Ausgezeichnet mit dem Preis der Leipziger Buchmesse 2023 Eine Alternative zum Kapitalismus ist möglich, eine Welt ohne Krieg, Armut und Ausbeutung: davon ist die junge Jüdin Hertha Gordon, später Walcher, überzeugt, als sie sich in den 1910er-Jahren den Sozialisten anschließt und in den Kampf stürzt. Hautnah erlebt sie den großen Traum von der Revolution, aber auch das Scheitern und schmerzhafte Ende der Illusionen mit. Die Geschichte ihres Jahrhundertlebens ist das Panorama einer Epoche. Mitreißend erzählt Regina Scheer von einer außergewöhnlichen Frau in unruhigen Zeitläuften, geprägt von existenziellen Auseinandersetzungen unter Gleichgesinnten in der Weimarer Demokratie, von Widerstand, Flucht und Exil sowie der Hoffnung auf den Aufbau eines anderen Deutschland nach dem Krieg. Ausstattung: mit Bildteil
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Perlentaucher-Notiz zur Süddeutsche Zeitung-Rezension
Rezensent Lothar Müller hat größte Achtung schon vor den Bedingungen, unter den Regina Scheer diese Biografie ihrer Tante Hertha Gordon-Walcher verfasst hat. Denn die Tante, überzeugte Sozialistin, Vertraute von Clara Zetkin und Rosa Luxemburg, verbat sich Aufzeichnungen und Tonbandaufnahmen der vielen persönlichen Gespräche, die sie mit Scheer führte. Erst dreißig Jahre später wertete die Autorin ihre Erinnerungen aus, wir haben es entsprechend mit einer sehr persönlichen, intensiven, dennoch detailreichen "Oral History" zu tun, versichert der Kritiker. Und so erfährt er hier allerhand über ein Jahrhundertleben, das in einer jüdischen Familie in Königsberg begann, durch die Oktoberrevolution in Moskau und die Kämpfe der KPD in der Weimarer Republik ebenso geprägt wurde wie durch das Exil in Frankreich und den USA und schließlich nach Jahren in der DDR im wiedervereinigten Berlin endete. Mehr noch: Dank Scheers sorgfältiger Archivrecherche kann der Rezensent aus dem Buch ganze Broschüren herausfiltern, etwa zu den "Walchers und Willy Brandt" oder zu Bertolt Brecht. Nicht zuletzt liest er das Werk als "Gruppenporträt" vor allem der zahlreichen Frauen in Spartakusbund, KPD, SAP und SED, die Teil von Gordon-Walchers politischer Familie wurden. Über die "Abgründe" dieser Familie hätte Müller allerdings gern noch ein wenig mehr erfahren.
© Perlentaucher Medien GmbH
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Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 07.07.2023Am sozialistischen Traum hielt sie eisern fest
Eine Art von Liebeserklärung: Regina Scheer zeichnet ein akribisch recherchiertes Lebensbild von Hertha Gordon-Walcher
Zetkin empfahl sie Lenin. Die Bolschewiki hatten in Russland die Macht ergriffen, und der Krieg mit dem Deutschen Reich war durch den Frieden von Brest-Litowsk an ein Ende gelangt, als Clara Zetkin den Revolutionsführer im Juni 1918 "dringend" bat, eine "junge Genossin" zu unterstützen: "Fräulein Hertha Gordon". Sosehr er sich um "größere Dinge" und nicht um ein "einzelnes kleines Menschenschicksal" zu kümmern habe, sei dies doch angeraten, schließlich handele es sich in diesem Fall um eine "überzeugte Sozialistin", die bereits die "Feuertaufe" bestanden habe. Lenin sollte Zetkin nicht enttäuschen und bestätigte ihr rasch: "Ich werde alles tun, um der Genossin Gordon zu helfen."
Geriet die 1894 geborene Hertha Gordon, später Walcher oder Gordon-Walcher, wie sie sich manchmal nannte, auch frühzeitig in den Blick zweier Leitfiguren der internationalen Arbeiterbewegung, hat ihr Lebensweg doch bislang kaum Beachtung gefunden. Nicht einmal ein Wikipedia-Eintrag existiert zu ihrer Person. Ihre Biographie verblieb im Schatten der Geschichte. Regina Scheers ausführliches Opus sorgt für Abhilfe und stellt Hertha Gordon-Walchers Leben ins Licht, und zwar in doppelter Weise: Sie leuchtet den Lebensweg und die damit verbundenen Zeitläufte breit aus, zudem begegnet sie ihrer Heldin mit großer Sympathie.
Ihr Buch lässt sich als eine Art Liebeserklärung verstehen, kannten sich Regina Scheer und Hertha Gordon-Walcher doch gut. Über viele Jahre hinweg war die junge Journalistin bei "Tante Hertha" in Berlin-Hohenschönhausen regelmäßig zu Gast, hörte ihr stundenlang genau zu, war fasziniert von einem aufregenden Lebensweg, der über die Brüche des zwanzigsten Jahrhunderts hinweg führte und anhand dessen sich einiges, wenngleich wenig Neues über die Hoffnungen und Verwerfungen kommunistischer und linkssozialistischer Ideenkämpfer erfahren lässt.
Regina Scheer präsentiert so etwas wie ein Stück nachgeholte Autobiographie, die Hertha Gordon-Walcher nie niedergeschrieben hat. Es ist insofern ein höchst persönliches, authentisches Buch, das nah an der Hauptakteurin ist, deren Denk- und Gefühlswelten es weiterträgt. Das ist aber nur die eine Seite dieses so eigentümlichen wie faszinierenden Werks. Zugleich beruht es auf einem akribischen Quellen- und Literaturstudium, das Regina Scheer im Nachhinein betrieben hat, um historische Konstellationen, Netzwerke und Kontexte, in denen sich Herthas Leben abspielte, besser zu verstehen.
Herausgekommen ist dabei ein grandioses Ver- und Entwirrspiel mit einer großen Zahl an Personen und Gruppierungen, in dem sich nicht immer leicht der Überblick behalten lässt. Insofern offeriert Regina Scheers Darstellung, so glänzend sie verfasst ist, keine leichte Lektüre. Dessen war sich auch die Autorin bewusst, weshalb sie ihren Haupttext um einen mehr als hundertseitigen Anhang mit Kurzbiogrammen zu relevanten Personen ergänzt hat. Zusammengehalten wird das Ganze durch Hertha Gordon-Walcher, die Protagonistin des Buchs ist, ohne aber stets im Mittelpunkt der damaligen Geschehnisse gestanden zu haben. Ihre Biographie ist jene einer markanten Randfigur, die paradoxerweise mittendrin war und doch meist etwas abseits stand - eine "merkwürdige Doppelstellung". In jedem Fall dient sie als Sonde, um die Traum- und Realwelten einer bunten Schar linksradikaler Revolutionäre zu beschauen.
Hertha Gordon erlebte also Lenin aus nächster Nähe. Von ihm wurde sie als Schreibkraft an Karl Radek vermittelt, den sie allerdings als hochnäsig und gefühlskalt empfand. Ganz anders war ihr Verhältnis zu Clara Zetkin, die sie nicht nur bewunderte, sondern auch ins Herz schloss. Mit kürzeren Unterbrechungen arbeitete sie bis ins Jahr 1925 als Privatsekretärin Zetkins, der sie zugleich "Pflegerin" und "Freundin" war. Nach dem Ende des Ersten Weltkriegs sollte sie auch Jacob Walcher begegnen, der damals als KPD-Sekretär in Stuttgart arbeitete. Rasch war ihr klar, dass es sich bei ihm um die Liebe ihres Lebens handelte. Sie war von seiner Intelligenz, seiner Unbeirrbarkeit und auch physischen Präsenz beeindruckt. Mit ihm, ihrem späteren Ehemann, im Verbund fühlte sie sich aufgehoben und traute sich den Kampf für eine bessere Welt, für die Revolution und eine Gerechtigkeit versprechende sozialistische Gesellschaft zu.
Hertha sprach von zwei konstanten Bindungen, die sie im Leben eingegangen sei und trotz mitunter widriger Umstände nie gelöst habe: jene zu Jacob, obwohl er ihr nicht immer treu war, und jene zur Partei, die für sie grundsätzlich die "gute Sache" verkörperte, so fehlgeleitet deren Führungspersonal bisweilen handeln mochte. Sie haderte mit Radek, natürlich mit Stalin, auch mit Ernst Thälmann, Ruth Fischer und Walter Ulbricht. Jacob und Hertha Walcher suchten zusammen mit ihren Freunden und Geistesverwandten, die sie, die keine Kinder hatten, ihre "Familie" nannten, nach Auswegen aus Parteistrukturen, die durch einen absoluten Führungsanspruch und ein allmächtiges Zentrum geprägt waren. Mit der Kommunistischen Partei-Opposition (KPO) und dann vor allem der Sozialistischen Arbeiterpartei (SAP) gestalteten sie organisatorische Alternativen für ihr Sozialismusbegehren. Angesichts des Kampfes gegen den Nationalsozialismus zielten sie vergeblich auf die Bildung einer linken Einheitsfront, die Kommunisten, aber auch Sozialdemokraten umfassen sollte.
Im Exil, ob in Paris oder New York, führten Hertha, Jacob und ihre Mitstreiter den Kampf ihrer Kleinstpartei letztlich erfolglos fort. Eine tragende Nebenrolle nimmt dabei in Scheers Darstellung Willy Brandt ein, der von Norwegen und Schweden aus die Fahne der SAP hochhielt und dem Jacob Walcher zeitweise ein politischer Ziehvater war. Mit dem Heraufziehen des Kalten Krieges stellte sich allerdings die Frage der Parteinahme, die Brandt in den Westen Deutschlands, die Walchers nach Osten gehen ließen. Er erkannte klarer als die beiden, dass im sowjetischen Einflussbereich keine wahrhaft demokratische Gestaltung des Sozialismus möglich war.
Jacob und Hertha hielten stur am sozialistischen Traum fest, so viele - auch eigene - Opfer es dafür auch zu erbringen galt. Das sollten sie als einstige "Abweichler" der KPO und SAP, ja als "Rechte" und "Trotzkisten" (oder wie die abwertenden Bezeichnungen sonst hießen) noch in der frühen DDR zu spüren bekommen. Ihr SED-Parteibuch mussten sie für einige Jahre abgeben. Obgleich der Kontakt abgebrochen war, soll Willy Brandt, das erwähnte Hertha Gordon-Walcher einmal im Gespräch, aus Sorge um die Freunde in den frühen Fünfzigerjahren einen Boten geschickt haben, um sie über die Grenze in den schützenden Westen zu bringen. Sie hätten empört abgelehnt, hielten sie die DDR doch bei allen Widrigkeiten für das bessere Deutschland. Dorthin waren deshalb auch andere Westemigranten zurückgekehrt, die sie zu ihren Freunden zählten - ob Bertolt Brecht, Wieland Herzfelde oder Hermann Budzislawski.
Die Walchers repräsentieren den unverbrüchlichen Traum von einer Revolution, der mit einem gehörigen Maß an ideologischer Verblendung einherging und sich schließlich als Illusion entpuppte. Scheer verschweigt keineswegs, dass die Walchers rund um den 17. Juni 1953 auf der Seite einer rigiden Staatsmacht standen und 1961 den Mauerbau begrüßten. Als 1968 der Prager Frühling niedergeschlagen wurde, sorgte sich Jacob vor allem um eine, wie er meinte, ungerechtfertigte "Welle des Antisowjetismus". In früheren Jahrzehnten begegneten die beiden Parteiprozessen und Säuberungen zwar mit "Anflügen von Ratlosigkeit". Doch das konnte die "unbedingte Überzeugung, für die richtige Sache einzustehen", nicht verdrängen.
Begriffe wie "naive Hingabe" und "Schönfärberei" fallen vereinzelt und nebenbei. Allerdings will Scheer nachträgliche Kritik unbedingt vermeiden. Es sei "immer leicht, Illusionen zu erkennen, die bereits widerlegt wurden". Daher gelte es, dem Reiz zu widerstehen, alles im Licht des retrospektiven Wissens zu beurteilen. Stattdessen "einfach zu erzählen versuchen, wie es gewesen ist", das wirkt zwar ebenso altmodisch wie leichtgläubig. Auf die historiographische Methodenjustierung kommt es hier aber nicht entscheidend an. Die Schriftstellerin Regina Scheer hat Hertha Gordon-Walcher ein erzählerisches Denkmal gesetzt, das zu besichtigen sich lohnt. ALEXANDER GALLUS
Regina Scheer: "Bittere Brunnen". Hertha Gordon-Walcher und der Traum von der Revolution.
Penguin Verlag, München 2023. 698 S., Abb., geb., 30,- Euro.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Eine Art von Liebeserklärung: Regina Scheer zeichnet ein akribisch recherchiertes Lebensbild von Hertha Gordon-Walcher
Zetkin empfahl sie Lenin. Die Bolschewiki hatten in Russland die Macht ergriffen, und der Krieg mit dem Deutschen Reich war durch den Frieden von Brest-Litowsk an ein Ende gelangt, als Clara Zetkin den Revolutionsführer im Juni 1918 "dringend" bat, eine "junge Genossin" zu unterstützen: "Fräulein Hertha Gordon". Sosehr er sich um "größere Dinge" und nicht um ein "einzelnes kleines Menschenschicksal" zu kümmern habe, sei dies doch angeraten, schließlich handele es sich in diesem Fall um eine "überzeugte Sozialistin", die bereits die "Feuertaufe" bestanden habe. Lenin sollte Zetkin nicht enttäuschen und bestätigte ihr rasch: "Ich werde alles tun, um der Genossin Gordon zu helfen."
Geriet die 1894 geborene Hertha Gordon, später Walcher oder Gordon-Walcher, wie sie sich manchmal nannte, auch frühzeitig in den Blick zweier Leitfiguren der internationalen Arbeiterbewegung, hat ihr Lebensweg doch bislang kaum Beachtung gefunden. Nicht einmal ein Wikipedia-Eintrag existiert zu ihrer Person. Ihre Biographie verblieb im Schatten der Geschichte. Regina Scheers ausführliches Opus sorgt für Abhilfe und stellt Hertha Gordon-Walchers Leben ins Licht, und zwar in doppelter Weise: Sie leuchtet den Lebensweg und die damit verbundenen Zeitläufte breit aus, zudem begegnet sie ihrer Heldin mit großer Sympathie.
Ihr Buch lässt sich als eine Art Liebeserklärung verstehen, kannten sich Regina Scheer und Hertha Gordon-Walcher doch gut. Über viele Jahre hinweg war die junge Journalistin bei "Tante Hertha" in Berlin-Hohenschönhausen regelmäßig zu Gast, hörte ihr stundenlang genau zu, war fasziniert von einem aufregenden Lebensweg, der über die Brüche des zwanzigsten Jahrhunderts hinweg führte und anhand dessen sich einiges, wenngleich wenig Neues über die Hoffnungen und Verwerfungen kommunistischer und linkssozialistischer Ideenkämpfer erfahren lässt.
Regina Scheer präsentiert so etwas wie ein Stück nachgeholte Autobiographie, die Hertha Gordon-Walcher nie niedergeschrieben hat. Es ist insofern ein höchst persönliches, authentisches Buch, das nah an der Hauptakteurin ist, deren Denk- und Gefühlswelten es weiterträgt. Das ist aber nur die eine Seite dieses so eigentümlichen wie faszinierenden Werks. Zugleich beruht es auf einem akribischen Quellen- und Literaturstudium, das Regina Scheer im Nachhinein betrieben hat, um historische Konstellationen, Netzwerke und Kontexte, in denen sich Herthas Leben abspielte, besser zu verstehen.
Herausgekommen ist dabei ein grandioses Ver- und Entwirrspiel mit einer großen Zahl an Personen und Gruppierungen, in dem sich nicht immer leicht der Überblick behalten lässt. Insofern offeriert Regina Scheers Darstellung, so glänzend sie verfasst ist, keine leichte Lektüre. Dessen war sich auch die Autorin bewusst, weshalb sie ihren Haupttext um einen mehr als hundertseitigen Anhang mit Kurzbiogrammen zu relevanten Personen ergänzt hat. Zusammengehalten wird das Ganze durch Hertha Gordon-Walcher, die Protagonistin des Buchs ist, ohne aber stets im Mittelpunkt der damaligen Geschehnisse gestanden zu haben. Ihre Biographie ist jene einer markanten Randfigur, die paradoxerweise mittendrin war und doch meist etwas abseits stand - eine "merkwürdige Doppelstellung". In jedem Fall dient sie als Sonde, um die Traum- und Realwelten einer bunten Schar linksradikaler Revolutionäre zu beschauen.
Hertha Gordon erlebte also Lenin aus nächster Nähe. Von ihm wurde sie als Schreibkraft an Karl Radek vermittelt, den sie allerdings als hochnäsig und gefühlskalt empfand. Ganz anders war ihr Verhältnis zu Clara Zetkin, die sie nicht nur bewunderte, sondern auch ins Herz schloss. Mit kürzeren Unterbrechungen arbeitete sie bis ins Jahr 1925 als Privatsekretärin Zetkins, der sie zugleich "Pflegerin" und "Freundin" war. Nach dem Ende des Ersten Weltkriegs sollte sie auch Jacob Walcher begegnen, der damals als KPD-Sekretär in Stuttgart arbeitete. Rasch war ihr klar, dass es sich bei ihm um die Liebe ihres Lebens handelte. Sie war von seiner Intelligenz, seiner Unbeirrbarkeit und auch physischen Präsenz beeindruckt. Mit ihm, ihrem späteren Ehemann, im Verbund fühlte sie sich aufgehoben und traute sich den Kampf für eine bessere Welt, für die Revolution und eine Gerechtigkeit versprechende sozialistische Gesellschaft zu.
Hertha sprach von zwei konstanten Bindungen, die sie im Leben eingegangen sei und trotz mitunter widriger Umstände nie gelöst habe: jene zu Jacob, obwohl er ihr nicht immer treu war, und jene zur Partei, die für sie grundsätzlich die "gute Sache" verkörperte, so fehlgeleitet deren Führungspersonal bisweilen handeln mochte. Sie haderte mit Radek, natürlich mit Stalin, auch mit Ernst Thälmann, Ruth Fischer und Walter Ulbricht. Jacob und Hertha Walcher suchten zusammen mit ihren Freunden und Geistesverwandten, die sie, die keine Kinder hatten, ihre "Familie" nannten, nach Auswegen aus Parteistrukturen, die durch einen absoluten Führungsanspruch und ein allmächtiges Zentrum geprägt waren. Mit der Kommunistischen Partei-Opposition (KPO) und dann vor allem der Sozialistischen Arbeiterpartei (SAP) gestalteten sie organisatorische Alternativen für ihr Sozialismusbegehren. Angesichts des Kampfes gegen den Nationalsozialismus zielten sie vergeblich auf die Bildung einer linken Einheitsfront, die Kommunisten, aber auch Sozialdemokraten umfassen sollte.
Im Exil, ob in Paris oder New York, führten Hertha, Jacob und ihre Mitstreiter den Kampf ihrer Kleinstpartei letztlich erfolglos fort. Eine tragende Nebenrolle nimmt dabei in Scheers Darstellung Willy Brandt ein, der von Norwegen und Schweden aus die Fahne der SAP hochhielt und dem Jacob Walcher zeitweise ein politischer Ziehvater war. Mit dem Heraufziehen des Kalten Krieges stellte sich allerdings die Frage der Parteinahme, die Brandt in den Westen Deutschlands, die Walchers nach Osten gehen ließen. Er erkannte klarer als die beiden, dass im sowjetischen Einflussbereich keine wahrhaft demokratische Gestaltung des Sozialismus möglich war.
Jacob und Hertha hielten stur am sozialistischen Traum fest, so viele - auch eigene - Opfer es dafür auch zu erbringen galt. Das sollten sie als einstige "Abweichler" der KPO und SAP, ja als "Rechte" und "Trotzkisten" (oder wie die abwertenden Bezeichnungen sonst hießen) noch in der frühen DDR zu spüren bekommen. Ihr SED-Parteibuch mussten sie für einige Jahre abgeben. Obgleich der Kontakt abgebrochen war, soll Willy Brandt, das erwähnte Hertha Gordon-Walcher einmal im Gespräch, aus Sorge um die Freunde in den frühen Fünfzigerjahren einen Boten geschickt haben, um sie über die Grenze in den schützenden Westen zu bringen. Sie hätten empört abgelehnt, hielten sie die DDR doch bei allen Widrigkeiten für das bessere Deutschland. Dorthin waren deshalb auch andere Westemigranten zurückgekehrt, die sie zu ihren Freunden zählten - ob Bertolt Brecht, Wieland Herzfelde oder Hermann Budzislawski.
Die Walchers repräsentieren den unverbrüchlichen Traum von einer Revolution, der mit einem gehörigen Maß an ideologischer Verblendung einherging und sich schließlich als Illusion entpuppte. Scheer verschweigt keineswegs, dass die Walchers rund um den 17. Juni 1953 auf der Seite einer rigiden Staatsmacht standen und 1961 den Mauerbau begrüßten. Als 1968 der Prager Frühling niedergeschlagen wurde, sorgte sich Jacob vor allem um eine, wie er meinte, ungerechtfertigte "Welle des Antisowjetismus". In früheren Jahrzehnten begegneten die beiden Parteiprozessen und Säuberungen zwar mit "Anflügen von Ratlosigkeit". Doch das konnte die "unbedingte Überzeugung, für die richtige Sache einzustehen", nicht verdrängen.
Begriffe wie "naive Hingabe" und "Schönfärberei" fallen vereinzelt und nebenbei. Allerdings will Scheer nachträgliche Kritik unbedingt vermeiden. Es sei "immer leicht, Illusionen zu erkennen, die bereits widerlegt wurden". Daher gelte es, dem Reiz zu widerstehen, alles im Licht des retrospektiven Wissens zu beurteilen. Stattdessen "einfach zu erzählen versuchen, wie es gewesen ist", das wirkt zwar ebenso altmodisch wie leichtgläubig. Auf die historiographische Methodenjustierung kommt es hier aber nicht entscheidend an. Die Schriftstellerin Regina Scheer hat Hertha Gordon-Walcher ein erzählerisches Denkmal gesetzt, das zu besichtigen sich lohnt. ALEXANDER GALLUS
Regina Scheer: "Bittere Brunnen". Hertha Gordon-Walcher und der Traum von der Revolution.
Penguin Verlag, München 2023. 698 S., Abb., geb., 30,- Euro.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 19.07.2023Der Traum von
der Revolution
Für ihre Biografie „Bittere Brunnen“ über
ihre Tante Hertha Gordon-Walcher hat Regina Scheer
den Sachbuchpreis der Leipziger Buchmesse
bekommen. Über ein außergewöhnliches Werk
VON LOTHAR MÜLLER
Über fast ein Jahrhundert erstreckt sich das Leben, von dem hier erzählt wird. Es begann 1894 in einer jüdischen Familie in Königsberg und endete im Dezember 1990 in Ostberlin. In einem großen Bogen umfasst es das „Zeitalter der Extreme“, lagert sich früh am Pol der kommunistischen Bewegung an, führt an die Seite von Clara Zetkin und ins Moskau der Oktoberrevolution, durch den Spartakusbund 1918/19 und die gnadenlosen Richtungskämpfe der KPD in der Weimarer Republik, nach 1933 in die Illegalität und ins Exil, erst nach Frankreich, dann in die USA, während in der Sowjetunion die Terrorherrschaft Stalins kulminierte. Schließlich zurück nach Deutschland, in die noch junge DDR, wo es Westemigranten nicht leicht hatten. Als Hertha Gordon-Walcher starb, gab es die DDR, der sie mit hartnäckiger Mühe die Treue gehalten hatte, nicht mehr.
Aufgeschrieben hat dieses Leben die Berliner Autorin Regina Scheer, zu deren Büchern neben den Romanen „Machandel“ und „Gott wohnt im Wedding“ auch eine Geschichte der Familie Liebermann gehört. Scheer, 1950 in Ostberlin geboren, hat ihre Protagonistin schon als Kind kennengelernt, sie als Erwachsene bis in die letzten Lebensjahre hinein zu ihren Erinnerungen befragt. „Die Walchers“ gehörten als „Tante Hertha und Onkel Jacob“ zu Scheers Herkunftsmilieu, nicht zuletzt durch Exilerfahrungen waren die Familien verknüpft. Keine Tonbandaufzeichnungen, keine schriftlichen Notizen, das waren trotz der persönlichen Vertrautheit die Bedingungen der Gespräche. Hertha Gordon-Walcher war durch ihre konspirative Tätigkeit als Kurierin zur Spezialistin für unsichtbare Tinte geworden, Aufzeichnungen waren für sie etwas, das in falsche Hände geraten konnte.
Auf dem Heimweg von den Gesprächen hat Regina Scheer Zusammenfassungen, markante Formulierungen notiert. So liegt ihrer Biographie eine sehr private Variante von Oral History zugrunde. Erst 30 Jahre nach dem Tod ihrer Protagonistin hat sie ihre Gesprächsnotizen und Erinnerungen ausgewertet und durch Archivstudien ergänzt. Doch nicht den zeithistorischen Archiven, sondern der privaten Oral History entstammt der Ton, in dem dieses Buch erzählt ist. Regina Scheer gibt ihrer „Tante“ eine Stimme. Daraus resultiert die Intensität und Detailfülle dieser Vergegenwärtigung eines Frauenlebens im 20. Jahrhundert, darauf beruhen aber auch die Grenzen, die sich die Biografin im Umgang mit ihrem Stoff setzt.
Über Jacob Walcher, den Ehemann Hertha Gordon-Walchers, gibt es bereits eine Biografie. Der aus der schwäbischen Provinz stammende Gewerkschafter und Kommunist ist eine bekannte Figur in der Geschichte der deutschen Arbeiterbewegung. Die Walchers opponierten gegen den Putschismus der KPD in der Weimarer Republik und plädierten angesichts der erstarkenden Rechten für ein Öffnung gegenüber Bündnispartnern in der SPD, beide wurden 1928 aus der Thälmann-KPD ausgeschlossen und wurden 1931 zu Gründungsmitgliedern der SAP. Dort wurde Jacob Walcher zum Mentor Willy Brandts. Eine kleine Broschüre „Die Walchers und Willy Brandt“ ließe sich aus Regine Scheers voluminösem Buch herausziehen, als Gegenstück zu Gunter Hofmanns Erzählung der Mentor-Beziehung in seiner Brandt-Biographie „Sozialist. Kanzler. Patriot“ (2023). Zum Bruch kam es, als Brandt nach dem Zweiten Weltkrieg in der Berliner SPD Ernst Reuters aufzusteigen begann und Jacob Walcher sich bei der Rückkehr aus dem Exil für die SED und Ostberlin entschied.
Auch eine Brecht-Broschüre, in welcher der Dichter die Walchers nach ihrem Ausschluss aus der SED materiell unterstützt und ihnen eine Zuflucht nahe seinem Domizil in Buckow zur Verfügung stellt, ließe sich aus Regina Scheers Buch herauslösen. Aber es lebt gerade nicht von der Fokussierung auf die prominenten Figuren, sondern vom Wimmelbild der Weggefährten und vor allem Weggefährtinnen der Protagonistin, lange bevor sie 1919 Jacob Walcher kennenlernt. Die achtzehnjährige Hertha Gordon bricht von Königsberg nach London auf, wo sie den Radikalismus der englischen Suffragetten kennenlernt, die gerade dabei sind, mit Beilen auf Gemälde loszugehen und das Kunstattentat als politische Waffe zu nutzen.
Als Stenotypistin, Kurierin, Schreiberin von Artikeln ihres Mannes findet Hertha Gordon-Walcher ihren Ort in der revolutionären Bewegung, die trotz Rosa Luxemburg und Clara Zetkin patriarchalisch strukturiert ist. Regina Scheer merkt das gelegentlich an und zieht eine naheliegende Konsequenz. Statt ihre Protagonistin in die Institutionengeschichte des Spartakusbundes, der KPD, der SAP oder SED einzuzeichnen, rekonstruiert sie die Lebenswelt, in der sich Hertha Gordon-Walcher bewegt, während Abspaltungen, Intrigen, Parteikämpfe stattfinden.
So wird die Biografie zum Gruppenporträt mit einer Fülle von Figuren, zumal Frauenfiguren, die der Hauptfigur an die Seite treten. Dieses Gruppenporträt umfasst die Ehen und Scheinehen, die Trennungen und Namensänderungen, die Krankenlager und Depressionen, und auch die Kinder, etwa im Blick auf eine der markantesten Frauenfiguren, die Ärztin Minna Flake, die zeitweilig mit dem Schriftsteller Otto Flake verheiratet war, mit dem Dichter René Schickele eine gemeinsame Tochter hatte und ihre Wohnung in Berlin-Wilmersdorf bis 1933 zu einem Ort der politischen Debatte machte. Die Walchers selbst hatten keine Kinder.
Als Kind frommer jüdischer Eltern wurde Hertha Gordon-Walcher geboren. Erwachsen geworden, bevorzugte sie ungesäuertes Brot nicht aus religiösen Gründen, sondern weil es ihr besser schmeckte. Der Vater Isaak und die Mutter Chienka entstammten der kurländischen Provinz, die zu Russland gehörte. Sie sprachen untereinander jiddisch, mit den Kindern Deutsch, verstanden sich als Deutsche und verließen Königsberg bis zu ihrem Tod 1934 nicht. Eine Hauptrolle in der jüdischen Herkunftsgeschichte ihrer Protagonistin misst Regina Scheer dem Königsberger Rabbiner Dr. Hermann Vogelstein zu. Er unterstützt Herthas Englischlernen wie ihre Entscheidung, nach London zu gehen. Ein Jahrzehnt später wird er Hannah Arendt in der jüdischen Religion unterweisen. Früh, so berichtet Scheer, hat er Hertha Gordon mit der biblischen Geschichte vertraut gemacht, in der das aus ägyptischer Gefangenschaft befreite Volk Israel durch die Wüste Schur zieht und, dem Verdursten nahe, auf den Brunnen Mara trifft. Doch erweist sich dessen Wasser als bitter, bis der Herr Moses anweist, ein Stück Holz in den Brunnen zu werfen. Erst dann wird das Wasser genießbar. Die Ersetzung des Gebets durch die revolutionäre Tat, so die Pointe, wurde Herthas Lebensgesetz, versehen mit der Warnung des Rabbi vor der Bitterkeit.
Zur Verbitterung hätte Hertha Gordon-Walcher reichlich Anlass gehabt. Früh wurde ihre Gesundheit nachhaltig geschwächt, als sie im Ersten Weltkrieg, weil ihr Vater vergessen hatte, ihr bei der Geburt die deutsche Staatsangehörigkeit zu bescheinigen, aus Königsberg ausgewiesen und in ein Lager bei Braunschweig verbracht wurde. In der kommunistischen Bewegung gehörte sie immer wieder zu den Ausgeschlossenen, Verleumdeten. Die von Eugen Leviné geprägte Formel „Wir Kommunisten sind alle Tote auf Urlaub“ galt nicht nur für die Opfer von Freikorps und später der Nationalsozialisten, sondern mehr und mehr für die Opfer des stalinistischen Terrors.
Ein ganzes Adressbuch voller Namen von befreundeten Kommunisten, darunter viele Juden, die in den Lagern der Sowjetunion verschwanden, ließe sich aus der Biografie Hertha Gordon-Walchers herausschreiben. Ihre Überzeugung, mit der sozialistischen Revolution würde der Antisemitismus verschwinden, erwies sich als Illusion. In der Sowjetunion wurden 1952 nach einem Geheimprozess gegen Mitglieder des Jüdischen Antifaschistischen Komitees fast alle Angeklagten erschossen. In der DDR die Vorsitzenden der Jüdischen Gemeinden peinlich zu ihrem Verhältnis zu Israel befragt. Indem sie den bitteren Brunnen der biblischen Geschichte zum Titel ihrer Biografie macht, akzentuiert Regina Scheer nicht lediglich ein Leitmotiv des erzählten Lebens. Sie macht zugleich ein Deutungsangebot: das Nicht-Versinken Hertha Gordon-Walchers in der Verbitterung, die lebenslange Stundung der Hoffnung auf die Verwirklichung des „Traums von der Revolution“ beim Gang durch immer neue Wüsten auf das ihr innewohnende jüdische Erbe zurückzuführen. Die Erfahrung, dass die eigene Partei zum vergifteten Brunnen wird, wäre dann durch die Gegenkraft des jüdischen Messianismus ausbalanciert.
Doch es gibt im Buch eine rivalisierende Deutung. Sie wird greifbar, als Hertha Gordon-Walcher mit Clara Zetkin zu den Kriegsgegnern der „Gruppe Internationale“ stößt, die sich 1916 den Namen „Spartakusgruppe“ gibt: „Die Spartakisten waren für sie ihre Familie geworden. So nannten sie ihren Bund auch untereinander; in Gesprächen und Briefen, deren Sinn nicht jeder sofort verstehen sollte, war von der Familie die Rede. Auch in den Parteien, denen Hertha später angehörte, der KPD, der KPO und der SAP, redeten die Mitglieder untereinander von der Familie. Nur nicht in der SED.“ Immer wieder taucht die Schlüsselkategorie „Familie“ im Buch auf. Sie verknüpft die politische Sphäre, den „Traum von der Revolution“, mit einem säkularen, allen ideologischen Differenzen vorausliegenden Modell existenzieller Solidarität, das Enttäuschungen absorbieren kann und aus dem es nur schwer ein Entkommen gibt. Pointiert formuliert: Auch der mörderische Teil der Familie gehört in diesem Modell der Weltwahrnehmung zur Familie.
Regina Scheer hat für ihr Buch in diesem Jahr den Preis der Leipziger Buchmesse in der Sparte Sachbuch und Essayistik erhalten. Wenig später wurde der Historiker Ewald Frie für sein Buch „Ein Hof und elf Geschwister“ mit dem Deutschen Sachbuchpreis ausgezeichnet. Hier wie dort sucht die Zeitgeschichte die Nähe zur Kategorie „Familie“. Mit dem Instrumentarium des Sozialhistorikers berichtet Frie vom raschen Verschwinden einer alten Form ländlich-bäuerlichen Lebens auf seine eigene Familiengeschichte und ihren Hof im Münsterland. Er erzählt von innen und außen zugleich. Regina Scheer lässt die „eigentliche Familie“ Hertha Gordon-Walchers, ihre vier Schwestern, die Verwandtschaft in den Vereinigten Staaten, en passant auftreten. Ihr Hauptgegenstand ist die politische Familie. Deren Abgründe spart sie nicht aus, aber sehr weit treibt sie aus Rücksicht auf ihre Protagonistin die Analyse der Fallstricke und Blindheiten des Familienmodells nicht. Hertha Gordon-Walcher wurde am Ende auf eigenen Willen hin nicht auf dem Jüdischen Friedhof in Weißensee, sondern auf dem Friedhof der Sozialisten in Berlin-Friedrichsfelde neben Jacob Walcher bestattet.
Die Achtzehnjährige lernt in
London die Sufragetten und ihre
Kunstattentate kennen
Die Kategorie „Familie“ bezieht
sich auch auf eine Solidarität vor
allen ideologischen Differenzen
Regina Scheer:
Bittere Brunnen.
Hertha Gordon-Walcher und der Traum von der Revolution.
Penguin Verlag,
München 2023.
698 Seiten, 30 Euro.
Dass die Bewegung streng patriarchalisch strukturiert ist, entgeht Hertha Gordon-Walcher nicht: Ein Obmann spricht während der Novemberrevolution 1918/1919 vom Dach eines Wagens zu Revolutionären.
Foto: Scherl/SZ Photo
DIZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.sz-content.de
der Revolution
Für ihre Biografie „Bittere Brunnen“ über
ihre Tante Hertha Gordon-Walcher hat Regina Scheer
den Sachbuchpreis der Leipziger Buchmesse
bekommen. Über ein außergewöhnliches Werk
VON LOTHAR MÜLLER
Über fast ein Jahrhundert erstreckt sich das Leben, von dem hier erzählt wird. Es begann 1894 in einer jüdischen Familie in Königsberg und endete im Dezember 1990 in Ostberlin. In einem großen Bogen umfasst es das „Zeitalter der Extreme“, lagert sich früh am Pol der kommunistischen Bewegung an, führt an die Seite von Clara Zetkin und ins Moskau der Oktoberrevolution, durch den Spartakusbund 1918/19 und die gnadenlosen Richtungskämpfe der KPD in der Weimarer Republik, nach 1933 in die Illegalität und ins Exil, erst nach Frankreich, dann in die USA, während in der Sowjetunion die Terrorherrschaft Stalins kulminierte. Schließlich zurück nach Deutschland, in die noch junge DDR, wo es Westemigranten nicht leicht hatten. Als Hertha Gordon-Walcher starb, gab es die DDR, der sie mit hartnäckiger Mühe die Treue gehalten hatte, nicht mehr.
Aufgeschrieben hat dieses Leben die Berliner Autorin Regina Scheer, zu deren Büchern neben den Romanen „Machandel“ und „Gott wohnt im Wedding“ auch eine Geschichte der Familie Liebermann gehört. Scheer, 1950 in Ostberlin geboren, hat ihre Protagonistin schon als Kind kennengelernt, sie als Erwachsene bis in die letzten Lebensjahre hinein zu ihren Erinnerungen befragt. „Die Walchers“ gehörten als „Tante Hertha und Onkel Jacob“ zu Scheers Herkunftsmilieu, nicht zuletzt durch Exilerfahrungen waren die Familien verknüpft. Keine Tonbandaufzeichnungen, keine schriftlichen Notizen, das waren trotz der persönlichen Vertrautheit die Bedingungen der Gespräche. Hertha Gordon-Walcher war durch ihre konspirative Tätigkeit als Kurierin zur Spezialistin für unsichtbare Tinte geworden, Aufzeichnungen waren für sie etwas, das in falsche Hände geraten konnte.
Auf dem Heimweg von den Gesprächen hat Regina Scheer Zusammenfassungen, markante Formulierungen notiert. So liegt ihrer Biographie eine sehr private Variante von Oral History zugrunde. Erst 30 Jahre nach dem Tod ihrer Protagonistin hat sie ihre Gesprächsnotizen und Erinnerungen ausgewertet und durch Archivstudien ergänzt. Doch nicht den zeithistorischen Archiven, sondern der privaten Oral History entstammt der Ton, in dem dieses Buch erzählt ist. Regina Scheer gibt ihrer „Tante“ eine Stimme. Daraus resultiert die Intensität und Detailfülle dieser Vergegenwärtigung eines Frauenlebens im 20. Jahrhundert, darauf beruhen aber auch die Grenzen, die sich die Biografin im Umgang mit ihrem Stoff setzt.
Über Jacob Walcher, den Ehemann Hertha Gordon-Walchers, gibt es bereits eine Biografie. Der aus der schwäbischen Provinz stammende Gewerkschafter und Kommunist ist eine bekannte Figur in der Geschichte der deutschen Arbeiterbewegung. Die Walchers opponierten gegen den Putschismus der KPD in der Weimarer Republik und plädierten angesichts der erstarkenden Rechten für ein Öffnung gegenüber Bündnispartnern in der SPD, beide wurden 1928 aus der Thälmann-KPD ausgeschlossen und wurden 1931 zu Gründungsmitgliedern der SAP. Dort wurde Jacob Walcher zum Mentor Willy Brandts. Eine kleine Broschüre „Die Walchers und Willy Brandt“ ließe sich aus Regine Scheers voluminösem Buch herausziehen, als Gegenstück zu Gunter Hofmanns Erzählung der Mentor-Beziehung in seiner Brandt-Biographie „Sozialist. Kanzler. Patriot“ (2023). Zum Bruch kam es, als Brandt nach dem Zweiten Weltkrieg in der Berliner SPD Ernst Reuters aufzusteigen begann und Jacob Walcher sich bei der Rückkehr aus dem Exil für die SED und Ostberlin entschied.
Auch eine Brecht-Broschüre, in welcher der Dichter die Walchers nach ihrem Ausschluss aus der SED materiell unterstützt und ihnen eine Zuflucht nahe seinem Domizil in Buckow zur Verfügung stellt, ließe sich aus Regina Scheers Buch herauslösen. Aber es lebt gerade nicht von der Fokussierung auf die prominenten Figuren, sondern vom Wimmelbild der Weggefährten und vor allem Weggefährtinnen der Protagonistin, lange bevor sie 1919 Jacob Walcher kennenlernt. Die achtzehnjährige Hertha Gordon bricht von Königsberg nach London auf, wo sie den Radikalismus der englischen Suffragetten kennenlernt, die gerade dabei sind, mit Beilen auf Gemälde loszugehen und das Kunstattentat als politische Waffe zu nutzen.
Als Stenotypistin, Kurierin, Schreiberin von Artikeln ihres Mannes findet Hertha Gordon-Walcher ihren Ort in der revolutionären Bewegung, die trotz Rosa Luxemburg und Clara Zetkin patriarchalisch strukturiert ist. Regina Scheer merkt das gelegentlich an und zieht eine naheliegende Konsequenz. Statt ihre Protagonistin in die Institutionengeschichte des Spartakusbundes, der KPD, der SAP oder SED einzuzeichnen, rekonstruiert sie die Lebenswelt, in der sich Hertha Gordon-Walcher bewegt, während Abspaltungen, Intrigen, Parteikämpfe stattfinden.
So wird die Biografie zum Gruppenporträt mit einer Fülle von Figuren, zumal Frauenfiguren, die der Hauptfigur an die Seite treten. Dieses Gruppenporträt umfasst die Ehen und Scheinehen, die Trennungen und Namensänderungen, die Krankenlager und Depressionen, und auch die Kinder, etwa im Blick auf eine der markantesten Frauenfiguren, die Ärztin Minna Flake, die zeitweilig mit dem Schriftsteller Otto Flake verheiratet war, mit dem Dichter René Schickele eine gemeinsame Tochter hatte und ihre Wohnung in Berlin-Wilmersdorf bis 1933 zu einem Ort der politischen Debatte machte. Die Walchers selbst hatten keine Kinder.
Als Kind frommer jüdischer Eltern wurde Hertha Gordon-Walcher geboren. Erwachsen geworden, bevorzugte sie ungesäuertes Brot nicht aus religiösen Gründen, sondern weil es ihr besser schmeckte. Der Vater Isaak und die Mutter Chienka entstammten der kurländischen Provinz, die zu Russland gehörte. Sie sprachen untereinander jiddisch, mit den Kindern Deutsch, verstanden sich als Deutsche und verließen Königsberg bis zu ihrem Tod 1934 nicht. Eine Hauptrolle in der jüdischen Herkunftsgeschichte ihrer Protagonistin misst Regina Scheer dem Königsberger Rabbiner Dr. Hermann Vogelstein zu. Er unterstützt Herthas Englischlernen wie ihre Entscheidung, nach London zu gehen. Ein Jahrzehnt später wird er Hannah Arendt in der jüdischen Religion unterweisen. Früh, so berichtet Scheer, hat er Hertha Gordon mit der biblischen Geschichte vertraut gemacht, in der das aus ägyptischer Gefangenschaft befreite Volk Israel durch die Wüste Schur zieht und, dem Verdursten nahe, auf den Brunnen Mara trifft. Doch erweist sich dessen Wasser als bitter, bis der Herr Moses anweist, ein Stück Holz in den Brunnen zu werfen. Erst dann wird das Wasser genießbar. Die Ersetzung des Gebets durch die revolutionäre Tat, so die Pointe, wurde Herthas Lebensgesetz, versehen mit der Warnung des Rabbi vor der Bitterkeit.
Zur Verbitterung hätte Hertha Gordon-Walcher reichlich Anlass gehabt. Früh wurde ihre Gesundheit nachhaltig geschwächt, als sie im Ersten Weltkrieg, weil ihr Vater vergessen hatte, ihr bei der Geburt die deutsche Staatsangehörigkeit zu bescheinigen, aus Königsberg ausgewiesen und in ein Lager bei Braunschweig verbracht wurde. In der kommunistischen Bewegung gehörte sie immer wieder zu den Ausgeschlossenen, Verleumdeten. Die von Eugen Leviné geprägte Formel „Wir Kommunisten sind alle Tote auf Urlaub“ galt nicht nur für die Opfer von Freikorps und später der Nationalsozialisten, sondern mehr und mehr für die Opfer des stalinistischen Terrors.
Ein ganzes Adressbuch voller Namen von befreundeten Kommunisten, darunter viele Juden, die in den Lagern der Sowjetunion verschwanden, ließe sich aus der Biografie Hertha Gordon-Walchers herausschreiben. Ihre Überzeugung, mit der sozialistischen Revolution würde der Antisemitismus verschwinden, erwies sich als Illusion. In der Sowjetunion wurden 1952 nach einem Geheimprozess gegen Mitglieder des Jüdischen Antifaschistischen Komitees fast alle Angeklagten erschossen. In der DDR die Vorsitzenden der Jüdischen Gemeinden peinlich zu ihrem Verhältnis zu Israel befragt. Indem sie den bitteren Brunnen der biblischen Geschichte zum Titel ihrer Biografie macht, akzentuiert Regina Scheer nicht lediglich ein Leitmotiv des erzählten Lebens. Sie macht zugleich ein Deutungsangebot: das Nicht-Versinken Hertha Gordon-Walchers in der Verbitterung, die lebenslange Stundung der Hoffnung auf die Verwirklichung des „Traums von der Revolution“ beim Gang durch immer neue Wüsten auf das ihr innewohnende jüdische Erbe zurückzuführen. Die Erfahrung, dass die eigene Partei zum vergifteten Brunnen wird, wäre dann durch die Gegenkraft des jüdischen Messianismus ausbalanciert.
Doch es gibt im Buch eine rivalisierende Deutung. Sie wird greifbar, als Hertha Gordon-Walcher mit Clara Zetkin zu den Kriegsgegnern der „Gruppe Internationale“ stößt, die sich 1916 den Namen „Spartakusgruppe“ gibt: „Die Spartakisten waren für sie ihre Familie geworden. So nannten sie ihren Bund auch untereinander; in Gesprächen und Briefen, deren Sinn nicht jeder sofort verstehen sollte, war von der Familie die Rede. Auch in den Parteien, denen Hertha später angehörte, der KPD, der KPO und der SAP, redeten die Mitglieder untereinander von der Familie. Nur nicht in der SED.“ Immer wieder taucht die Schlüsselkategorie „Familie“ im Buch auf. Sie verknüpft die politische Sphäre, den „Traum von der Revolution“, mit einem säkularen, allen ideologischen Differenzen vorausliegenden Modell existenzieller Solidarität, das Enttäuschungen absorbieren kann und aus dem es nur schwer ein Entkommen gibt. Pointiert formuliert: Auch der mörderische Teil der Familie gehört in diesem Modell der Weltwahrnehmung zur Familie.
Regina Scheer hat für ihr Buch in diesem Jahr den Preis der Leipziger Buchmesse in der Sparte Sachbuch und Essayistik erhalten. Wenig später wurde der Historiker Ewald Frie für sein Buch „Ein Hof und elf Geschwister“ mit dem Deutschen Sachbuchpreis ausgezeichnet. Hier wie dort sucht die Zeitgeschichte die Nähe zur Kategorie „Familie“. Mit dem Instrumentarium des Sozialhistorikers berichtet Frie vom raschen Verschwinden einer alten Form ländlich-bäuerlichen Lebens auf seine eigene Familiengeschichte und ihren Hof im Münsterland. Er erzählt von innen und außen zugleich. Regina Scheer lässt die „eigentliche Familie“ Hertha Gordon-Walchers, ihre vier Schwestern, die Verwandtschaft in den Vereinigten Staaten, en passant auftreten. Ihr Hauptgegenstand ist die politische Familie. Deren Abgründe spart sie nicht aus, aber sehr weit treibt sie aus Rücksicht auf ihre Protagonistin die Analyse der Fallstricke und Blindheiten des Familienmodells nicht. Hertha Gordon-Walcher wurde am Ende auf eigenen Willen hin nicht auf dem Jüdischen Friedhof in Weißensee, sondern auf dem Friedhof der Sozialisten in Berlin-Friedrichsfelde neben Jacob Walcher bestattet.
Die Achtzehnjährige lernt in
London die Sufragetten und ihre
Kunstattentate kennen
Die Kategorie „Familie“ bezieht
sich auch auf eine Solidarität vor
allen ideologischen Differenzen
Regina Scheer:
Bittere Brunnen.
Hertha Gordon-Walcher und der Traum von der Revolution.
Penguin Verlag,
München 2023.
698 Seiten, 30 Euro.
Dass die Bewegung streng patriarchalisch strukturiert ist, entgeht Hertha Gordon-Walcher nicht: Ein Obmann spricht während der Novemberrevolution 1918/1919 vom Dach eines Wagens zu Revolutionären.
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»Ein wichtiges Buch, das den großen Erzählungen über das 20. Jahrhundert einen ganz eigenen Erfahrungsschatz zur Seite stellt.« Deutschlandfunk, Andruck