Ausgezeichnet mit dem Preis der Leipziger Buchmesse 2023
Eine Alternative zum Kapitalismus ist möglich, eine Welt ohne Krieg, Armut und Ausbeutung: davon ist die junge Jüdin Hertha Gordon, später Walcher, überzeugt, als sie sich in den 1910er-Jahren den Sozialisten anschließt und in den Kampf stürzt. Hautnah erlebt sie den großen Traum von der Revolution, aber auch das Scheitern und schmerzhafte Ende der Illusionen mit. Die Geschichte ihres Jahrhundertlebens ist das Panorama einer Epoche.
Mitreißend erzählt Regina Scheer von einer außergewöhnlichen Frau in unruhigen Zeitläuften, geprägt von existenziellen Auseinandersetzungen unter Gleichgesinnten in der Weimarer Demokratie, von Widerstand, Flucht und Exil sowie der Hoffnung auf den Aufbau eines anderen Deutschland nach dem Krieg.
Ausstattung: mit Bildteil
Eine Alternative zum Kapitalismus ist möglich, eine Welt ohne Krieg, Armut und Ausbeutung: davon ist die junge Jüdin Hertha Gordon, später Walcher, überzeugt, als sie sich in den 1910er-Jahren den Sozialisten anschließt und in den Kampf stürzt. Hautnah erlebt sie den großen Traum von der Revolution, aber auch das Scheitern und schmerzhafte Ende der Illusionen mit. Die Geschichte ihres Jahrhundertlebens ist das Panorama einer Epoche.
Mitreißend erzählt Regina Scheer von einer außergewöhnlichen Frau in unruhigen Zeitläuften, geprägt von existenziellen Auseinandersetzungen unter Gleichgesinnten in der Weimarer Demokratie, von Widerstand, Flucht und Exil sowie der Hoffnung auf den Aufbau eines anderen Deutschland nach dem Krieg.
Ausstattung: mit Bildteil
»Ein wichtiges Buch, das den großen Erzählungen über das 20. Jahrhundert einen ganz eigenen Erfahrungsschatz zur Seite stellt.« Deutschlandfunk, Andruck
Perlentaucher-Notiz zur Süddeutsche Zeitung-Rezension
Rezensent Lothar Müller hat größte Achtung schon vor den Bedingungen, unter den Regina Scheer diese Biografie ihrer Tante Hertha Gordon-Walcher verfasst hat. Denn die Tante, überzeugte Sozialistin, Vertraute von Clara Zetkin und Rosa Luxemburg, verbat sich Aufzeichnungen und Tonbandaufnahmen der vielen persönlichen Gespräche, die sie mit Scheer führte. Erst dreißig Jahre später wertete die Autorin ihre Erinnerungen aus, wir haben es entsprechend mit einer sehr persönlichen, intensiven, dennoch detailreichen "Oral History" zu tun, versichert der Kritiker. Und so erfährt er hier allerhand über ein Jahrhundertleben, das in einer jüdischen Familie in Königsberg begann, durch die Oktoberrevolution in Moskau und die Kämpfe der KPD in der Weimarer Republik ebenso geprägt wurde wie durch das Exil in Frankreich und den USA und schließlich nach Jahren in der DDR im wiedervereinigten Berlin endete. Mehr noch: Dank Scheers sorgfältiger Archivrecherche kann der Rezensent aus dem Buch ganze Broschüren herausfiltern, etwa zu den "Walchers und Willy Brandt" oder zu Bertolt Brecht. Nicht zuletzt liest er das Werk als "Gruppenporträt" vor allem der zahlreichen Frauen in Spartakusbund, KPD, SAP und SED, die Teil von Gordon-Walchers politischer Familie wurden. Über die "Abgründe" dieser Familie hätte Müller allerdings gern noch ein wenig mehr erfahren.
© Perlentaucher Medien GmbH
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Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 07.07.2023Am sozialistischen Traum hielt sie eisern fest
Eine Art von Liebeserklärung: Regina Scheer zeichnet ein akribisch recherchiertes Lebensbild von Hertha Gordon-Walcher
Zetkin empfahl sie Lenin. Die Bolschewiki hatten in Russland die Macht ergriffen, und der Krieg mit dem Deutschen Reich war durch den Frieden von Brest-Litowsk an ein Ende gelangt, als Clara Zetkin den Revolutionsführer im Juni 1918 "dringend" bat, eine "junge Genossin" zu unterstützen: "Fräulein Hertha Gordon". Sosehr er sich um "größere Dinge" und nicht um ein "einzelnes kleines Menschenschicksal" zu kümmern habe, sei dies doch angeraten, schließlich handele es sich in diesem Fall um eine "überzeugte Sozialistin", die bereits die "Feuertaufe" bestanden habe. Lenin sollte Zetkin nicht enttäuschen und bestätigte ihr rasch: "Ich werde alles tun, um der Genossin Gordon zu helfen."
Geriet die 1894 geborene Hertha Gordon, später Walcher oder Gordon-Walcher, wie sie sich manchmal nannte, auch frühzeitig in den Blick zweier Leitfiguren der internationalen Arbeiterbewegung, hat ihr Lebensweg doch bislang kaum Beachtung gefunden. Nicht einmal ein Wikipedia-Eintrag existiert zu ihrer Person. Ihre Biographie verblieb im Schatten der Geschichte. Regina Scheers ausführliches Opus sorgt für Abhilfe und stellt Hertha Gordon-Walchers Leben ins Licht, und zwar in doppelter Weise: Sie leuchtet den Lebensweg und die damit verbundenen Zeitläufte breit aus, zudem begegnet sie ihrer Heldin mit großer Sympathie.
Ihr Buch lässt sich als eine Art Liebeserklärung verstehen, kannten sich Regina Scheer und Hertha Gordon-Walcher doch gut. Über viele Jahre hinweg war die junge Journalistin bei "Tante Hertha" in Berlin-Hohenschönhausen regelmäßig zu Gast, hörte ihr stundenlang genau zu, war fasziniert von einem aufregenden Lebensweg, der über die Brüche des zwanzigsten Jahrhunderts hinweg führte und anhand dessen sich einiges, wenngleich wenig Neues über die Hoffnungen und Verwerfungen kommunistischer und linkssozialistischer Ideenkämpfer erfahren lässt.
Regina Scheer präsentiert so etwas wie ein Stück nachgeholte Autobiographie, die Hertha Gordon-Walcher nie niedergeschrieben hat. Es ist insofern ein höchst persönliches, authentisches Buch, das nah an der Hauptakteurin ist, deren Denk- und Gefühlswelten es weiterträgt. Das ist aber nur die eine Seite dieses so eigentümlichen wie faszinierenden Werks. Zugleich beruht es auf einem akribischen Quellen- und Literaturstudium, das Regina Scheer im Nachhinein betrieben hat, um historische Konstellationen, Netzwerke und Kontexte, in denen sich Herthas Leben abspielte, besser zu verstehen.
Herausgekommen ist dabei ein grandioses Ver- und Entwirrspiel mit einer großen Zahl an Personen und Gruppierungen, in dem sich nicht immer leicht der Überblick behalten lässt. Insofern offeriert Regina Scheers Darstellung, so glänzend sie verfasst ist, keine leichte Lektüre. Dessen war sich auch die Autorin bewusst, weshalb sie ihren Haupttext um einen mehr als hundertseitigen Anhang mit Kurzbiogrammen zu relevanten Personen ergänzt hat. Zusammengehalten wird das Ganze durch Hertha Gordon-Walcher, die Protagonistin des Buchs ist, ohne aber stets im Mittelpunkt der damaligen Geschehnisse gestanden zu haben. Ihre Biographie ist jene einer markanten Randfigur, die paradoxerweise mittendrin war und doch meist etwas abseits stand - eine "merkwürdige Doppelstellung". In jedem Fall dient sie als Sonde, um die Traum- und Realwelten einer bunten Schar linksradikaler Revolutionäre zu beschauen.
Hertha Gordon erlebte also Lenin aus nächster Nähe. Von ihm wurde sie als Schreibkraft an Karl Radek vermittelt, den sie allerdings als hochnäsig und gefühlskalt empfand. Ganz anders war ihr Verhältnis zu Clara Zetkin, die sie nicht nur bewunderte, sondern auch ins Herz schloss. Mit kürzeren Unterbrechungen arbeitete sie bis ins Jahr 1925 als Privatsekretärin Zetkins, der sie zugleich "Pflegerin" und "Freundin" war. Nach dem Ende des Ersten Weltkriegs sollte sie auch Jacob Walcher begegnen, der damals als KPD-Sekretär in Stuttgart arbeitete. Rasch war ihr klar, dass es sich bei ihm um die Liebe ihres Lebens handelte. Sie war von seiner Intelligenz, seiner Unbeirrbarkeit und auch physischen Präsenz beeindruckt. Mit ihm, ihrem späteren Ehemann, im Verbund fühlte sie sich aufgehoben und traute sich den Kampf für eine bessere Welt, für die Revolution und eine Gerechtigkeit versprechende sozialistische Gesellschaft zu.
Hertha sprach von zwei konstanten Bindungen, die sie im Leben eingegangen sei und trotz mitunter widriger Umstände nie gelöst habe: jene zu Jacob, obwohl er ihr nicht immer treu war, und jene zur Partei, die für sie grundsätzlich die "gute Sache" verkörperte, so fehlgeleitet deren Führungspersonal bisweilen handeln mochte. Sie haderte mit Radek, natürlich mit Stalin, auch mit Ernst Thälmann, Ruth Fischer und Walter Ulbricht. Jacob und Hertha Walcher suchten zusammen mit ihren Freunden und Geistesverwandten, die sie, die keine Kinder hatten, ihre "Familie" nannten, nach Auswegen aus Parteistrukturen, die durch einen absoluten Führungsanspruch und ein allmächtiges Zentrum geprägt waren. Mit der Kommunistischen Partei-Opposition (KPO) und dann vor allem der Sozialistischen Arbeiterpartei (SAP) gestalteten sie organisatorische Alternativen für ihr Sozialismusbegehren. Angesichts des Kampfes gegen den Nationalsozialismus zielten sie vergeblich auf die Bildung einer linken Einheitsfront, die Kommunisten, aber auch Sozialdemokraten umfassen sollte.
Im Exil, ob in Paris oder New York, führten Hertha, Jacob und ihre Mitstreiter den Kampf ihrer Kleinstpartei letztlich erfolglos fort. Eine tragende Nebenrolle nimmt dabei in Scheers Darstellung Willy Brandt ein, der von Norwegen und Schweden aus die Fahne der SAP hochhielt und dem Jacob Walcher zeitweise ein politischer Ziehvater war. Mit dem Heraufziehen des Kalten Krieges stellte sich allerdings die Frage der Parteinahme, die Brandt in den Westen Deutschlands, die Walchers nach Osten gehen ließen. Er erkannte klarer als die beiden, dass im sowjetischen Einflussbereich keine wahrhaft demokratische Gestaltung des Sozialismus möglich war.
Jacob und Hertha hielten stur am sozialistischen Traum fest, so viele - auch eigene - Opfer es dafür auch zu erbringen galt. Das sollten sie als einstige "Abweichler" der KPO und SAP, ja als "Rechte" und "Trotzkisten" (oder wie die abwertenden Bezeichnungen sonst hießen) noch in der frühen DDR zu spüren bekommen. Ihr SED-Parteibuch mussten sie für einige Jahre abgeben. Obgleich der Kontakt abgebrochen war, soll Willy Brandt, das erwähnte Hertha Gordon-Walcher einmal im Gespräch, aus Sorge um die Freunde in den frühen Fünfzigerjahren einen Boten geschickt haben, um sie über die Grenze in den schützenden Westen zu bringen. Sie hätten empört abgelehnt, hielten sie die DDR doch bei allen Widrigkeiten für das bessere Deutschland. Dorthin waren deshalb auch andere Westemigranten zurückgekehrt, die sie zu ihren Freunden zählten - ob Bertolt Brecht, Wieland Herzfelde oder Hermann Budzislawski.
Die Walchers repräsentieren den unverbrüchlichen Traum von einer Revolution, der mit einem gehörigen Maß an ideologischer Verblendung einherging und sich schließlich als Illusion entpuppte. Scheer verschweigt keineswegs, dass die Walchers rund um den 17. Juni 1953 auf der Seite einer rigiden Staatsmacht standen und 1961 den Mauerbau begrüßten. Als 1968 der Prager Frühling niedergeschlagen wurde, sorgte sich Jacob vor allem um eine, wie er meinte, ungerechtfertigte "Welle des Antisowjetismus". In früheren Jahrzehnten begegneten die beiden Parteiprozessen und Säuberungen zwar mit "Anflügen von Ratlosigkeit". Doch das konnte die "unbedingte Überzeugung, für die richtige Sache einzustehen", nicht verdrängen.
Begriffe wie "naive Hingabe" und "Schönfärberei" fallen vereinzelt und nebenbei. Allerdings will Scheer nachträgliche Kritik unbedingt vermeiden. Es sei "immer leicht, Illusionen zu erkennen, die bereits widerlegt wurden". Daher gelte es, dem Reiz zu widerstehen, alles im Licht des retrospektiven Wissens zu beurteilen. Stattdessen "einfach zu erzählen versuchen, wie es gewesen ist", das wirkt zwar ebenso altmodisch wie leichtgläubig. Auf die historiographische Methodenjustierung kommt es hier aber nicht entscheidend an. Die Schriftstellerin Regina Scheer hat Hertha Gordon-Walcher ein erzählerisches Denkmal gesetzt, das zu besichtigen sich lohnt. ALEXANDER GALLUS
Regina Scheer: "Bittere Brunnen". Hertha Gordon-Walcher und der Traum von der Revolution.
Penguin Verlag, München 2023. 698 S., Abb., geb., 30,- Euro.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Eine Art von Liebeserklärung: Regina Scheer zeichnet ein akribisch recherchiertes Lebensbild von Hertha Gordon-Walcher
Zetkin empfahl sie Lenin. Die Bolschewiki hatten in Russland die Macht ergriffen, und der Krieg mit dem Deutschen Reich war durch den Frieden von Brest-Litowsk an ein Ende gelangt, als Clara Zetkin den Revolutionsführer im Juni 1918 "dringend" bat, eine "junge Genossin" zu unterstützen: "Fräulein Hertha Gordon". Sosehr er sich um "größere Dinge" und nicht um ein "einzelnes kleines Menschenschicksal" zu kümmern habe, sei dies doch angeraten, schließlich handele es sich in diesem Fall um eine "überzeugte Sozialistin", die bereits die "Feuertaufe" bestanden habe. Lenin sollte Zetkin nicht enttäuschen und bestätigte ihr rasch: "Ich werde alles tun, um der Genossin Gordon zu helfen."
Geriet die 1894 geborene Hertha Gordon, später Walcher oder Gordon-Walcher, wie sie sich manchmal nannte, auch frühzeitig in den Blick zweier Leitfiguren der internationalen Arbeiterbewegung, hat ihr Lebensweg doch bislang kaum Beachtung gefunden. Nicht einmal ein Wikipedia-Eintrag existiert zu ihrer Person. Ihre Biographie verblieb im Schatten der Geschichte. Regina Scheers ausführliches Opus sorgt für Abhilfe und stellt Hertha Gordon-Walchers Leben ins Licht, und zwar in doppelter Weise: Sie leuchtet den Lebensweg und die damit verbundenen Zeitläufte breit aus, zudem begegnet sie ihrer Heldin mit großer Sympathie.
Ihr Buch lässt sich als eine Art Liebeserklärung verstehen, kannten sich Regina Scheer und Hertha Gordon-Walcher doch gut. Über viele Jahre hinweg war die junge Journalistin bei "Tante Hertha" in Berlin-Hohenschönhausen regelmäßig zu Gast, hörte ihr stundenlang genau zu, war fasziniert von einem aufregenden Lebensweg, der über die Brüche des zwanzigsten Jahrhunderts hinweg führte und anhand dessen sich einiges, wenngleich wenig Neues über die Hoffnungen und Verwerfungen kommunistischer und linkssozialistischer Ideenkämpfer erfahren lässt.
Regina Scheer präsentiert so etwas wie ein Stück nachgeholte Autobiographie, die Hertha Gordon-Walcher nie niedergeschrieben hat. Es ist insofern ein höchst persönliches, authentisches Buch, das nah an der Hauptakteurin ist, deren Denk- und Gefühlswelten es weiterträgt. Das ist aber nur die eine Seite dieses so eigentümlichen wie faszinierenden Werks. Zugleich beruht es auf einem akribischen Quellen- und Literaturstudium, das Regina Scheer im Nachhinein betrieben hat, um historische Konstellationen, Netzwerke und Kontexte, in denen sich Herthas Leben abspielte, besser zu verstehen.
Herausgekommen ist dabei ein grandioses Ver- und Entwirrspiel mit einer großen Zahl an Personen und Gruppierungen, in dem sich nicht immer leicht der Überblick behalten lässt. Insofern offeriert Regina Scheers Darstellung, so glänzend sie verfasst ist, keine leichte Lektüre. Dessen war sich auch die Autorin bewusst, weshalb sie ihren Haupttext um einen mehr als hundertseitigen Anhang mit Kurzbiogrammen zu relevanten Personen ergänzt hat. Zusammengehalten wird das Ganze durch Hertha Gordon-Walcher, die Protagonistin des Buchs ist, ohne aber stets im Mittelpunkt der damaligen Geschehnisse gestanden zu haben. Ihre Biographie ist jene einer markanten Randfigur, die paradoxerweise mittendrin war und doch meist etwas abseits stand - eine "merkwürdige Doppelstellung". In jedem Fall dient sie als Sonde, um die Traum- und Realwelten einer bunten Schar linksradikaler Revolutionäre zu beschauen.
Hertha Gordon erlebte also Lenin aus nächster Nähe. Von ihm wurde sie als Schreibkraft an Karl Radek vermittelt, den sie allerdings als hochnäsig und gefühlskalt empfand. Ganz anders war ihr Verhältnis zu Clara Zetkin, die sie nicht nur bewunderte, sondern auch ins Herz schloss. Mit kürzeren Unterbrechungen arbeitete sie bis ins Jahr 1925 als Privatsekretärin Zetkins, der sie zugleich "Pflegerin" und "Freundin" war. Nach dem Ende des Ersten Weltkriegs sollte sie auch Jacob Walcher begegnen, der damals als KPD-Sekretär in Stuttgart arbeitete. Rasch war ihr klar, dass es sich bei ihm um die Liebe ihres Lebens handelte. Sie war von seiner Intelligenz, seiner Unbeirrbarkeit und auch physischen Präsenz beeindruckt. Mit ihm, ihrem späteren Ehemann, im Verbund fühlte sie sich aufgehoben und traute sich den Kampf für eine bessere Welt, für die Revolution und eine Gerechtigkeit versprechende sozialistische Gesellschaft zu.
Hertha sprach von zwei konstanten Bindungen, die sie im Leben eingegangen sei und trotz mitunter widriger Umstände nie gelöst habe: jene zu Jacob, obwohl er ihr nicht immer treu war, und jene zur Partei, die für sie grundsätzlich die "gute Sache" verkörperte, so fehlgeleitet deren Führungspersonal bisweilen handeln mochte. Sie haderte mit Radek, natürlich mit Stalin, auch mit Ernst Thälmann, Ruth Fischer und Walter Ulbricht. Jacob und Hertha Walcher suchten zusammen mit ihren Freunden und Geistesverwandten, die sie, die keine Kinder hatten, ihre "Familie" nannten, nach Auswegen aus Parteistrukturen, die durch einen absoluten Führungsanspruch und ein allmächtiges Zentrum geprägt waren. Mit der Kommunistischen Partei-Opposition (KPO) und dann vor allem der Sozialistischen Arbeiterpartei (SAP) gestalteten sie organisatorische Alternativen für ihr Sozialismusbegehren. Angesichts des Kampfes gegen den Nationalsozialismus zielten sie vergeblich auf die Bildung einer linken Einheitsfront, die Kommunisten, aber auch Sozialdemokraten umfassen sollte.
Im Exil, ob in Paris oder New York, führten Hertha, Jacob und ihre Mitstreiter den Kampf ihrer Kleinstpartei letztlich erfolglos fort. Eine tragende Nebenrolle nimmt dabei in Scheers Darstellung Willy Brandt ein, der von Norwegen und Schweden aus die Fahne der SAP hochhielt und dem Jacob Walcher zeitweise ein politischer Ziehvater war. Mit dem Heraufziehen des Kalten Krieges stellte sich allerdings die Frage der Parteinahme, die Brandt in den Westen Deutschlands, die Walchers nach Osten gehen ließen. Er erkannte klarer als die beiden, dass im sowjetischen Einflussbereich keine wahrhaft demokratische Gestaltung des Sozialismus möglich war.
Jacob und Hertha hielten stur am sozialistischen Traum fest, so viele - auch eigene - Opfer es dafür auch zu erbringen galt. Das sollten sie als einstige "Abweichler" der KPO und SAP, ja als "Rechte" und "Trotzkisten" (oder wie die abwertenden Bezeichnungen sonst hießen) noch in der frühen DDR zu spüren bekommen. Ihr SED-Parteibuch mussten sie für einige Jahre abgeben. Obgleich der Kontakt abgebrochen war, soll Willy Brandt, das erwähnte Hertha Gordon-Walcher einmal im Gespräch, aus Sorge um die Freunde in den frühen Fünfzigerjahren einen Boten geschickt haben, um sie über die Grenze in den schützenden Westen zu bringen. Sie hätten empört abgelehnt, hielten sie die DDR doch bei allen Widrigkeiten für das bessere Deutschland. Dorthin waren deshalb auch andere Westemigranten zurückgekehrt, die sie zu ihren Freunden zählten - ob Bertolt Brecht, Wieland Herzfelde oder Hermann Budzislawski.
Die Walchers repräsentieren den unverbrüchlichen Traum von einer Revolution, der mit einem gehörigen Maß an ideologischer Verblendung einherging und sich schließlich als Illusion entpuppte. Scheer verschweigt keineswegs, dass die Walchers rund um den 17. Juni 1953 auf der Seite einer rigiden Staatsmacht standen und 1961 den Mauerbau begrüßten. Als 1968 der Prager Frühling niedergeschlagen wurde, sorgte sich Jacob vor allem um eine, wie er meinte, ungerechtfertigte "Welle des Antisowjetismus". In früheren Jahrzehnten begegneten die beiden Parteiprozessen und Säuberungen zwar mit "Anflügen von Ratlosigkeit". Doch das konnte die "unbedingte Überzeugung, für die richtige Sache einzustehen", nicht verdrängen.
Begriffe wie "naive Hingabe" und "Schönfärberei" fallen vereinzelt und nebenbei. Allerdings will Scheer nachträgliche Kritik unbedingt vermeiden. Es sei "immer leicht, Illusionen zu erkennen, die bereits widerlegt wurden". Daher gelte es, dem Reiz zu widerstehen, alles im Licht des retrospektiven Wissens zu beurteilen. Stattdessen "einfach zu erzählen versuchen, wie es gewesen ist", das wirkt zwar ebenso altmodisch wie leichtgläubig. Auf die historiographische Methodenjustierung kommt es hier aber nicht entscheidend an. Die Schriftstellerin Regina Scheer hat Hertha Gordon-Walcher ein erzählerisches Denkmal gesetzt, das zu besichtigen sich lohnt. ALEXANDER GALLUS
Regina Scheer: "Bittere Brunnen". Hertha Gordon-Walcher und der Traum von der Revolution.
Penguin Verlag, München 2023. 698 S., Abb., geb., 30,- Euro.
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