Das berührende Zeugnis einer außergewöhnlichen Freundschaft - ein mutiger, kraftvoller Text über die Hoffnung, wenigstens einem Kind eine Zukunft zu geben
Nicolas Lunabba war selbst ein «Problemkind», nun kümmert er sich als Sozialarbeiter um Jugendliche, deren kriminelle Karriere vorgezeichnet scheint. Nur zu gut kennt er die Gewalt, die Wut. Seine Erfahrungen lassen ihn Zugang finden zu ihnen, besonders zu einem Jungen: Elijah. Aber Nicolas wird nicht alle retten können, vielleicht sogar keinen. Er muss sich abgrenzen, um nicht zu zerbrechen. Doch er wagt es, Elijah bei sich aufzunehmen, an Elijah zu glauben. Einfühlsam und ehrlich beschreibt Nicolas Lunabba, wie sich zwischen den beiden vorsichtig eine Beziehung voller Höhen und Tiefen entwickelt, wie Elijah Vertrauen zu Nicolas fasst und umgekehrt.
Nicolas Lunabbas literarisches Memoir ist ein wichtiger, hoch emotionaler Text über eine auseinanderdriftende Gesellschaft, über die Verletzlichkeit von Jungen und Männern, über strukturellen Rassismus und Klassismus.
Nicolas Lunabba war selbst ein «Problemkind», nun kümmert er sich als Sozialarbeiter um Jugendliche, deren kriminelle Karriere vorgezeichnet scheint. Nur zu gut kennt er die Gewalt, die Wut. Seine Erfahrungen lassen ihn Zugang finden zu ihnen, besonders zu einem Jungen: Elijah. Aber Nicolas wird nicht alle retten können, vielleicht sogar keinen. Er muss sich abgrenzen, um nicht zu zerbrechen. Doch er wagt es, Elijah bei sich aufzunehmen, an Elijah zu glauben. Einfühlsam und ehrlich beschreibt Nicolas Lunabba, wie sich zwischen den beiden vorsichtig eine Beziehung voller Höhen und Tiefen entwickelt, wie Elijah Vertrauen zu Nicolas fasst und umgekehrt.
Nicolas Lunabbas literarisches Memoir ist ein wichtiger, hoch emotionaler Text über eine auseinanderdriftende Gesellschaft, über die Verletzlichkeit von Jungen und Männern, über strukturellen Rassismus und Klassismus.
In die sehr persönliche Geschichte einer Freundschaft, eines Aufwachsens, flicht der Autor überzeugend Fragen des Klassismus ein, den desolaten Zustand beinahe aufgegebener Schulen, die strukturelle Gewalt einer Politik, "die nicht von den menschlichen Grundbedürfnissen ausgeht". Valerie Bäuerlein morgenpost.de 20240504
Perlentaucher-Notiz zur Süddeutsche Zeitung-Rezension
In Schweden war dieses Buch ein großer Erfolg, nun trifft sich Rezensent Alex Rühle mit dem Autor Nicolas Lunabba in Malmö, der Stadt, in der sich die Geschehnisse abgespielt haben. Lunabba ist Sozialarbeiter, 2012 hat er in einer Art Übersprungshandlung einen Klienten bei sich zuhause aufgenommen, den 14-jährigen Elijah, der in einem Strudel aus Gewalt zu versinken droht und in dessen Umfeld schon diverse Jugendliche getötet wurden. Lunabba erzählt von einer Stadt, in der es etliche solcher Fälle gibt, von Klassenunterschieden und den jeweiligen spezifischen Codes, die man beherrschen muss, um dazuzugehören, so Rühle. Ein Buch, das von der Brutalität berichtet, mit der Jugendliche sterben und vom Staat alleine gelassen werden, aber auch von den Möglichkeiten, die Elijah mit der Hilfe des Sozialarbeiters ergreifen konnte, schließt der überzeugte Kritiker.
© Perlentaucher Medien GmbH
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Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 10.08.2024Kälter als
der Tod
Wie eine scheinbar egalitäre Gesellschaft
die Schwächsten ignoriert, erzählte
Nicolas Lunabba in einem Memoir.
Und ganz Schweden wollte es lesen.
Treffen mit einem Bestsellerautor.
VON ALEX RÜHLE
Am Anfang des Buchs steht eine Geste, die eigentlich viel zu groß ist: Er nimmt diesen schlaksigen Jungen bei sich auf. Elijah. Der immer mit seinen beiden Freunden Abba und Josef auf dem Basketballplatz rumhängt. Dessen alleinerziehende Mutter Alkoholikerin ist. Und der in Gefahr ist, abzugleiten in eine der Jugendbanden, die zu der Zeit gerade eine Spur der Gewalt durch Nydala ziehen, eines der Armutsviertel von Malmö: Elijah ist 14, aber in seinem nächsten Umfeld wurden bereits acht Menschen getötet. Jetzt schläft dieser pubertierende Riese also plötzlich bei ihm auf dem Sofa, und er ist wütend auf sich selbst: Warum habe ich das getan? Und wie soll’s jetzt weitergehen?
Nicolas Lunabba, Streetworker in Malmö, war selbst 31, als er Elijah Clarence bei sich einziehen ließ. 2012 war das. Lunabba war Single, hatte keine Kinder und rutschte aufgrund seiner Übersprungshandlung plötzlich in die Rolle des Adoptivpapas. Musste sich das Bad teilen und die Küche. Musste Regeln aufstellen und regelmäßige Mahlzeiten bieten. Vorbild sein und sich Respekt verschaffen. Wobei der Teil anscheinend noch am leichtesten war.
Wie charismatisch Nicolas Lunabba auf die Jungs wirken muss, mit denen er seit Jahr und Tag zusammenarbeitet, versteht man sofort, wenn man sich mit ihm trifft: schwarze Jeans und Lederjacke, Glatze, durchtrainierter Oberkörper. Wenn Lunabba das kleine Café am Möllevångs-Platz betritt, scheint er die Malmöer Sommerluft von draußen mit hier reinzudrücken, so breit wirkt er. Aber dann strahlt er einen an mit diesem Lächeln, als würde er einen alten Freund endlich wiedersehen.
Lunabba muss dann auch erst mal das halbe Café begrüßen, also ist kurz Zeit, hinter seinem breiten Rücken das Buch vorzustellen, um das es hier eigentlich geht: „Bist du traurig, wenn ich sterbe“ stand in Schweden vor zwei Jahren auf der Bestsellerliste, wurde vielfach als bestes oder wichtigstes Buch des Jahres bezeichnet, auch weil es, wie ein Kritiker schrieb, so viele Facetten in sich vereint, dass es in den Kanon der Sozialliteratur gehöre.
Also, zum Auftakt drei, vier Facetten: Ein Buch über Malmö, die verrufenste Stadt Schwedens. „Oh“, sagt Lunabba lachend, „höchster Anteil an Kinderarmut, höchste Arbeitslosigkeitszahlen, Autodiebstähle, wir sind in allem die Besten.“
Ein Buch, das klar über Klassen spricht und, ähnlich wie die Bücher von Édouard Louis oder Christian Baron, sagt, doch, doch, es gibt eine Unterschicht und einen dazugehörigen „Unterschichtszorn“, mitten in euren chicen Städten, ihr wollt sie nur nicht sehen und ihr keinen Zutritt in die Gesellschaft geben.
Ein Buch über die rettende Kraft der Freundschaft. Und über Maskulinität. Über die elende Einsamkeit der Männer, die Stärke mit Stoffeligkeit verwechseln. „Am schwersten war es, darüber zu schreiben, wie allein ich selbst damals war“, so Lunabba.
Nicolas Lunabba ist Sohn einer Finnin und eines Spaniers, der die Familie verließ, als er vier war. Seine Mutter starb an Krebs, als er 19 war, sein Bruder ist selbst in den Strudel aus Gewalt, Gefängnis, Selbstverachtung geraten. Seine Mutter hat, ähnlich wie später er selbst, eines Tages ein Kind von der Straße mit nach Hause gebracht und sich von da an zuständig gefühlt. Sie hieß Anja und sagt heute, Lunabbas Mutter habe ihr das Leben gerettet. So ähnlich drückt es Elijah gegen Ende des Buchs auch aus.
Elijah Clarence. Vater aus Trinidad, Mutter alkoholkranke Schwedin. Er klammert sich sofort an Lunabba, wie an eine Rettungsboje, und hat zugleich diesen Panzer des Halbstarken um sich, der schon oft gedemütigt wurde und so tut, als sei ihm das egal. Was bleibt ihm übrig? Als seine Schule in einem landesweiten Leistungsvergleich auf dem vorletzten Platz landet, ruft er lachend: „Wir sind die Besten im Schlechtsein!“
Um noch eine Facette aufzuzählen: Es ist ein Buch über die so feinen wie gemeinen Unterschiede, die Regeln und Codes, die zwar unsichtbar, aber doch in Stein gemeißelt sind, und die dazu führen, dass Elijah, Abbe und Josef, die drei 14-jährigen Freunde, zwar nicht wissen, wo jemals ihr Platz sein könnte, dass sie aber sehr genau wissen, wo sie nicht hingehören, nämlich ins weiße, wohlhabende Schweden.
Lunabba sagt, der schwedische Staat habe sich fast ganz aus den problematischen Vierteln zurückgezogen, ganze Gruppen seien „im Grunde völlig sich selbst überlassen“. So erscheint Schweden in diesem Buch als durch und durch rassistisches Land, die drei Freunde bezeichnen einander permanent als „svartskallar“ (Schwarzschädel) und stellen lachend Ranglisten auf, wer am meisten verachtet wird von den „Bioschweden“, mit einer Rangliste von minus eins bis minus zehn. Elijah als Schwarzer mit muslimischem Glauben gewinnt mit weitem Abstand. „Du siehst nach Afrikaner und Araber aus“, frotzelt Abbe ihn an. „Und du bist Muslim. Dich hassen sie am meisten, Bruder. Du bist ’ne minus fünfzig!“
Lunabba spricht im Café davon, wie solchen Jungen, die auf die schiefe Bahn geraten, selbst noch der Tod als eigene Schuld angerechnet wird, „man muss sich ja nur anschauen, wie die Medien darüber berichten, im Verdachtsmodus, was haben sie wohl gemacht, dass sie erschossen wurden.“ Schweden sei so berauscht vom narzisstischen Selbstbild als moralisch gute Nation, dass all die Toten, all diese erschossenen Jugendlichen nichts mit dem Land zu tun haben dürfen.
Erst denkt man, dass das dann doch etwas übertrieben ist, aber dann fällt einem die Passage am Schluss wieder ein, die Abschrift eines Anrufs eines 16-Jährigen bei der Polizei. Auf den Jungen wurde mehrfach geschossen und eingestochen. Sein Freund liegt tot neben ihm. Er hat den Notruf gedrückt, die Polizistin, statt ihm zu helfen oder ihm zu erklären, was er machen muss, um nicht zu verbluten, fragt ihn gelangweilt und misstrauisch aus, ein Prozedere, kälter als der Tod.
Auf die Frage, warum er dieses Protokoll ans Ende des Buchs stellte, sagt Lunabba: „Weil nichts so prägnant zeigt, wie nachlässig und desinteressiert Schweden seine Kinder auf offener Straße sterben lässt.“ Der Junge, der da um sein Leben kämpfte, war Anjas Sohn. Und derjenige, der ihn fast getötet hätte, war Abbe. Elijahs Freund.
So ist es auch das Buch mit dem traurigsten Happy End. Nur wenn man weiß, welche Möglichkeiten es überhaupt gibt, kann man diese dann auch entgegen aller Wahrscheinlichkeit ergreifen: Elijah hat es dank Lunabba auf ein US-Sportinternat geschafft, er wurde Basketballprofi, spielte für die schwedische U20-Nationalmannschaft und war vergangenes Jahr Topscorer der ungarischen Liga. Lunabba sagt, er könne es selbst oft kaum glauben. Er scrollt auf seinem Handy rum und zeigt dann Fotos von Elijah, stolz wie ein Vater: Eine Basketballhalle. Ein großer schöner Mann, der sich in die Höhe schraubt und über die Köpfe der anderen den Ball Richtung Korb wirft.
Abbe und Josef, Elijahs Kindheitsfreunde, hatten nicht dieses Glück, Josef wurde Opfer einer Schießerei, Abbe wurde zum Mörder. „Und diese Ungerechtigkeit verfolgt mich bis heute“, so Lunabba. Also den einen durch eine übergriffige, irrationale und eigentlich auch seiner Berufslogik zuwiderlaufende Tat gerettet und im gleichen Moment die anderen beiden zurückgelassen zu haben. Puh. Hartes Treffen. Letzte Frage: Lunabba ist kein Orakel und kein Sozialminister, aber er arbeitet seit 20 Jahren mit vernachlässigten Jugendlichen. Was also kann getan werden, um das ganze Land aus der Gewalt und die Kinder aus der Not zu holen?
Plötzlich wieder dieses Lächeln. Als sei alles bestens. Ist es ja auch. Zumindest in Nydala. Na ja, nicht bestens, aber besser. „Wir haben ein enges Netz geknüpft. Essensausgabe für die Kinder, die zu Hause zu wenig bekommen. Bücherei. Ein Gym. Einen Raum, in dem wir Filme zeigen.“ 50 solche Möglichkeitsräume wurden eröffnet. Innerhalb eines Jahres gingen die Gewalttaten auf nahezu null runter. Die Leute fühlten sich sicher und gingen wieder auf die Straße. „Wenn wir das in ganz Schweden machen würden, gäbe es weniger Probleme.“ Er schaut raus auf den Möllevångs-Platz, auf dem Malmö sommerlich glänzt und sagt: „Andererseits, was ist das für ein Land, das diese Dinge nicht von sich aus bereitstellen kann?“
Schweden, berauscht vom
narzisstischen Selbstbild,
sieht seine Toten nicht
Inzwischen ist die Zahl der Gewaltverbrechen in Malmö-Nydaka radikal gesunken: Die Polizei an einem Tatort dort 2016.
Foto: Johan Nilsson/imago/tt
Nicolas Lunabba wurde 1981 in Spanien geboren. Sein Memoir stand mehr als ein Jahr auf der schwedischen Bestsellerliste.
Foto: J. Klemedsson Sotomayor/Rowohlt
Nicolas Lunabba:
Bist du traurig, wenn ich sterbe. Aus dem
Schwedischen von Stefan Pluschkat. Rowohlt
Hundert Augen,
Hamburg 2024.
301 Seiten, 25 Euro.
DIZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.sz-content.de
der Tod
Wie eine scheinbar egalitäre Gesellschaft
die Schwächsten ignoriert, erzählte
Nicolas Lunabba in einem Memoir.
Und ganz Schweden wollte es lesen.
Treffen mit einem Bestsellerautor.
VON ALEX RÜHLE
Am Anfang des Buchs steht eine Geste, die eigentlich viel zu groß ist: Er nimmt diesen schlaksigen Jungen bei sich auf. Elijah. Der immer mit seinen beiden Freunden Abba und Josef auf dem Basketballplatz rumhängt. Dessen alleinerziehende Mutter Alkoholikerin ist. Und der in Gefahr ist, abzugleiten in eine der Jugendbanden, die zu der Zeit gerade eine Spur der Gewalt durch Nydala ziehen, eines der Armutsviertel von Malmö: Elijah ist 14, aber in seinem nächsten Umfeld wurden bereits acht Menschen getötet. Jetzt schläft dieser pubertierende Riese also plötzlich bei ihm auf dem Sofa, und er ist wütend auf sich selbst: Warum habe ich das getan? Und wie soll’s jetzt weitergehen?
Nicolas Lunabba, Streetworker in Malmö, war selbst 31, als er Elijah Clarence bei sich einziehen ließ. 2012 war das. Lunabba war Single, hatte keine Kinder und rutschte aufgrund seiner Übersprungshandlung plötzlich in die Rolle des Adoptivpapas. Musste sich das Bad teilen und die Küche. Musste Regeln aufstellen und regelmäßige Mahlzeiten bieten. Vorbild sein und sich Respekt verschaffen. Wobei der Teil anscheinend noch am leichtesten war.
Wie charismatisch Nicolas Lunabba auf die Jungs wirken muss, mit denen er seit Jahr und Tag zusammenarbeitet, versteht man sofort, wenn man sich mit ihm trifft: schwarze Jeans und Lederjacke, Glatze, durchtrainierter Oberkörper. Wenn Lunabba das kleine Café am Möllevångs-Platz betritt, scheint er die Malmöer Sommerluft von draußen mit hier reinzudrücken, so breit wirkt er. Aber dann strahlt er einen an mit diesem Lächeln, als würde er einen alten Freund endlich wiedersehen.
Lunabba muss dann auch erst mal das halbe Café begrüßen, also ist kurz Zeit, hinter seinem breiten Rücken das Buch vorzustellen, um das es hier eigentlich geht: „Bist du traurig, wenn ich sterbe“ stand in Schweden vor zwei Jahren auf der Bestsellerliste, wurde vielfach als bestes oder wichtigstes Buch des Jahres bezeichnet, auch weil es, wie ein Kritiker schrieb, so viele Facetten in sich vereint, dass es in den Kanon der Sozialliteratur gehöre.
Also, zum Auftakt drei, vier Facetten: Ein Buch über Malmö, die verrufenste Stadt Schwedens. „Oh“, sagt Lunabba lachend, „höchster Anteil an Kinderarmut, höchste Arbeitslosigkeitszahlen, Autodiebstähle, wir sind in allem die Besten.“
Ein Buch, das klar über Klassen spricht und, ähnlich wie die Bücher von Édouard Louis oder Christian Baron, sagt, doch, doch, es gibt eine Unterschicht und einen dazugehörigen „Unterschichtszorn“, mitten in euren chicen Städten, ihr wollt sie nur nicht sehen und ihr keinen Zutritt in die Gesellschaft geben.
Ein Buch über die rettende Kraft der Freundschaft. Und über Maskulinität. Über die elende Einsamkeit der Männer, die Stärke mit Stoffeligkeit verwechseln. „Am schwersten war es, darüber zu schreiben, wie allein ich selbst damals war“, so Lunabba.
Nicolas Lunabba ist Sohn einer Finnin und eines Spaniers, der die Familie verließ, als er vier war. Seine Mutter starb an Krebs, als er 19 war, sein Bruder ist selbst in den Strudel aus Gewalt, Gefängnis, Selbstverachtung geraten. Seine Mutter hat, ähnlich wie später er selbst, eines Tages ein Kind von der Straße mit nach Hause gebracht und sich von da an zuständig gefühlt. Sie hieß Anja und sagt heute, Lunabbas Mutter habe ihr das Leben gerettet. So ähnlich drückt es Elijah gegen Ende des Buchs auch aus.
Elijah Clarence. Vater aus Trinidad, Mutter alkoholkranke Schwedin. Er klammert sich sofort an Lunabba, wie an eine Rettungsboje, und hat zugleich diesen Panzer des Halbstarken um sich, der schon oft gedemütigt wurde und so tut, als sei ihm das egal. Was bleibt ihm übrig? Als seine Schule in einem landesweiten Leistungsvergleich auf dem vorletzten Platz landet, ruft er lachend: „Wir sind die Besten im Schlechtsein!“
Um noch eine Facette aufzuzählen: Es ist ein Buch über die so feinen wie gemeinen Unterschiede, die Regeln und Codes, die zwar unsichtbar, aber doch in Stein gemeißelt sind, und die dazu führen, dass Elijah, Abbe und Josef, die drei 14-jährigen Freunde, zwar nicht wissen, wo jemals ihr Platz sein könnte, dass sie aber sehr genau wissen, wo sie nicht hingehören, nämlich ins weiße, wohlhabende Schweden.
Lunabba sagt, der schwedische Staat habe sich fast ganz aus den problematischen Vierteln zurückgezogen, ganze Gruppen seien „im Grunde völlig sich selbst überlassen“. So erscheint Schweden in diesem Buch als durch und durch rassistisches Land, die drei Freunde bezeichnen einander permanent als „svartskallar“ (Schwarzschädel) und stellen lachend Ranglisten auf, wer am meisten verachtet wird von den „Bioschweden“, mit einer Rangliste von minus eins bis minus zehn. Elijah als Schwarzer mit muslimischem Glauben gewinnt mit weitem Abstand. „Du siehst nach Afrikaner und Araber aus“, frotzelt Abbe ihn an. „Und du bist Muslim. Dich hassen sie am meisten, Bruder. Du bist ’ne minus fünfzig!“
Lunabba spricht im Café davon, wie solchen Jungen, die auf die schiefe Bahn geraten, selbst noch der Tod als eigene Schuld angerechnet wird, „man muss sich ja nur anschauen, wie die Medien darüber berichten, im Verdachtsmodus, was haben sie wohl gemacht, dass sie erschossen wurden.“ Schweden sei so berauscht vom narzisstischen Selbstbild als moralisch gute Nation, dass all die Toten, all diese erschossenen Jugendlichen nichts mit dem Land zu tun haben dürfen.
Erst denkt man, dass das dann doch etwas übertrieben ist, aber dann fällt einem die Passage am Schluss wieder ein, die Abschrift eines Anrufs eines 16-Jährigen bei der Polizei. Auf den Jungen wurde mehrfach geschossen und eingestochen. Sein Freund liegt tot neben ihm. Er hat den Notruf gedrückt, die Polizistin, statt ihm zu helfen oder ihm zu erklären, was er machen muss, um nicht zu verbluten, fragt ihn gelangweilt und misstrauisch aus, ein Prozedere, kälter als der Tod.
Auf die Frage, warum er dieses Protokoll ans Ende des Buchs stellte, sagt Lunabba: „Weil nichts so prägnant zeigt, wie nachlässig und desinteressiert Schweden seine Kinder auf offener Straße sterben lässt.“ Der Junge, der da um sein Leben kämpfte, war Anjas Sohn. Und derjenige, der ihn fast getötet hätte, war Abbe. Elijahs Freund.
So ist es auch das Buch mit dem traurigsten Happy End. Nur wenn man weiß, welche Möglichkeiten es überhaupt gibt, kann man diese dann auch entgegen aller Wahrscheinlichkeit ergreifen: Elijah hat es dank Lunabba auf ein US-Sportinternat geschafft, er wurde Basketballprofi, spielte für die schwedische U20-Nationalmannschaft und war vergangenes Jahr Topscorer der ungarischen Liga. Lunabba sagt, er könne es selbst oft kaum glauben. Er scrollt auf seinem Handy rum und zeigt dann Fotos von Elijah, stolz wie ein Vater: Eine Basketballhalle. Ein großer schöner Mann, der sich in die Höhe schraubt und über die Köpfe der anderen den Ball Richtung Korb wirft.
Abbe und Josef, Elijahs Kindheitsfreunde, hatten nicht dieses Glück, Josef wurde Opfer einer Schießerei, Abbe wurde zum Mörder. „Und diese Ungerechtigkeit verfolgt mich bis heute“, so Lunabba. Also den einen durch eine übergriffige, irrationale und eigentlich auch seiner Berufslogik zuwiderlaufende Tat gerettet und im gleichen Moment die anderen beiden zurückgelassen zu haben. Puh. Hartes Treffen. Letzte Frage: Lunabba ist kein Orakel und kein Sozialminister, aber er arbeitet seit 20 Jahren mit vernachlässigten Jugendlichen. Was also kann getan werden, um das ganze Land aus der Gewalt und die Kinder aus der Not zu holen?
Plötzlich wieder dieses Lächeln. Als sei alles bestens. Ist es ja auch. Zumindest in Nydala. Na ja, nicht bestens, aber besser. „Wir haben ein enges Netz geknüpft. Essensausgabe für die Kinder, die zu Hause zu wenig bekommen. Bücherei. Ein Gym. Einen Raum, in dem wir Filme zeigen.“ 50 solche Möglichkeitsräume wurden eröffnet. Innerhalb eines Jahres gingen die Gewalttaten auf nahezu null runter. Die Leute fühlten sich sicher und gingen wieder auf die Straße. „Wenn wir das in ganz Schweden machen würden, gäbe es weniger Probleme.“ Er schaut raus auf den Möllevångs-Platz, auf dem Malmö sommerlich glänzt und sagt: „Andererseits, was ist das für ein Land, das diese Dinge nicht von sich aus bereitstellen kann?“
Schweden, berauscht vom
narzisstischen Selbstbild,
sieht seine Toten nicht
Inzwischen ist die Zahl der Gewaltverbrechen in Malmö-Nydaka radikal gesunken: Die Polizei an einem Tatort dort 2016.
Foto: Johan Nilsson/imago/tt
Nicolas Lunabba wurde 1981 in Spanien geboren. Sein Memoir stand mehr als ein Jahr auf der schwedischen Bestsellerliste.
Foto: J. Klemedsson Sotomayor/Rowohlt
Nicolas Lunabba:
Bist du traurig, wenn ich sterbe. Aus dem
Schwedischen von Stefan Pluschkat. Rowohlt
Hundert Augen,
Hamburg 2024.
301 Seiten, 25 Euro.
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