt, in zwei Sätzen verschmelzen Ich- und auktoriale Perspektive. Die alten Leben sind zu Ende, ein neues wird für Susanne beginnen, aber nicht mehr in diesem Roman.
Im ersten Teil ist die Handlung noch fesselnd, auch weil da die frühen sechziger Jahre Thema sind, also eine mittlerweile weit zurückliegende Zeit, und sich Eva Sichelschmidt bisweilen brillante Sarkasmen erlaubt wie den über Susannes Großvater mütterlicherseits, der nach der Schule kurzzeitig erwogen hatte, Eisenbahner zu werden. Er wurde dann Augenarzt und darum beneidet, weil man es in dieser Profession selten mit großem Leid oder gar dem Tod zu tun habe. Auf diese Binsenweisheit folgt aber der Satz: "Ein Beamter der Deutschen Reichsbahn hätte mit beidem noch weniger zu schaffen gehabt, keine Frage." Bösartiger geht es kaum, bei einem Abiturienten des Jahres 1929, also kurz vor dem "Dritten Reich" und dessen Deportationen.
Später gehorcht das Geschehen dann den gängigen Schemata eines Familienromans; nur einige Krankenhausaufenthalte anlässlich Kindsgeburt und Therapie bieten noch einmal mitreißende Schilderungen. Manche wohl als Clou gedachte Volte dagegen verpufft, weil zu absehbar ist, was passieren wird. "Übermut tut selten gut", weiß Susannes Großmutter und sagt dann das, was dem Roman den Titel gegeben hat: "Bis wieder einer weint." Das Zitat steht auf Seite 159. Dann kennt man das Programm der noch folgenden zwei Drittel.
ANDREAS PLATTHAUS.
Eva Sichelschmidt: "Bis wieder einer weint". Roman.
Rowohlt Verlag, Hamburg 2020. 476 S., geb., 22,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Eva Sichelschmidts Roman "Bis wieder einer weint"
Dass der Rezensent einmal das Wort "Klümpchen" in einem Roman finden würde, hätte er nicht erwartet. Bei der Lektüre weckt es ganze Erinnerungskaskaden an Kindertage. Der Proust'sche Madeleine-Effekt funktioniert also auch mit einem Bonbon, und es braucht den Geschmack gar nicht dazu (erfreulicherweise, denn Klümpchen waren und sind eine reichlich vollsaftige Angelegenheit), sondern der Klang eines umgangssprachlichen Begriffs genügt, um eine Zeit, eine Gegend, eine Stimmung heraufzubeschwören. Dergleichen Signalwörter (Markennamen, Fernsehsendungen, westfälisches Idiom) gibt es einige in Eva Sichelschmidts Roman "Bis wieder einer weint".
Angesiedelt ist er allerdings auf zwei Zeitebenen, in zwei fiktiven Gemeinden am südlichen Rand des Ruhrgebiets und in zwei Stimmungen: einer Familie erst im Aufbruch und dann im Zusammenbruch. Die zwanzigjährige Arzttochter Inga Lüdersheim verguckt sich in den elf Jahre älteren Unternehmersohn Wilhelm Rautenberg, und am Ende des ersten von vier Teilen des Romans sind beide verheiratet. Dann schlägt das Schicksal bürgerlich bitter zu: Geld-, Ehe- und Gesundheitsprobleme stellen sich ein, und wenn man der Handlung ihren Reiz nicht nehmen will, verrät man hier nichts weiter. Die zweite Zeitebene setzt zehn Jahre später ein, mit der Geburt von Susanne, der zweiten Tochter des Ehepaars. Sie begleiten wir beim Aufwachsen im Zeichen der erwähnten Probleme bis hinein ins junge Erwachsenenalter, und sie ist für ihre Hälfte des Buchs auch dessen Ich-Erzählerin (bei einer auffälligen biographischen Schnittmenge mit der Autorin).
Es ist Eva Sichelschmidts zweiter Roman nach "Die Ruhe weg", der 2017 bei Knaus herauskam. Diesen Verlag gibt es nicht mehr, er ging in Penguin auf, und ein Teil seiner Autoren verließ das Haus - über die Frage, von welcher Seite jeweils die Trennung ausging, mag man spekulieren. Jedenfalls ist Eva Sichelschmidt zu Rowohlt gewechselt, also einer prominenten Adresse, allerdings in den dortigen "Hundert Augen"-Imprint, wo man sein Glück mit etwas leichtfüßigerer Literatur versucht als im Hauptprogramm. Und die Erzählung aus weiblicher Perspektive über die sechziger bis neunziger Jahre passt ja auch genau ins Beuteschema des Buchhandels, dem die Babyboomer der lohnendste Kundenkreis sind. Da es so viele Angehörige dieser Generation gibt, erscheinen heute auch recht viele Romane über jene reizvollen Jahre, als die Babyboomer noch jung waren und sich nicht nur so fühlten.
So zwangsläufig wenig originell dadurch der Inhalt von "Bis wieder einer weint" ist, so ambitioniert ist die Form des Buchs. Erzählt wird im ständigen, auch typographisch hervorgehobenen Wechsel zwischen mit Schlagworten betitelten Abschnitten aus Ich-Perspektive (zu Susannes Leben) und durchnumerierten, dafür jedoch namenlosen auktorialen Kapiteln (parallel zum Leben von Susannes Vater Wilhelm). Die Namen der Ich-Abschnitte geben jeweils ein Leitmotiv vor, das dann auch das folgende, zeitlich jedoch stets früher angesiedelte Kapitel prägt. So wird der Kurzschluss, dass die Fehler des Vaters sich auf die Tochter vererbt haben könnten, subtil ausgehebelt, weil man zunächst immer von der Jüngeren erzählt bekommt. Erst ganz zum Schluss werden beide Zeitebenen zusammengeführt, in zwei Sätzen verschmelzen Ich- und auktoriale Perspektive. Die alten Leben sind zu Ende, ein neues wird für Susanne beginnen, aber nicht mehr in diesem Roman.
Im ersten Teil ist die Handlung noch fesselnd, auch weil da die frühen sechziger Jahre Thema sind, also eine mittlerweile weit zurückliegende Zeit, und sich Eva Sichelschmidt bisweilen brillante Sarkasmen erlaubt wie den über Susannes Großvater mütterlicherseits, der nach der Schule kurzzeitig erwogen hatte, Eisenbahner zu werden. Er wurde dann Augenarzt und darum beneidet, weil man es in dieser Profession selten mit großem Leid oder gar dem Tod zu tun habe. Auf diese Binsenweisheit folgt aber der Satz: "Ein Beamter der Deutschen Reichsbahn hätte mit beidem noch weniger zu schaffen gehabt, keine Frage." Bösartiger geht es kaum, bei einem Abiturienten des Jahres 1929, also kurz vor dem "Dritten Reich" und dessen Deportationen.
Später gehorcht das Geschehen dann den gängigen Schemata eines Familienromans; nur einige Krankenhausaufenthalte anlässlich Kindsgeburt und Therapie bieten noch einmal mitreißende Schilderungen. Manche wohl als Clou gedachte Volte dagegen verpufft, weil zu absehbar ist, was passieren wird. "Übermut tut selten gut", weiß Susannes Großmutter und sagt dann das, was dem Roman den Titel gegeben hat: "Bis wieder einer weint." Das Zitat steht auf Seite 159. Dann kennt man das Programm der noch folgenden zwei Drittel.
ANDREAS PLATTHAUS.
Eva Sichelschmidt: "Bis wieder einer weint". Roman.
Rowohlt Verlag, Hamburg 2020. 476 S., geb., 22,- [Euro].
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