Am Morgen war er noch im Wald, junge Eschen für ein Taubenhaus zu schlagen - da läuteten die Glocken. Es ist der 1. September 1939, auch der Architekt, der einen ersten Auftrag hat, muss alles stehen und liegen lassen - Generalmobilmachung. Es verschlägt ihn in ein Tessiner Bergdorf, wo die Kinder den Soldaten helfen, das Schulhaus auszuräumen und der Spätsommer mit den blauen Trauben an den Reben leuchtet. Er spitzt erneut den Bleistift, um Stellungen zu bauen. Der deutsche überfall droht. Es ist ein Wachen und Warten. Wenn am Abend alle zusammen die Nachrichten hören, blickt niemand auf.In Blätter aus dem Brotsack erzählt Max Frisch das unmittelbare Erleben, den Schock des Kriegsausbruchs - ein Jahrhundertereignis, das nicht zu fassen ist und doch alles verändert, alle Pläne durchkreuzt. Noch ist es wie ein böser Traum, aus dem man bald zu erwachen erhofft. Die ersten Wochen Soldatenalltag, Bergmärsche mit Blick auf die Gipfel, ein Fußballturnier, das das Krankenzimmer füllt, Abende am Kamin, all das schiebt sich vor die andere Wirklichkeit, die aus dem Radio zu ihnen dringt. Kurz scheint sie auf, die nackte Angst vor dem, was morgen kommt.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 18.05.2022Verliebt in die kleine Kanone
So bereitete er sich auf einen Krieg vor: Das Tagebuch des jungen Kanoniers Max Frisch
Das Tagebuch war für Max Frisch von Beginn an eine Möglichkeit, mitzuteilen, was er beobachtete, erlebte oder dachte. In der "Neuen Zürcher Zeitung" konnte er damit sogar ein bescheidenes Honorar verdienen. Geld war bei dem jungen arbeitslosen Architekten immer knapp, und das Stipendium, das er von einem Schriftstellerverband erhielt, ging zu Ende. Als die Schweiz unmittelbar nach dem Ausbruch des Zweiten Weltkriegs mobilmachte, ließ er als vorbildlicher Eidgenosse alles stehen und liegen und meldete sich bewaffnet und in voller Montur bei seiner Batterie. Er war nun Kanonier, nicht anders als die anderen Reservisten und musste sich nicht mehr mit der Entscheidung plagen, ob Schreiben oder Bauplänezeichnen seine Zukunft bestimmen sollte.
"Was war uns der Friede, so lange wir ihn hatten", überlegt der Achtundzwanzigjährige, und "alles Leben wächst aus der Gefährdung". Das sind Sätze, die mehr als achtzig Jahre später wieder aktuell klingen. Manchmal schleicht sich auch Pathos ein in Frischs sachlichen Bericht, den er für die "Neue Zürcher Zeitung" schrieb. Bald gab es davon aber auch eine militärische Version, das "Tagebuch unseres Grenzdienstes" sollte er führen. Täglich eine Stunde Dienstzeit stand ihm dafür zur Verfügung.
Sonst gibt es keine Vorrechte für Frisch. Wie die anderen Kanoniere schläft er im Stroh, manchmal auch bei Minusgraden unter freiem Himmel. Vorbereitetsein auf einen Krieg gegen eine zahlenmäßige Übermacht, das ist der Auftrag. Die Kanoniere üben dafür im Tessin, einer Region, die Frisch nicht nur wegen seiner Sprachschwierigkeiten fremd ist. Er beschreibt ihre Besonderheit umso intensiver, mahnt sich aber selbst gleichzeitig: "nur keine Ausflucht ins Schöne". Er sieht auch die Armut in dieser Region: hungernde Kinder in der reichen Schweiz. Erstaunlich, wie schnell das Ich übergeht zum Wir. Gemeinsam bauen die Kanoniere einen gewaltigen Bunker, den der dienstverpflichtete Architekt Frisch mitentworfen hat. Fragen nach dem Warum sind nicht erlaubt. Befehl ist Befehl. Bei der Übung für den Ernstfall kommt auch Stolz auf. Waffen und eine gut funktionierende Technik übten eine erstaunliche Faszination auf den Kanonier Frisch aus, den man gemeinhin doch eher als nachdenklichen Pfeiferaucher kennt. "Es hilft nichts; es gibt einfach eine Freude an der Waffe, die auch den lautesten Kriegsverächter überkommt", bekennt er. "Auch in die kleine Kanone, die unsere Armee zur Tankabwehr hat, sind wir förmlich verliebt."
650 Diensttage hat Max Frisch in Uniform zugebracht und keine einzige Klage aufkommen lassen. "Wir sind eine Insel, und man sagt, Europa braucht eine Insel" - es ist die Schweizer Bestimmung, an die auch der junge Frisch glauben möchte. Für sein frühes Werk fand er dann mit Atlantis einen verständnisvollen Verlag. Jetzt hat dort Tobias Amslinger, der Leiter des Max-Frisch-Archivs in Zürich, die schon einmal, 1990 bei Suhrkamp, veröffentlichten "Blätter aus dem Brotsack" neu gesammelt und mit einem lesenswerten Nachwort ergänzt: Sie stehen am "Anfang von Max Frischs Weg zum Weltautor", so Amslinger. MARIA FRISÉ.
Max Frisch: "Blätter aus dem Brotsack".
Nachwort von Tobias Amslinger.
Atlantis Verlag, Zürich 2022. 141 S., geb., 22,- Euro.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
So bereitete er sich auf einen Krieg vor: Das Tagebuch des jungen Kanoniers Max Frisch
Das Tagebuch war für Max Frisch von Beginn an eine Möglichkeit, mitzuteilen, was er beobachtete, erlebte oder dachte. In der "Neuen Zürcher Zeitung" konnte er damit sogar ein bescheidenes Honorar verdienen. Geld war bei dem jungen arbeitslosen Architekten immer knapp, und das Stipendium, das er von einem Schriftstellerverband erhielt, ging zu Ende. Als die Schweiz unmittelbar nach dem Ausbruch des Zweiten Weltkriegs mobilmachte, ließ er als vorbildlicher Eidgenosse alles stehen und liegen und meldete sich bewaffnet und in voller Montur bei seiner Batterie. Er war nun Kanonier, nicht anders als die anderen Reservisten und musste sich nicht mehr mit der Entscheidung plagen, ob Schreiben oder Bauplänezeichnen seine Zukunft bestimmen sollte.
"Was war uns der Friede, so lange wir ihn hatten", überlegt der Achtundzwanzigjährige, und "alles Leben wächst aus der Gefährdung". Das sind Sätze, die mehr als achtzig Jahre später wieder aktuell klingen. Manchmal schleicht sich auch Pathos ein in Frischs sachlichen Bericht, den er für die "Neue Zürcher Zeitung" schrieb. Bald gab es davon aber auch eine militärische Version, das "Tagebuch unseres Grenzdienstes" sollte er führen. Täglich eine Stunde Dienstzeit stand ihm dafür zur Verfügung.
Sonst gibt es keine Vorrechte für Frisch. Wie die anderen Kanoniere schläft er im Stroh, manchmal auch bei Minusgraden unter freiem Himmel. Vorbereitetsein auf einen Krieg gegen eine zahlenmäßige Übermacht, das ist der Auftrag. Die Kanoniere üben dafür im Tessin, einer Region, die Frisch nicht nur wegen seiner Sprachschwierigkeiten fremd ist. Er beschreibt ihre Besonderheit umso intensiver, mahnt sich aber selbst gleichzeitig: "nur keine Ausflucht ins Schöne". Er sieht auch die Armut in dieser Region: hungernde Kinder in der reichen Schweiz. Erstaunlich, wie schnell das Ich übergeht zum Wir. Gemeinsam bauen die Kanoniere einen gewaltigen Bunker, den der dienstverpflichtete Architekt Frisch mitentworfen hat. Fragen nach dem Warum sind nicht erlaubt. Befehl ist Befehl. Bei der Übung für den Ernstfall kommt auch Stolz auf. Waffen und eine gut funktionierende Technik übten eine erstaunliche Faszination auf den Kanonier Frisch aus, den man gemeinhin doch eher als nachdenklichen Pfeiferaucher kennt. "Es hilft nichts; es gibt einfach eine Freude an der Waffe, die auch den lautesten Kriegsverächter überkommt", bekennt er. "Auch in die kleine Kanone, die unsere Armee zur Tankabwehr hat, sind wir förmlich verliebt."
650 Diensttage hat Max Frisch in Uniform zugebracht und keine einzige Klage aufkommen lassen. "Wir sind eine Insel, und man sagt, Europa braucht eine Insel" - es ist die Schweizer Bestimmung, an die auch der junge Frisch glauben möchte. Für sein frühes Werk fand er dann mit Atlantis einen verständnisvollen Verlag. Jetzt hat dort Tobias Amslinger, der Leiter des Max-Frisch-Archivs in Zürich, die schon einmal, 1990 bei Suhrkamp, veröffentlichten "Blätter aus dem Brotsack" neu gesammelt und mit einem lesenswerten Nachwort ergänzt: Sie stehen am "Anfang von Max Frischs Weg zum Weltautor", so Amslinger. MARIA FRISÉ.
Max Frisch: "Blätter aus dem Brotsack".
Nachwort von Tobias Amslinger.
Atlantis Verlag, Zürich 2022. 141 S., geb., 22,- Euro.
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Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
Rezensentin Maria Frise lernt mit dem von Tobias Amslinger neu veröffentlichten Armeetagebuch von Max Frisch einen fröhlichen Kanonier kennen. Frischs Freude an Waffentechnik und am Bunkerbau und sein klagloses Campieren im Frost überraschen Frise, denkt sie an den späteren gemütlichen Pfeifenraucher. Ein bisschen Pathos darf sein in dem ansonsten eher sachlichen Bericht aus der eidgeössischen Garde, findet sie.
© Perlentaucher Medien GmbH
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