Ausgezeichnet mit dem Wissenschaftspreis des Deutschen Bundestages 2023
Neue Perspektive auf das deutsche Kaiserreich: Wie prägte es die Geschichte Deutschlands?
Es war kein festgefügtes Machtgebilde, sondern ein »ewiger Bund von Fürsten«: Oliver Haardt stellt die Geschichte des deutschen Reichs von 1871 bis 1918 unter einem völlig neuen Blickwinkel dar. Ein loser Bund von 22 Fürstenstaaten und drei Hansestädten bildete einen Staatenbund unter preußischer Führerschaft und ohne Zentralregierung.
Wie konnte sich aus diesem heterogenen Konglomerat ein straff zentralisierter Staat entwickeln, der wirtschaftlich und militärisch so schlagkräftig wie keine andere europäische Macht war? Oliver Haardt schlägt in dieser umfassenden Studie erstmals einen Bogen zwischen den Teildisziplinen der Rechts- und Politikgeschichte.
Die Reichsverfassung als Dokument der Verfassungs- und KulturgeschichteDie Rolle von Kaiser Wilhelm II. im Regierungssystem und ihr Wandel imLaufe der JahreWie bildete sich die Reichsregierung um Kanzler Otto von Bismarck aus?Wie entwickelte sich das Verhältnis zwischen Bund und Ländern, insbesondere Preußen?Die Auswirkungen der Reichspolitik auf die Entwicklung Deutschlands im 20. Jahrhundert
Vom Fürstenbund zur Reichsmonarchie: Was machte Bismarcks Bündnissystem so einzigartig?
Stark nach außen, instabil nach innen: Innenpolitische Machtkämpfe hielten das Regierungssystem ständig im Fluss. Trotz aller internen Spannungen konnte sich das Kaiserreich jedoch zum ersten deutschen Nationalstaat entwickeln, aus dem die Weimarer Republik hervorging. Die politische Kultur des Kaiserreichs hinterlässt bis heute Spuren in der europäischen Politik. Zum Beispiel ähneln die Föderalstrukturen der Europäischen Union denen des Kaiserreiches in einigen wichtigen Punkten in bemerkenswerter Weise.
Oliver Haardt gelingt ein interdisziplinärer Überblick auf dem aktuellen Stand der Forschung.. Seine kenntnisreiche Analyse fasst in klarem Stil Gründung, Zerfall und Auswirkungen des Deutschen Kaiserreichs zusammen.
Neue Perspektive auf das deutsche Kaiserreich: Wie prägte es die Geschichte Deutschlands?
Es war kein festgefügtes Machtgebilde, sondern ein »ewiger Bund von Fürsten«: Oliver Haardt stellt die Geschichte des deutschen Reichs von 1871 bis 1918 unter einem völlig neuen Blickwinkel dar. Ein loser Bund von 22 Fürstenstaaten und drei Hansestädten bildete einen Staatenbund unter preußischer Führerschaft und ohne Zentralregierung.
Wie konnte sich aus diesem heterogenen Konglomerat ein straff zentralisierter Staat entwickeln, der wirtschaftlich und militärisch so schlagkräftig wie keine andere europäische Macht war? Oliver Haardt schlägt in dieser umfassenden Studie erstmals einen Bogen zwischen den Teildisziplinen der Rechts- und Politikgeschichte.
Die Reichsverfassung als Dokument der Verfassungs- und KulturgeschichteDie Rolle von Kaiser Wilhelm II. im Regierungssystem und ihr Wandel imLaufe der JahreWie bildete sich die Reichsregierung um Kanzler Otto von Bismarck aus?Wie entwickelte sich das Verhältnis zwischen Bund und Ländern, insbesondere Preußen?Die Auswirkungen der Reichspolitik auf die Entwicklung Deutschlands im 20. Jahrhundert
Vom Fürstenbund zur Reichsmonarchie: Was machte Bismarcks Bündnissystem so einzigartig?
Stark nach außen, instabil nach innen: Innenpolitische Machtkämpfe hielten das Regierungssystem ständig im Fluss. Trotz aller internen Spannungen konnte sich das Kaiserreich jedoch zum ersten deutschen Nationalstaat entwickeln, aus dem die Weimarer Republik hervorging. Die politische Kultur des Kaiserreichs hinterlässt bis heute Spuren in der europäischen Politik. Zum Beispiel ähneln die Föderalstrukturen der Europäischen Union denen des Kaiserreiches in einigen wichtigen Punkten in bemerkenswerter Weise.
Oliver Haardt gelingt ein interdisziplinärer Überblick auf dem aktuellen Stand der Forschung.. Seine kenntnisreiche Analyse fasst in klarem Stil Gründung, Zerfall und Auswirkungen des Deutschen Kaiserreichs zusammen.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 30.07.2021Ein Mann von großer Reizbarkeit
Rachsucht gehört dazu: Neueditionen von Aufzeichnungen über Bismarck und eine Verfassungsgeschichte des Kaiserreichs.
Nach dem Deutsch-Dänischen Krieg 1864 war das Herzogtum Lauenburg an Preußen gekommen. Im September 1865 sollten die Stände dem neuen Herrn den Treueid leisten, aber da die Wahrung gewisser alter Rechte noch nicht zugesagt war, schien es zweifelhaft, ob die Eidesleistung zustande kommen werde. Doch Bismarck sorgte vor. Für den Fall einer Verzögerung war er entschlossen, das gesamte anwesende Volk schwören zu lassen; eine dazu vorbereitete Eidesformel nahm er mit in die Kirche, wo die Zeremonie stattfand. Das Ganze war womöglich nur eine Drohung, aber etwas von der rücksichtslosen Entschlossenheit Bismarcks ist zu erkennen: Dieser Mann war bereit, alle Minen hochgehen zu lassen. Den Eid nicht von den Ständen als den traditionellen Repräsentanten des Landes entgegenzunehmen, sondern vom ganzen Volk, das wäre eine revolutionäre Wendung gewesen. Aber dass nicht etwa der Eindruck von Bismarcks tiefer Volksfreundschaft entsteht: Als es Ende der 1880er Jahre um ein Schweineeinfuhrverbot ging, da sah er allein auf die Interessen der heimischen Landwirtschaft, "ob die Montanindustriebevölkerung billigeres Schweinefleisch habe, sei ihm gleichgültig".
Die beiden Vorfälle finden sich in den Bismarck-Erinnerungen von Robert von Keudell und Robert Lucius von Ballhausen, die nun wiederveröffentlicht wurden. Die beiden Bücher, zuerst 1901 und 1921 erschienen, sind immer gern benutzte Quellen für die Persönlichkeit Bismarcks gewesen. Ganz neue Eindrücke sind ihnen nicht abzugewinnen, aber der erste Nachdruck seit hundert und mehr Jahren ist doch zu begrüßen. Die tief widersprüchliche Person Bismarcks tritt in diesen Erinnerungen deutlich hervor. Genauer: bei Lucius von Ballhausen. Für Keudell gilt das nur eingeschränkt. Er war einige Jahre Bismarcks Privatsekretär, bevor er in den diplomatischen Dienst wechselte, sein Buch ist aus tiefer Bewunderung für den alten Chef geschrieben. Das Vorwort endet mit der Überzeugung, dass die langen Zitate aus den Briefen der "edlen Frau" (Bismarcks Gattin) "viele Seelen zu herzlicher Verehrung anregen" werden.
Ansichten eines Landedelmanns.
Da ist Lucius von Ballhausen nüchterner, reeller. Auch er bewundert Bismarck, ist regelmäßig dessen Gast und darf sich als Freund fühlen. Er empfindet den Reiz der bismarckschen Persönlichkeit, die Kunst der Menschenbehandlung, die Klugheit. Aber als wichtiger Reichstagsabgeordneter der Freikonservativen und ab 1879 preußischer Landwirtschaftsminister hat er eigene politische Aufgaben und sieht auch Bismarcks dunkle Seiten. Vor allem dessen enorme Reizbarkeit fällt ihm immer wieder auf: "Die Neigung, aus jeder Kleinigkeit einen Konfliktfall zu machen, ist fast krankhaft und führt zu ewigen Friktionen." Dazu der Unwille, einen Rat anzunehmen, auch wenn es um Gegenstände geht, die ihm wenig vertraut sind, wie die Wirtschafts- und Finanzpolitik. Selbst die Bekämpfung der Tollwut wird zu einem Problem, weil der Kanzler die neuen Erkenntnisse über die Verbreitung der Seuche (durch den Biss infizierter Tiere) ablehnt und als alter Landedelmann an Anschauungen festhält, wonach das Wetter ein ausschlaggebender Faktor sei.
Die Konfliktfreude, gesteigert bis zur Hasslust, trübt den Blick. Bismarcks Verhältnis zum Katholizismus hat etwas vom Verschwörungswahn, wenn er glaubt, die Proklamation der päpstlichen Unfehlbarkeit am 18. Juli 1870 und die französische Kriegserklärung am 19. Juli stünden in einem ursächlichen Zusammenhang. Während der Streiks 1886 möchte er bei jeder Gelegenheit den Belagerungszustand erklären lassen, um die Bevölkerung die Nachteile sozialdemokratischer Agitation spüren zu lassen, man müsse "rachsüchtig sein". Die parlamentarischen Gegner haben nichts Besseres zu erwarten. Jedes Zugeständnis lehnt Bismarck ab, "man dürfe gegen eine gewisse Klasse von Menschen nicht gerecht, billig, vernünftig sein".
Trübe auch die unkollegiale Art, Minister zu eigenständigen Entscheidungen aufzufordern, um später seine Empörung zu äußern. Und wenn man sich fragt, wie ein Regierungschef mit solchen Tendenzen zu Rücksichtslosigkeit und auch Willkür so lange bestehen konnte, wird man auf sein außenpolitisches Ansehen in ganz Europa verweisen, aber auch darauf, dass seine Zeit einen enormen Nervenverschleiß für alle bedeutete, nicht zuletzt für Wilhelm I. Dass dieser trotz so vieler und oft genug dramatisch ausgespielter Konflikte das Vertrauen zu seinem Kanzler nicht verlor, ist eine ganz eigene Leistung. Noch einmal tritt aus einer unverdächtigen Quelle vor Augen, dass das Ende Bismarcks 1890 nicht allein aus dem Unverstand Wilhelms II. zu erklären ist. Zuletzt hatte sich der Kanzler bei allen verhasst gemacht.
Das ist nicht unbekannt, und doch ist es interessant, in einem Tagebuch davon zu lesen. Die kurztaktige Beschreibung gibt einen Eindruck von den unendlich vielen Verzögerungen, Verwirrungen, Verstimmungen, mit denen Politik zu kämpfen hat, selbst wenn sie von einem Regierungschef geführt wird, der lange über eine ungewöhnliche Autorität verfügte. Was den ewigen Wunsch nach "Konzepten" oder "Perspektiven" anlangt, die gute Politik zu entwickeln habe - da buk Bismarck schon 1870 kleinere Brötchen: "Je länger er in der großen Politik arbeite, umso kürzer stecke er sich seine Ziele."
Wie man Beamte los wird.
Bemerkenswert, wie rasch Wilhelm II. in der Achtung sinkt. Gilt er zunächst noch als Hoffnung, fällt bald schon auf, wie schlecht er vorbereitet ist, wie wenig er über Staat und Politik weiß, wie fremd ihm die Bindung durch das Recht ist. Und dann macht man in solchen Aufzeichnungen immer Funde, die aus aktuellem Interesse freuen, etwa dass die deutschen Staaten in das neue Reichsland Elsass-Lothringen speziell jene Beamten schickten, die man selbst nicht brauchen konnte. Sehr beachtenswert auch die Bemerkung der Kaiserin Augusta über das Haus Orleans: "Ihr Eifer, das konfiszierte Vermögen zurückzuerhalten, sei unschicklich gewesen." Bedauerlich allerdings, dass die Edition ohne Kommentierung daherkommt. Der Arbeitsaufwand wäre sicher groß gewesen und vom Verlag allein nicht zu finanzieren. Aber dass keine andere Möglichkeit gefunden wurde, das ist doch schade.
Zur Komplettierung seines Reichsgründungsgedenkens hat der Verlag in ähnlicher Ausstattung wie die beiden Quellenbände auch noch eine voluminöse Darstellung der Verfassungsgeschichte des Kaiserreichs herausgebracht, verfasst von Oliver F. R. Haardt, Historiker in Cambridge. Haardt untersucht nicht allein den Text der Reichsverfassung und andere juristische Dokumente, er will vielmehr aus der politischen Praxis wie aus der Lektüre der rechtswissenschaftlichen Literatur eine umfassende Geschichte des Verfassungslebens geben; als methodisches Vorbild schimmert E. R. Huber durch. "Eine neue Geschichte des Deutschen Kaiserreichs", die der Untertitel verspricht, ist die Arbeit aber nur mit Einschränkungen. Vieles, was hier ausgebreitet wird, die große unitarische Tendenz des politischen Lebens und also die politisch schwache Rolle der Einzelstaaten und des Bundesrats, in dem sie ihre Vertretung hatten, die allmähliche Verreichung Preußens, die verfassungsrechtliche Unklarheit des Reiches, das kennt man eigentlich.
Haardt neigt nicht zu effektvoller Thesenbildung, er ist ein Mann der Umsicht und des Abwägens. Möglicherweise hat diese Tugend dazu beigetragen, das Buch über viele hundert Seiten dahinlaufen zu lassen, ohne dass aus den vielen Beobachtungen sich eine klare Kontur entwickelte. Die innere Ordnung ist undeutlich - 850 Seiten Text in zehn Kapiteln ohne Untergliederung - , auch das wohl Symptom eines zu schwachen staatsrechtlichen Erkenntnis- oder Begriffsbildungsehrgeizes. Der Leser bewundert die Arbeitskraft des Autors, er erfährt auch interessante Dinge, aber er muss sich ausführliche Notizen machen. Sonst wird er später nichts mehr wiederfinden.
STEPHAN SPEICHER.
Begegnungen mit Bismarck. Bd. 1: Robert von Keudell: Fürst und Fürstin Bismarck. Erinnerungen aus den Jahren 1846 - 1872. Mit einer Einführung von Oliver F. R. Haardt.
Bd. 2: Robert Lucius von Ballhausen: Bismarck-Erinnerungen des Staatsministers Robert Lucius von Ballhausen 1871 - 1890. Mit einem Nachwort von Christopher Clark. Wbg/Theiss Verlag, Darmstadt 2020. Zus. 895 S., geb., 85,- Euro.
Oliver R. Haardt: "Bismarcks ewiger Bund".
Eine neue Geschichte des Deutschen Kaiserreichs. Wbg/Theiss Verlag, Darmstadt 2020. 944 S., geb., 40,- Euro.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Rachsucht gehört dazu: Neueditionen von Aufzeichnungen über Bismarck und eine Verfassungsgeschichte des Kaiserreichs.
Nach dem Deutsch-Dänischen Krieg 1864 war das Herzogtum Lauenburg an Preußen gekommen. Im September 1865 sollten die Stände dem neuen Herrn den Treueid leisten, aber da die Wahrung gewisser alter Rechte noch nicht zugesagt war, schien es zweifelhaft, ob die Eidesleistung zustande kommen werde. Doch Bismarck sorgte vor. Für den Fall einer Verzögerung war er entschlossen, das gesamte anwesende Volk schwören zu lassen; eine dazu vorbereitete Eidesformel nahm er mit in die Kirche, wo die Zeremonie stattfand. Das Ganze war womöglich nur eine Drohung, aber etwas von der rücksichtslosen Entschlossenheit Bismarcks ist zu erkennen: Dieser Mann war bereit, alle Minen hochgehen zu lassen. Den Eid nicht von den Ständen als den traditionellen Repräsentanten des Landes entgegenzunehmen, sondern vom ganzen Volk, das wäre eine revolutionäre Wendung gewesen. Aber dass nicht etwa der Eindruck von Bismarcks tiefer Volksfreundschaft entsteht: Als es Ende der 1880er Jahre um ein Schweineeinfuhrverbot ging, da sah er allein auf die Interessen der heimischen Landwirtschaft, "ob die Montanindustriebevölkerung billigeres Schweinefleisch habe, sei ihm gleichgültig".
Die beiden Vorfälle finden sich in den Bismarck-Erinnerungen von Robert von Keudell und Robert Lucius von Ballhausen, die nun wiederveröffentlicht wurden. Die beiden Bücher, zuerst 1901 und 1921 erschienen, sind immer gern benutzte Quellen für die Persönlichkeit Bismarcks gewesen. Ganz neue Eindrücke sind ihnen nicht abzugewinnen, aber der erste Nachdruck seit hundert und mehr Jahren ist doch zu begrüßen. Die tief widersprüchliche Person Bismarcks tritt in diesen Erinnerungen deutlich hervor. Genauer: bei Lucius von Ballhausen. Für Keudell gilt das nur eingeschränkt. Er war einige Jahre Bismarcks Privatsekretär, bevor er in den diplomatischen Dienst wechselte, sein Buch ist aus tiefer Bewunderung für den alten Chef geschrieben. Das Vorwort endet mit der Überzeugung, dass die langen Zitate aus den Briefen der "edlen Frau" (Bismarcks Gattin) "viele Seelen zu herzlicher Verehrung anregen" werden.
Ansichten eines Landedelmanns.
Da ist Lucius von Ballhausen nüchterner, reeller. Auch er bewundert Bismarck, ist regelmäßig dessen Gast und darf sich als Freund fühlen. Er empfindet den Reiz der bismarckschen Persönlichkeit, die Kunst der Menschenbehandlung, die Klugheit. Aber als wichtiger Reichstagsabgeordneter der Freikonservativen und ab 1879 preußischer Landwirtschaftsminister hat er eigene politische Aufgaben und sieht auch Bismarcks dunkle Seiten. Vor allem dessen enorme Reizbarkeit fällt ihm immer wieder auf: "Die Neigung, aus jeder Kleinigkeit einen Konfliktfall zu machen, ist fast krankhaft und führt zu ewigen Friktionen." Dazu der Unwille, einen Rat anzunehmen, auch wenn es um Gegenstände geht, die ihm wenig vertraut sind, wie die Wirtschafts- und Finanzpolitik. Selbst die Bekämpfung der Tollwut wird zu einem Problem, weil der Kanzler die neuen Erkenntnisse über die Verbreitung der Seuche (durch den Biss infizierter Tiere) ablehnt und als alter Landedelmann an Anschauungen festhält, wonach das Wetter ein ausschlaggebender Faktor sei.
Die Konfliktfreude, gesteigert bis zur Hasslust, trübt den Blick. Bismarcks Verhältnis zum Katholizismus hat etwas vom Verschwörungswahn, wenn er glaubt, die Proklamation der päpstlichen Unfehlbarkeit am 18. Juli 1870 und die französische Kriegserklärung am 19. Juli stünden in einem ursächlichen Zusammenhang. Während der Streiks 1886 möchte er bei jeder Gelegenheit den Belagerungszustand erklären lassen, um die Bevölkerung die Nachteile sozialdemokratischer Agitation spüren zu lassen, man müsse "rachsüchtig sein". Die parlamentarischen Gegner haben nichts Besseres zu erwarten. Jedes Zugeständnis lehnt Bismarck ab, "man dürfe gegen eine gewisse Klasse von Menschen nicht gerecht, billig, vernünftig sein".
Trübe auch die unkollegiale Art, Minister zu eigenständigen Entscheidungen aufzufordern, um später seine Empörung zu äußern. Und wenn man sich fragt, wie ein Regierungschef mit solchen Tendenzen zu Rücksichtslosigkeit und auch Willkür so lange bestehen konnte, wird man auf sein außenpolitisches Ansehen in ganz Europa verweisen, aber auch darauf, dass seine Zeit einen enormen Nervenverschleiß für alle bedeutete, nicht zuletzt für Wilhelm I. Dass dieser trotz so vieler und oft genug dramatisch ausgespielter Konflikte das Vertrauen zu seinem Kanzler nicht verlor, ist eine ganz eigene Leistung. Noch einmal tritt aus einer unverdächtigen Quelle vor Augen, dass das Ende Bismarcks 1890 nicht allein aus dem Unverstand Wilhelms II. zu erklären ist. Zuletzt hatte sich der Kanzler bei allen verhasst gemacht.
Das ist nicht unbekannt, und doch ist es interessant, in einem Tagebuch davon zu lesen. Die kurztaktige Beschreibung gibt einen Eindruck von den unendlich vielen Verzögerungen, Verwirrungen, Verstimmungen, mit denen Politik zu kämpfen hat, selbst wenn sie von einem Regierungschef geführt wird, der lange über eine ungewöhnliche Autorität verfügte. Was den ewigen Wunsch nach "Konzepten" oder "Perspektiven" anlangt, die gute Politik zu entwickeln habe - da buk Bismarck schon 1870 kleinere Brötchen: "Je länger er in der großen Politik arbeite, umso kürzer stecke er sich seine Ziele."
Wie man Beamte los wird.
Bemerkenswert, wie rasch Wilhelm II. in der Achtung sinkt. Gilt er zunächst noch als Hoffnung, fällt bald schon auf, wie schlecht er vorbereitet ist, wie wenig er über Staat und Politik weiß, wie fremd ihm die Bindung durch das Recht ist. Und dann macht man in solchen Aufzeichnungen immer Funde, die aus aktuellem Interesse freuen, etwa dass die deutschen Staaten in das neue Reichsland Elsass-Lothringen speziell jene Beamten schickten, die man selbst nicht brauchen konnte. Sehr beachtenswert auch die Bemerkung der Kaiserin Augusta über das Haus Orleans: "Ihr Eifer, das konfiszierte Vermögen zurückzuerhalten, sei unschicklich gewesen." Bedauerlich allerdings, dass die Edition ohne Kommentierung daherkommt. Der Arbeitsaufwand wäre sicher groß gewesen und vom Verlag allein nicht zu finanzieren. Aber dass keine andere Möglichkeit gefunden wurde, das ist doch schade.
Zur Komplettierung seines Reichsgründungsgedenkens hat der Verlag in ähnlicher Ausstattung wie die beiden Quellenbände auch noch eine voluminöse Darstellung der Verfassungsgeschichte des Kaiserreichs herausgebracht, verfasst von Oliver F. R. Haardt, Historiker in Cambridge. Haardt untersucht nicht allein den Text der Reichsverfassung und andere juristische Dokumente, er will vielmehr aus der politischen Praxis wie aus der Lektüre der rechtswissenschaftlichen Literatur eine umfassende Geschichte des Verfassungslebens geben; als methodisches Vorbild schimmert E. R. Huber durch. "Eine neue Geschichte des Deutschen Kaiserreichs", die der Untertitel verspricht, ist die Arbeit aber nur mit Einschränkungen. Vieles, was hier ausgebreitet wird, die große unitarische Tendenz des politischen Lebens und also die politisch schwache Rolle der Einzelstaaten und des Bundesrats, in dem sie ihre Vertretung hatten, die allmähliche Verreichung Preußens, die verfassungsrechtliche Unklarheit des Reiches, das kennt man eigentlich.
Haardt neigt nicht zu effektvoller Thesenbildung, er ist ein Mann der Umsicht und des Abwägens. Möglicherweise hat diese Tugend dazu beigetragen, das Buch über viele hundert Seiten dahinlaufen zu lassen, ohne dass aus den vielen Beobachtungen sich eine klare Kontur entwickelte. Die innere Ordnung ist undeutlich - 850 Seiten Text in zehn Kapiteln ohne Untergliederung - , auch das wohl Symptom eines zu schwachen staatsrechtlichen Erkenntnis- oder Begriffsbildungsehrgeizes. Der Leser bewundert die Arbeitskraft des Autors, er erfährt auch interessante Dinge, aber er muss sich ausführliche Notizen machen. Sonst wird er später nichts mehr wiederfinden.
STEPHAN SPEICHER.
Begegnungen mit Bismarck. Bd. 1: Robert von Keudell: Fürst und Fürstin Bismarck. Erinnerungen aus den Jahren 1846 - 1872. Mit einer Einführung von Oliver F. R. Haardt.
Bd. 2: Robert Lucius von Ballhausen: Bismarck-Erinnerungen des Staatsministers Robert Lucius von Ballhausen 1871 - 1890. Mit einem Nachwort von Christopher Clark. Wbg/Theiss Verlag, Darmstadt 2020. Zus. 895 S., geb., 85,- Euro.
Oliver R. Haardt: "Bismarcks ewiger Bund".
Eine neue Geschichte des Deutschen Kaiserreichs. Wbg/Theiss Verlag, Darmstadt 2020. 944 S., geb., 40,- Euro.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
Rezensent Stephan Speicher kritisiert Oliver R. Haardts Verfassungsgeschichte des Kaiserreichs für ihre Beschränkung auf bekannte Fakten, etwa betreffend die "Verreichung Preußens" oder die Rolle der Einzelstaaten. Dass der Autor keine Thesen lanciert, sondern nur fleißig Beobachtungen aneinanderreiht, ist dem Rezensenten schließlich zu wenig. Vor allem, da Haardt seinem Stoff keine Ordnung zu geben vermag, wie Speicher konstatiert. Weil der Autor selbst keinen Begriffsbildungs- und Erkenntnisehrgeiz entwickelt, hat Speicher alle Hände voll zu tun, dem Material etwas abzugewinnen.
© Perlentaucher Medien GmbH
© Perlentaucher Medien GmbH
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 16.06.2021Der ruhelose
Staat
Oliver Haardts vorzügliche Studie über
das Regierungssystem des Kaiserreichs
VON DIETER LANGEWIESCHE
Im Rückblick auf den 150. Jahrestag der Reichsgründung wird wieder über das Kaiserreich gestritten. Ein Historikerstreit ist daraus aber nicht hervorgegangen. Der Grund ist einfach: Es gibt kein neues Bild von diesem Nationalstaat, das mit den bisherigen Deutungen bricht. Gestritten wird über altvertraute Vorstellungen. Einhellig war das Bild nie, das man sich von diesem Staat gemacht hat, auch nicht unter den Zeitgenossen. Doch die radikalen Umwertungen des Kaiserreichs geschahen erst nach dessen Ende. Erzwungen haben sie nicht neue Forschungsergebnisse.
Es waren vielmehr die Nachgeschichten, die das Kaiserreich in andere Entwicklungslinien einordneten. Das wohl berühmteste Beispiel bietet Thomas Mann. In seinen „Betrachtungen eines Unpolitischen“, geschrieben im Ersten Weltkrieg, verteidigte er den „vielverschrieenen ,Obrigkeitsstaat‘“, 1945 verdammte er ihn, indem er ihn in eine Geschichtslinie rückte, die auf 1933 zulief: „Durch Kriege entstanden, konnte das unheilige Deutsche Reich preußischer Nation immer nur ein Kriegsreich sein. Als solches hat es, ein Pfahl im Fleische der Welt, gelebt, und als solches geht es zugrunde.“ Mit dem Wissen um die nationalsozialistische Gewaltherrschaft und den Genozid an den europäischen Juden entwarf Thomas Mann eine deutsche Geschichte, in der mit dem Kaiserreich der Weg in die Katastrophen des 20. Jahrhunderts beginnt. Dieses Bild lebt mehr oder weniger modifiziert in jüngst erschienenen Büchern fort, die im Kaiserreich ein Geschichtserbe sehen, das noch unsere Gegenwart belaste. Andere ziehen andere Geschichtslinien. In ihnen steht das Kaiserreich am Anfang von Aufbrüchen in eine bessere Zukunft. Sozialdemokratie und Gewerkschaften erstarkten, die Frauenbewegung ebenfalls, die Parlamente wurden einflussreicher, der Sozial- und der Kulturstaat wurden ausgebaut, die Lebensverhältnisse verbesserten sich und die Lebenswartung stieg, um nur einiges zu nennen.
Welche der beiden Geschichtsbilder, die es seit Langem gibt, ist angemessener? Auf Forschungsergebnisse berufen sich beide. Reinhart Kosellecks vielzitierte Formel von der „Vetomacht der Quellen“ greift nicht, wenn es um lange Geschichtslinien geht. Sie werden durch die Perspektive bestimmt, mit der man die eigene Gegenwart in die Geschichte einordnet. Fachwissenschaftlich lässt sich die Konkurrenz der Perspektiven nicht entscheiden. Deshalb verwundert es nicht, dass der gegenwärtige Streit um die Deutung des Kaiserreichs nichts Neues zu dessen Erforschung beiträgt und auch nicht auf neue Forschungsergebnisse reagiert. Hier prallen vielmehr vertraute Geschichtsbilder aufeinander, die das Kaiserreich gegensätzlich in der Geschichte verorten.
Oliver F. R. Haardt entzieht sich dieser Perspektivenkonkurrenz. Er untersucht das Regierungssystem des Kaiserreichs in dessen Lebenszeit, weder verdunkelt noch aufgehellt – je nach Standpunkt des Betrachters – durch die Nachgeschichten. Haardt erzählt die Geschichte eines ruhelosen Staates, voller Dynamik, nicht nur in Wirtschaft, Gesellschaft und Kultur, das bestreitet ohnehin niemand, sondern auch politisch. Die Verfassung hat vieles offengelassen, sie besaß kein festes „Grundgerüst“, das die Rivalität zwischen „monarchischen und parlamentarischen, unitarischen und partikularistischen, hegemonialen und bündischen Kräften“ eingehegt hätte.
Das machte sie flexibel und zugleich schwer berechenbar. Die Verfassungsinstitutionen rangen „andauernd um Entscheidungsbefugnisse“, ein Ringen um Macht zwischen Bundesrat, Reichstag, Kaiser und Kanzler mitsamt den Reichsbehörden. Kompetenzstreitigkeiten ließen sich immer nur fallweise schlichten, entschieden wurden sie nicht nach rechtlichen Regeln, sondern anhand der jeweiligen Machtverhältnisse. Im Extremfall schien die gesamte Staatsordnung gefährdet, wenn der Kanzler mit dem Staatsstreich drohte, um die Gegenseite gefügig zu machen. Hugo Preuß sprach deshalb 1887 vom „vollendeten Muster eines Staatsgrundgesetzes, wie es nicht sein sollte.“
Haardt charakterisiert die Reichsverfassung als eine regelungsschwache Plattform für den institutionellen Machtwettbewerb. Die Grenzen staatlichen Handelns waren ebenso wenig präzise festgelegt wie die Beziehungen zwischen Reich und Einzelstaaten und zwischen den Bundesorganen. Bismarck hielt an der Illusion eines Fürstenbundes fest – die Verfassung spricht vom „ewigen Bund“ –, doch schon in seiner Amtszeit entwickelte sich das Regierungssystem in Richtung Reichsmonarchie. Dies stärkte die unitarischen Organe, den Reichstag und den Kaiser und ließ aus dem Kanzleramt eine Reichsregierung hervorgehen, die nicht vorgesehen war.
Der Bundesrat hingegen, zu dessen Hauptaufgaben es gehören sollte, eine Parlamentarisierung zu verhindern, verlor an Bedeutung und wurde in der Praxis zu einem Instrument der Reichsregierung. Die eingehende Analyse dieser Entwicklung gehört zu den Glanzstücken des Buches. Den widerspruchsvollen, wendungsreichen Weg, den das Zusammenspiel und Gegeneinander der Verfassungsorgane zurücklegte, das konfliktbeladene Aushandeln zwischen föderaler und zentralstaatlicher Ordnung kennzeichnet Haardt als einen zweipoligen Prozess: die föderalen Entscheidungsprozesse wurden parlamentarisiert, die parlamentarischen föderalisiert.
Das mag abstrakt klingen, doch der Autor gewinnt seine Ergebnisse, indem er die politische Praxis detailliert untersucht. Wie entstehen Gesetze? Wie werden Konflikte geregelt? Wer wird daran beteiligt? So wird sichtbar, wie zunehmend Reichsämter und Reichstagskommissionen zusammenarbeiteten und im Vorfeld Interessenorganisationen einbezogen wurden. Sichtbar wird auch, wie sich bei aller Dominanz Preußens dessen „Verreichung“ und nicht eine „Verpreußung“ des Reiches vollzog. Die Regierungsordnung des Reiches veränderte sich tiefgreifend, doch vieles blieb offen. Der Reichstag gewann enorm an Einfluss, ein parlamentarisches Regime, in dem die Regierung den Mehrheitsverhältnissen im Parlament entspricht, konnte er jedoch nicht durchsetzen, und die Integration der Sozialdemokratie wurde von der Reichsspitze verhindert. Diese Blockaden endeten erst im Weltkrieg, als es zu spät war, eine parlamentarische Monarchie zu etablieren.
Auch Haardt fragt nach dem Ort des Kaiserreichs „im Strom der Zeit“, wenn er etwa Lehren für die Europäische Union ableitet. Hier ist er eine Stimme unter vielen. Doch nur im Schlusskapitel. Die Hauptteile seines gewichtigen Werkes hingegen bieten die beste Gesamtdarstellung zum Regierungssystem des Deutschen Reichs und seines Wandels. Er schöpft aus einer breiten Forschungsliteratur, wertet zeitgenössische Beobachtungen und Analysen aus, insbesondere das staatsrechtliche Schrifttum, das die ungewöhnliche Konstruktion des jungen Staates zu bestimmen versuchte und höchst unterschiedliche Diagnosen stellte. Und er verfolgt die Debatten im Reichstag und im Bundesrat einschließlich der vielen Ausschüsse, in denen Aushandlungsprozesse abliefen, die uns aus der Gegenwart geläufig sind. So erschließt sich das Entwicklungspotenzial, das in diesem Regierungssystem steckte. Wie es weitergegangen wäre, wenn die Niederlage im Ersten Weltkrieg und die Revolution nicht die Verhältnisse völlig verändert hätten, können wir nicht wissen.
Auch ein so vorzügliches Werk hat seine Grenzen. Um den Föderalismus des Kaiserreichs insgesamt in den Blick zu bekommen, müsste die Reichsebene ergänzt werden um die Gliedstaaten und auch um die Kommunen. Dann würde das Bild dieses Staates noch bunter. Der Streit um seinen Ort in der deutschen Geschichte lebt in aller Regel davon, diese Vielfalt auszublenden. Eindeutigkeit hat ihren Preis.
Im gegenwärtigen Streit um
diese Epoche prallen vertraute
Geschichtsbilder aufeinander
Gibt es Lehren aus
dieser Geschichte für die
Europäische Union?
Oliver F.R. Haardt:
Bismarcks ewiger Bund. Eine neue Geschichte des Deutschen Kaiserreichs. Wissenschaftliche Buchgesellschaft,
Darmstadt 2020.
944 Seiten, 40 Euro.
DIZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.sz-content.de
Staat
Oliver Haardts vorzügliche Studie über
das Regierungssystem des Kaiserreichs
VON DIETER LANGEWIESCHE
Im Rückblick auf den 150. Jahrestag der Reichsgründung wird wieder über das Kaiserreich gestritten. Ein Historikerstreit ist daraus aber nicht hervorgegangen. Der Grund ist einfach: Es gibt kein neues Bild von diesem Nationalstaat, das mit den bisherigen Deutungen bricht. Gestritten wird über altvertraute Vorstellungen. Einhellig war das Bild nie, das man sich von diesem Staat gemacht hat, auch nicht unter den Zeitgenossen. Doch die radikalen Umwertungen des Kaiserreichs geschahen erst nach dessen Ende. Erzwungen haben sie nicht neue Forschungsergebnisse.
Es waren vielmehr die Nachgeschichten, die das Kaiserreich in andere Entwicklungslinien einordneten. Das wohl berühmteste Beispiel bietet Thomas Mann. In seinen „Betrachtungen eines Unpolitischen“, geschrieben im Ersten Weltkrieg, verteidigte er den „vielverschrieenen ,Obrigkeitsstaat‘“, 1945 verdammte er ihn, indem er ihn in eine Geschichtslinie rückte, die auf 1933 zulief: „Durch Kriege entstanden, konnte das unheilige Deutsche Reich preußischer Nation immer nur ein Kriegsreich sein. Als solches hat es, ein Pfahl im Fleische der Welt, gelebt, und als solches geht es zugrunde.“ Mit dem Wissen um die nationalsozialistische Gewaltherrschaft und den Genozid an den europäischen Juden entwarf Thomas Mann eine deutsche Geschichte, in der mit dem Kaiserreich der Weg in die Katastrophen des 20. Jahrhunderts beginnt. Dieses Bild lebt mehr oder weniger modifiziert in jüngst erschienenen Büchern fort, die im Kaiserreich ein Geschichtserbe sehen, das noch unsere Gegenwart belaste. Andere ziehen andere Geschichtslinien. In ihnen steht das Kaiserreich am Anfang von Aufbrüchen in eine bessere Zukunft. Sozialdemokratie und Gewerkschaften erstarkten, die Frauenbewegung ebenfalls, die Parlamente wurden einflussreicher, der Sozial- und der Kulturstaat wurden ausgebaut, die Lebensverhältnisse verbesserten sich und die Lebenswartung stieg, um nur einiges zu nennen.
Welche der beiden Geschichtsbilder, die es seit Langem gibt, ist angemessener? Auf Forschungsergebnisse berufen sich beide. Reinhart Kosellecks vielzitierte Formel von der „Vetomacht der Quellen“ greift nicht, wenn es um lange Geschichtslinien geht. Sie werden durch die Perspektive bestimmt, mit der man die eigene Gegenwart in die Geschichte einordnet. Fachwissenschaftlich lässt sich die Konkurrenz der Perspektiven nicht entscheiden. Deshalb verwundert es nicht, dass der gegenwärtige Streit um die Deutung des Kaiserreichs nichts Neues zu dessen Erforschung beiträgt und auch nicht auf neue Forschungsergebnisse reagiert. Hier prallen vielmehr vertraute Geschichtsbilder aufeinander, die das Kaiserreich gegensätzlich in der Geschichte verorten.
Oliver F. R. Haardt entzieht sich dieser Perspektivenkonkurrenz. Er untersucht das Regierungssystem des Kaiserreichs in dessen Lebenszeit, weder verdunkelt noch aufgehellt – je nach Standpunkt des Betrachters – durch die Nachgeschichten. Haardt erzählt die Geschichte eines ruhelosen Staates, voller Dynamik, nicht nur in Wirtschaft, Gesellschaft und Kultur, das bestreitet ohnehin niemand, sondern auch politisch. Die Verfassung hat vieles offengelassen, sie besaß kein festes „Grundgerüst“, das die Rivalität zwischen „monarchischen und parlamentarischen, unitarischen und partikularistischen, hegemonialen und bündischen Kräften“ eingehegt hätte.
Das machte sie flexibel und zugleich schwer berechenbar. Die Verfassungsinstitutionen rangen „andauernd um Entscheidungsbefugnisse“, ein Ringen um Macht zwischen Bundesrat, Reichstag, Kaiser und Kanzler mitsamt den Reichsbehörden. Kompetenzstreitigkeiten ließen sich immer nur fallweise schlichten, entschieden wurden sie nicht nach rechtlichen Regeln, sondern anhand der jeweiligen Machtverhältnisse. Im Extremfall schien die gesamte Staatsordnung gefährdet, wenn der Kanzler mit dem Staatsstreich drohte, um die Gegenseite gefügig zu machen. Hugo Preuß sprach deshalb 1887 vom „vollendeten Muster eines Staatsgrundgesetzes, wie es nicht sein sollte.“
Haardt charakterisiert die Reichsverfassung als eine regelungsschwache Plattform für den institutionellen Machtwettbewerb. Die Grenzen staatlichen Handelns waren ebenso wenig präzise festgelegt wie die Beziehungen zwischen Reich und Einzelstaaten und zwischen den Bundesorganen. Bismarck hielt an der Illusion eines Fürstenbundes fest – die Verfassung spricht vom „ewigen Bund“ –, doch schon in seiner Amtszeit entwickelte sich das Regierungssystem in Richtung Reichsmonarchie. Dies stärkte die unitarischen Organe, den Reichstag und den Kaiser und ließ aus dem Kanzleramt eine Reichsregierung hervorgehen, die nicht vorgesehen war.
Der Bundesrat hingegen, zu dessen Hauptaufgaben es gehören sollte, eine Parlamentarisierung zu verhindern, verlor an Bedeutung und wurde in der Praxis zu einem Instrument der Reichsregierung. Die eingehende Analyse dieser Entwicklung gehört zu den Glanzstücken des Buches. Den widerspruchsvollen, wendungsreichen Weg, den das Zusammenspiel und Gegeneinander der Verfassungsorgane zurücklegte, das konfliktbeladene Aushandeln zwischen föderaler und zentralstaatlicher Ordnung kennzeichnet Haardt als einen zweipoligen Prozess: die föderalen Entscheidungsprozesse wurden parlamentarisiert, die parlamentarischen föderalisiert.
Das mag abstrakt klingen, doch der Autor gewinnt seine Ergebnisse, indem er die politische Praxis detailliert untersucht. Wie entstehen Gesetze? Wie werden Konflikte geregelt? Wer wird daran beteiligt? So wird sichtbar, wie zunehmend Reichsämter und Reichstagskommissionen zusammenarbeiteten und im Vorfeld Interessenorganisationen einbezogen wurden. Sichtbar wird auch, wie sich bei aller Dominanz Preußens dessen „Verreichung“ und nicht eine „Verpreußung“ des Reiches vollzog. Die Regierungsordnung des Reiches veränderte sich tiefgreifend, doch vieles blieb offen. Der Reichstag gewann enorm an Einfluss, ein parlamentarisches Regime, in dem die Regierung den Mehrheitsverhältnissen im Parlament entspricht, konnte er jedoch nicht durchsetzen, und die Integration der Sozialdemokratie wurde von der Reichsspitze verhindert. Diese Blockaden endeten erst im Weltkrieg, als es zu spät war, eine parlamentarische Monarchie zu etablieren.
Auch Haardt fragt nach dem Ort des Kaiserreichs „im Strom der Zeit“, wenn er etwa Lehren für die Europäische Union ableitet. Hier ist er eine Stimme unter vielen. Doch nur im Schlusskapitel. Die Hauptteile seines gewichtigen Werkes hingegen bieten die beste Gesamtdarstellung zum Regierungssystem des Deutschen Reichs und seines Wandels. Er schöpft aus einer breiten Forschungsliteratur, wertet zeitgenössische Beobachtungen und Analysen aus, insbesondere das staatsrechtliche Schrifttum, das die ungewöhnliche Konstruktion des jungen Staates zu bestimmen versuchte und höchst unterschiedliche Diagnosen stellte. Und er verfolgt die Debatten im Reichstag und im Bundesrat einschließlich der vielen Ausschüsse, in denen Aushandlungsprozesse abliefen, die uns aus der Gegenwart geläufig sind. So erschließt sich das Entwicklungspotenzial, das in diesem Regierungssystem steckte. Wie es weitergegangen wäre, wenn die Niederlage im Ersten Weltkrieg und die Revolution nicht die Verhältnisse völlig verändert hätten, können wir nicht wissen.
Auch ein so vorzügliches Werk hat seine Grenzen. Um den Föderalismus des Kaiserreichs insgesamt in den Blick zu bekommen, müsste die Reichsebene ergänzt werden um die Gliedstaaten und auch um die Kommunen. Dann würde das Bild dieses Staates noch bunter. Der Streit um seinen Ort in der deutschen Geschichte lebt in aller Regel davon, diese Vielfalt auszublenden. Eindeutigkeit hat ihren Preis.
Im gegenwärtigen Streit um
diese Epoche prallen vertraute
Geschichtsbilder aufeinander
Gibt es Lehren aus
dieser Geschichte für die
Europäische Union?
Oliver F.R. Haardt:
Bismarcks ewiger Bund. Eine neue Geschichte des Deutschen Kaiserreichs. Wissenschaftliche Buchgesellschaft,
Darmstadt 2020.
944 Seiten, 40 Euro.
DIZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.sz-content.de
»Oliver Haardt erhält die Auszeichnung für sein Werk "Bismarcks ewiger Bund. Eine neue Geschichte des Deutschen Kaiserreichs". Haardt setzt sich mit der Verfassungs- und Politikgeschichte des Kaiserreichs von 1871 bis 1918 auseinander. ... Die Jury ist der Auffassung, dass Haardt mit seinem Werk einen bedeutenden und innovativen Beitrag zur Geschichte des deutschen Parlamentarismus vorgelegt habe. Durch seine Arbeit werde das Verständnis von Parlamentarisierungsprozessen politischer Systeme erweitert.« Wissenschaftspreis des Deutschen Bundestags 2023 »Diese brillante und meisterhaft geschriebene Darstellung bietet eine erstaunlich dynamische Neuerzählung der Geschichte des Kaiserreichs. Haardts höchst origineller Ansatz beleuchtet das turbulente Innenleben des deutschen Staatswesens auf vollkommen neue Weise. Hier werden nicht nur die inneren Beweggründe des Wandels sichtbar, sondern auch die Weichenstellungen, die den weiteren Kurs der deutschen Geschichte prägten.« Prof. Christopher Clark, Cambridge »Die beste Gesamtdarstellung zum Regierungssystem des Deutschen Reichs und seines Wandels!« Dieter Langewiesche, Süddeutsche Zeitung »The book is commendable for providing a new master narrative of the German Empire, merging the temporal turn with political and constitutional history.« English Historical Review »Haardts Verfassungsgeschichte des Kaiserreichs ist nicht die Geschichte einer unkontrollierten autoritären Herrschaft, sondern vielmehr eine Geschichte der Verfassungsentwicklung, der Reformen und der allmählichen Entstehung eines demokratischen, parlamentarischen Regimes. Und diese Geschichte ist ausgesprochen gut erzählt.« Jonathan Sperber, TIMES Literary Supplement. »Juristisches Buch des Jahres: Eine Darstellung der Verfassung und des Wandels der Verfassungswirklichkeit des Deutschen Reiches, und damit um Verfassungsgeschichte im anspruchsvollsten Sinne des Wortes. Ausgesprochen fesselnd erzählt. Haardt schreibt nicht nur glänzend, sondern seine Darstellung ist auch von dem erzählerischen Elan der anglo-amerikanischen Geschichtsschreibung geprägt. Das zeigt sich nicht zuletzt an der Art und Weise, wie er anhand charakteristischer Begebenheiten in sein Thema einführt: Sei es die schnodderige Begrüßung, die der junge Fürst Georg Albert von Schwarzburg-Rudolstadt den anderen gekrönten Häuptern beim Betreten des Spiegelsaals von Versailles entbot, oder sei es die Zabern-Affäre, die 1913 zu einer schweren innenpolitischen Krise führte« Juristen Zeitung »Oliver Haardt zeigt die Geschichte des Deutschen Reiches in völlig neuem Licht. Er erklärt, wie sich der 1871 von Bismarck geschaffene Fürstenbund durch die täglichen Herausforderungen, denen er sich vor allem während der Regierungszeit Wilhelms II. stellen musste, in einen Nationalstaat verwandelte. Das Werk ist hervorragend geschrieben. Eine außergewöhnliche Leistung:« Prof. Joachim Whaley, Cambridge »Haardt neigt nicht zu effektvoller Thesenbildung, er ist ein Mann der Umsicht und des Abwägens.« Frankfurter Allgemeine Zeitung »Oliver Haardt stellt die Geschichte des deutschen Reichs von 1871 bis 1918 unter einem völlig neuen Blickwinkel dar.« MAINfeeling »Das imposante Werk ist eine echte Bereicherung, wahrlich ein großer Wurf.« Horst Dreier, Akademische Blätter »Dem Historiker ist mit diesem monumentalen Werk etwas Erstaunliches gelungen.« P.M. History