Eine Kindheit am Meer. Eine Sehnsucht nach Freiheit. Die Ahnung, dass Freiheit einen Preis hat. Judith Schalansky erzählt in ihrem eindringlichen Romandebüt vom Aufwachsen an der Ostseeküste in der DDR, dort 'wo andere Urlaub machen'. Und von den Reisen der erwachsenen Ich-Erzählerin nach Russland und in die USA, wo sie dem Geheimnis ihrer Liebe zum Matrosenanzug nachspürt.
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Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 29.04.2008Süßwassermatrosin
Kein Viermaster, aber ein beeindruckendes Romandebüt: Judith Schalansky schippert durch die Untiefen einer sehnsuchtsvollen Kindheit an der Ostsee.
Matrosenroman" lautet die Genrebezeichnung des Buches von Judith Schalansky: "Blau steht dir nicht". Dieser ungewöhnliche Untertitel könnte einen Abenteuerroman auf hoher See suggerieren, aber es handelt sich um etwas anderes: das poetische Verarbeiten eines Motivs und die Erforschung einer persönlichen Besessenheit. Die junge Jenny trifft zwei Matrosen auf einer Promenade und findet, es gebe nichts Schöneres als deren Uniform. Sie denkt, dass sie gerne selbst ein Matrose wäre, der allerdings, so sagt das Buch, immer ein Mann sein muss - und so rezitiert sie wie ein Mantra: "Ma-tro-se". Die Matrosenuniform, die Jenny von diesem Augenblick an wie eine fixe Idee beherrschen wird, ist Sinnbild des Militärs, Modeerscheinung des neunzehnten Jahrhunderts und Requisit der homosexuellen Ästhetik zugleich. Sie bietet der Autorin den Anlass für gründliche historische Recherchen einerseits und erotische Schwärmereien andererseits: so verwirrend wie fesselnd für den Leser.
Der Text erzählt zunächst aus der Perspektive eines Kindes das Leben an der Ostsee zu DDR-Zeiten. Jenny, die in der Gegend von Greifswald bei ihren Großeltern aufwächst, ist von dieser Landschaft fasziniert: Das Weißblau des Meeres, die Eigenschaften der Luft, des Tanges, des Lehms; der Nebel, der Meeresschaum und die Nadeln der Kiefer, die ihre Schritte dämpfen, nehmen sie völlig in Anspruch. Das Gesehene wird, sei es durch ein fotografisches Objektiv oder durch die zusammengekniffenen Augen der Heldin, präzise beschrieben. Jenny schlägt Bilderbücher, die sie im Kopf hat, auf, wenn die Bilder der Außenwelt verblassen und sie nicht mehr befriedigen.
Eine tiefe Sehnsucht nach Ferne zieht sich durch den ganzen Roman. Jennys Großeltern wohnen in einem mit welken Blüten und trockenen Zweigen verzierten Haus, an der Ostsee, "wo andere Urlaub machen", wie sie immer wieder betonen. Doch der Greifswalder Strand mit seinem abgegrenzten Badebereich scheint erstarrt zu sein: Es ist Nebensaison. Jenny widmet sich dem Schifferknoten, um ein Geheimnis zu enträtseln. Der Topos des Knotens kehrt im Roman mehrmals wieder, mitunter etwas erzwungen. Doch zu viele Wiederholungen erlaubt das schmale Format des Buches nicht. Schalansky fügt Bruchstücke verschiedener Gattungen zusammen, wobei die Stimme der Erzählerin die einzelnen Szenen und Bilder eng miteinander verknüpft. Und es wird immer wieder beteuert: "Alles ist möglich."
Schwarzweiße Fotografien, die zum Teil dem persönlichen Archiv der Autorin entstammen, bebildern den Text. Ihnen scheint der Text manchmal sogar den Vortritt zu lassen, wie zum Beispiel im Falle von Claude Cahun, der androgynen Dichterin mit dem rasierten Schädel, die als Matrose posiert. Der durchdringende Blick der abgebildeten Frau sticht hervor, der Text wird zur Randnotiz; seinen poetischen Reiz verliert er dabei aber nicht.
Nach der Wende scheint tatsächlich alles möglich zu sein. Die erwachsene Jenny, nunmehr die Ich-Erzählerin, verreist, studiert und möchte ein Buch schreiben. Sie spürt für ihre Recherchen dünnen Fragmenten der Geschichte nach, jenen leeren Stellen, die in der DDR nicht in die Geschichtsbücher eingegangen sind - ein abgerissenes Haus in Riga, die Ermordung der russischen Zarenfamilie. Unvermittelt treten dabei noch weitere historische Figuren auf: Wolfgang Koeppen, Sergei Eisenstein und Graf Zeppelin.
Jenny ist weiterhin auf der Suche nach Matrosen; Riga und New York sind Stationen dieser Suche. In New York sieht sie einen Matrosen, der ihr entgegenkommt. Er hat sie aber nicht bemerkt und läuft an ihr vorbei. Eine weitere verfehlte Beziehung folgt. Am Ende steht die endgültige Ernüchterung: Die einzigen echten Matrosen, die es damals in Greifswald gab, waren Grenzschützer. Doch die Greifswalder Insel Oie ist keine Fata Morgana, wie Jenny es sich als Kind vorgestellt hat. Sie fährt schließlich zu dieser Insel, geht an Land, und alles bleibt möglich. Dem Leser bleibt vor allem ein tiefes Fernweh.
Die experimentelle Form mag am Anfang verunsichern, doch die Sprachfertigkeit der Autorin und die Poesie, die aus dem Zusammentreffen von Bildern und Text entsteht, sind ergreifend. Ein vielversprechendes Debüt.
ELISE CANNUEL
Judith Schalansky: "Blau steht dir nicht". Matrosenroman. Marebuchverlag, Hamburg 2008. 139 S., geb., 18,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Kein Viermaster, aber ein beeindruckendes Romandebüt: Judith Schalansky schippert durch die Untiefen einer sehnsuchtsvollen Kindheit an der Ostsee.
Matrosenroman" lautet die Genrebezeichnung des Buches von Judith Schalansky: "Blau steht dir nicht". Dieser ungewöhnliche Untertitel könnte einen Abenteuerroman auf hoher See suggerieren, aber es handelt sich um etwas anderes: das poetische Verarbeiten eines Motivs und die Erforschung einer persönlichen Besessenheit. Die junge Jenny trifft zwei Matrosen auf einer Promenade und findet, es gebe nichts Schöneres als deren Uniform. Sie denkt, dass sie gerne selbst ein Matrose wäre, der allerdings, so sagt das Buch, immer ein Mann sein muss - und so rezitiert sie wie ein Mantra: "Ma-tro-se". Die Matrosenuniform, die Jenny von diesem Augenblick an wie eine fixe Idee beherrschen wird, ist Sinnbild des Militärs, Modeerscheinung des neunzehnten Jahrhunderts und Requisit der homosexuellen Ästhetik zugleich. Sie bietet der Autorin den Anlass für gründliche historische Recherchen einerseits und erotische Schwärmereien andererseits: so verwirrend wie fesselnd für den Leser.
Der Text erzählt zunächst aus der Perspektive eines Kindes das Leben an der Ostsee zu DDR-Zeiten. Jenny, die in der Gegend von Greifswald bei ihren Großeltern aufwächst, ist von dieser Landschaft fasziniert: Das Weißblau des Meeres, die Eigenschaften der Luft, des Tanges, des Lehms; der Nebel, der Meeresschaum und die Nadeln der Kiefer, die ihre Schritte dämpfen, nehmen sie völlig in Anspruch. Das Gesehene wird, sei es durch ein fotografisches Objektiv oder durch die zusammengekniffenen Augen der Heldin, präzise beschrieben. Jenny schlägt Bilderbücher, die sie im Kopf hat, auf, wenn die Bilder der Außenwelt verblassen und sie nicht mehr befriedigen.
Eine tiefe Sehnsucht nach Ferne zieht sich durch den ganzen Roman. Jennys Großeltern wohnen in einem mit welken Blüten und trockenen Zweigen verzierten Haus, an der Ostsee, "wo andere Urlaub machen", wie sie immer wieder betonen. Doch der Greifswalder Strand mit seinem abgegrenzten Badebereich scheint erstarrt zu sein: Es ist Nebensaison. Jenny widmet sich dem Schifferknoten, um ein Geheimnis zu enträtseln. Der Topos des Knotens kehrt im Roman mehrmals wieder, mitunter etwas erzwungen. Doch zu viele Wiederholungen erlaubt das schmale Format des Buches nicht. Schalansky fügt Bruchstücke verschiedener Gattungen zusammen, wobei die Stimme der Erzählerin die einzelnen Szenen und Bilder eng miteinander verknüpft. Und es wird immer wieder beteuert: "Alles ist möglich."
Schwarzweiße Fotografien, die zum Teil dem persönlichen Archiv der Autorin entstammen, bebildern den Text. Ihnen scheint der Text manchmal sogar den Vortritt zu lassen, wie zum Beispiel im Falle von Claude Cahun, der androgynen Dichterin mit dem rasierten Schädel, die als Matrose posiert. Der durchdringende Blick der abgebildeten Frau sticht hervor, der Text wird zur Randnotiz; seinen poetischen Reiz verliert er dabei aber nicht.
Nach der Wende scheint tatsächlich alles möglich zu sein. Die erwachsene Jenny, nunmehr die Ich-Erzählerin, verreist, studiert und möchte ein Buch schreiben. Sie spürt für ihre Recherchen dünnen Fragmenten der Geschichte nach, jenen leeren Stellen, die in der DDR nicht in die Geschichtsbücher eingegangen sind - ein abgerissenes Haus in Riga, die Ermordung der russischen Zarenfamilie. Unvermittelt treten dabei noch weitere historische Figuren auf: Wolfgang Koeppen, Sergei Eisenstein und Graf Zeppelin.
Jenny ist weiterhin auf der Suche nach Matrosen; Riga und New York sind Stationen dieser Suche. In New York sieht sie einen Matrosen, der ihr entgegenkommt. Er hat sie aber nicht bemerkt und läuft an ihr vorbei. Eine weitere verfehlte Beziehung folgt. Am Ende steht die endgültige Ernüchterung: Die einzigen echten Matrosen, die es damals in Greifswald gab, waren Grenzschützer. Doch die Greifswalder Insel Oie ist keine Fata Morgana, wie Jenny es sich als Kind vorgestellt hat. Sie fährt schließlich zu dieser Insel, geht an Land, und alles bleibt möglich. Dem Leser bleibt vor allem ein tiefes Fernweh.
Die experimentelle Form mag am Anfang verunsichern, doch die Sprachfertigkeit der Autorin und die Poesie, die aus dem Zusammentreffen von Bildern und Text entsteht, sind ergreifend. Ein vielversprechendes Debüt.
ELISE CANNUEL
Judith Schalansky: "Blau steht dir nicht". Matrosenroman. Marebuchverlag, Hamburg 2008. 139 S., geb., 18,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 12.09.2008Eine blau-weiße Uniform, die keine Dienstgrade kennt
„Blau steht dir nicht”, meinte die Großmutter auf Usedom. Aber der Matrosenroman von Judith Schalansky kann das klären
Matrose müsste man sein: als Grenzgänger über alle Meere segeln und eine Uniform tragen, die ewige Jugend und Draufgängertum verspricht. Der Matrose ist der Held aller braven Landratten, die sich aufs blaue Meer träumen. Nicht umsonst wurden Heerscharen von Kindern im letzten und vorletzten Jahrhundert in Matrosenanzüge gesteckt und fürs Familienalbum als adrette Zwergenseefahrer abgelichtet.
„Diese Uniform kennt keine Dienstgrade, sie unterliegt einzig dem Diktat der Mode. Saison für Saison verwandelt sie sich, hält sich nicht an Staatsgrenzen und Küstenlinien. Alle tragen den Anzug der Matrosen, Lübecker Bürgersöhne und lettische Bauernmädchen, die Kinder des englischen Königs, des deutschen Kaisers, des russischen Zaren. Sie bilden eine heimliche Kinderarmee, sind Reservisten für die kommende Zeit”, schreibt Judith Schalansky, die sich in ihrem Debütroman als subtile Expertin für Matrosenphantasien outet.
Ohne Zonenkinderkitsch
„Blau steht dir nicht” trägt den schönen Zusatz „;Matrosenroman”, wobei man sich über das Roman-Label natürlich streiten könnte. Judith Schalansky lässt sich von Geschichte zu Geschichte treiben, erzählt von einer Kindheit auf Usedom, montiert Schwarzweißbilder in den Text und folgt den historischen Fährten der echten und eingebildeten Matrosen. Ganz nebenbei lässt sie die letzten Jahre der DDR Revue passieren und erinnert sich an jenes andere Land, das „Drüben” hieß und im Atlas genau auf der gegenüberliegenden Buchseite lag, eine irritierende graue Fläche.
Alles beginnt sehr kindlich, mit einem Mädchen namens Jenny, das seine Sommer bei den Großeltern auf Usedom verbringt – „Wir wohnen da, wo andere Leute Urlaub machen”, betont der Großvater immer wieder. Dieser etwas schrullige Mathematiklehrer nimmt seine Enkelin mit zum Strand, wo alle nackt sind und nur ein paar verklemmte Sachsen und die katholischen Kinder angezogen bleiben. Die Schwimmer, die sich zu weit rauswagen, werden sofort per Megafon zurückgepfiffen. Beim frühmorgendlichen Bernsteinsammeln taucht ein Vopo auf, der die Fischkutter kontrolliert. Und am Rande der Strandszenerie erhebt sich das Ferienheim „Roter Oktober”, ein riesiger, geheimnisvoller Kasten, der eine Art Farbrätsel aufgibt: Warum rot, wenn doch die Fassade hellblau ist? Judith Schalansky, geboren 1980 in Greifswald, hat sich ein ebenso aufmerksames wie poesiebegabtes Mädchen zur Hauptfigur gewählt: Die kindliche Perspektive wirkt deshalb nie naiv, sondern beweist im Gegenteil sehr eindrücklich, dass man als Beinah-Nachgeborene von der DDR erzählen kann, ohne sich im Zonenkinderkitsch zu verlieren. Vor allem aber taucht immer wieder ein erwachsenes Ich auf, das die Zeitgeschichtsbruchstücke gewissermaßen nachkoloriert und sich seines Zuspätkommens sehr bewusst ist. Diese Ich-Erzählerin ist genauso seefahrerfixiert wie das Kind auf Usedom: In Riga erzählt sie die Geschichte von Serjoscha und Aljoscha, in denen man Sergej Eisenstein und Alexej, den letzten Zarensohn, wiedererkennt.
Aus der Matrosenfetischperspektive sind sie beide wichtige Funde: Eisensteins „Panzerkreuzer Potemkin” mit dem legendären Aufstand der Besatzung, und der letzte Romanow, dessen männliches Kindermädchen ein Matrose war. In ihrer Heimatstadt macht sich die Erzählerin auf die Suche nach Wolfgang Koeppen, der den Absprung geschafft hatte: weg aus Greifswald, vom Matrosenhemdfoto hinein ins echte Matrosenleben. Dass er auch als Schriftsteller ein Vagabund geblieben ist, einer, der seine Texte niemals zu Ende brachte, scheint ihm in dieser Matrosengalerie einen Ehrenplatz zu sichern.
Und noch etwas gelingt diesem feinen, farbverliebten Debütroman: Er präsentiert den Matrosen als androgynes Wesen und Crossdresser, der auch für die herumstreunende Ich-Erzählerin eine Form parat hält. Diese Blau-Weiß-Uniform kommt ohne Waffen aus und kann stattdessen mit dem Sexappeal der großen weiten See aufwarten – eine erotische Hülle, in der selbst die echten Seeleute manchmal wie verkleidet aussehen und an Claude Cahun erinnern, die Fotografin, Schriftstellerin und Rollenwechslerin aus den zwanziger Jahren, die als historisches Muster nicht fehlen darf.
Alles ist möglich
„Blau steht dir nicht”, meinte die Großmutter, und auch der Großvater riet vom Matrosinnenberuf ab. Judith Schalansky zieht sich elegant aus der Affäre, indem sie alle Matrosenphantasien in eine polymorphe Prosa verwandelt, die sich ins Weite träumt: Wegsegeln, Rausschwimmen oder Davonfliegen, mit dem Marineluftschiff oder auf Lilienthals Drachenflügeln. Alles ist möglich, lautete die Losung der Wendezeit, und sie hält sich zumindest für die Länge eines Matrosenromans. JUTTA PERSON
JUDITH SCHALANSKY: Blau steht dir nicht. Matrosenroman. Marebuchverlag, Hamburg 2008. 142 Seiten, 18 Euro.
DDR 1976: Am Strand von Usedom waren alle nackt – nur die verklemmten Sachsen nicht Foto: dpa
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„Blau steht dir nicht”, meinte die Großmutter auf Usedom. Aber der Matrosenroman von Judith Schalansky kann das klären
Matrose müsste man sein: als Grenzgänger über alle Meere segeln und eine Uniform tragen, die ewige Jugend und Draufgängertum verspricht. Der Matrose ist der Held aller braven Landratten, die sich aufs blaue Meer träumen. Nicht umsonst wurden Heerscharen von Kindern im letzten und vorletzten Jahrhundert in Matrosenanzüge gesteckt und fürs Familienalbum als adrette Zwergenseefahrer abgelichtet.
„Diese Uniform kennt keine Dienstgrade, sie unterliegt einzig dem Diktat der Mode. Saison für Saison verwandelt sie sich, hält sich nicht an Staatsgrenzen und Küstenlinien. Alle tragen den Anzug der Matrosen, Lübecker Bürgersöhne und lettische Bauernmädchen, die Kinder des englischen Königs, des deutschen Kaisers, des russischen Zaren. Sie bilden eine heimliche Kinderarmee, sind Reservisten für die kommende Zeit”, schreibt Judith Schalansky, die sich in ihrem Debütroman als subtile Expertin für Matrosenphantasien outet.
Ohne Zonenkinderkitsch
„Blau steht dir nicht” trägt den schönen Zusatz „;Matrosenroman”, wobei man sich über das Roman-Label natürlich streiten könnte. Judith Schalansky lässt sich von Geschichte zu Geschichte treiben, erzählt von einer Kindheit auf Usedom, montiert Schwarzweißbilder in den Text und folgt den historischen Fährten der echten und eingebildeten Matrosen. Ganz nebenbei lässt sie die letzten Jahre der DDR Revue passieren und erinnert sich an jenes andere Land, das „Drüben” hieß und im Atlas genau auf der gegenüberliegenden Buchseite lag, eine irritierende graue Fläche.
Alles beginnt sehr kindlich, mit einem Mädchen namens Jenny, das seine Sommer bei den Großeltern auf Usedom verbringt – „Wir wohnen da, wo andere Leute Urlaub machen”, betont der Großvater immer wieder. Dieser etwas schrullige Mathematiklehrer nimmt seine Enkelin mit zum Strand, wo alle nackt sind und nur ein paar verklemmte Sachsen und die katholischen Kinder angezogen bleiben. Die Schwimmer, die sich zu weit rauswagen, werden sofort per Megafon zurückgepfiffen. Beim frühmorgendlichen Bernsteinsammeln taucht ein Vopo auf, der die Fischkutter kontrolliert. Und am Rande der Strandszenerie erhebt sich das Ferienheim „Roter Oktober”, ein riesiger, geheimnisvoller Kasten, der eine Art Farbrätsel aufgibt: Warum rot, wenn doch die Fassade hellblau ist? Judith Schalansky, geboren 1980 in Greifswald, hat sich ein ebenso aufmerksames wie poesiebegabtes Mädchen zur Hauptfigur gewählt: Die kindliche Perspektive wirkt deshalb nie naiv, sondern beweist im Gegenteil sehr eindrücklich, dass man als Beinah-Nachgeborene von der DDR erzählen kann, ohne sich im Zonenkinderkitsch zu verlieren. Vor allem aber taucht immer wieder ein erwachsenes Ich auf, das die Zeitgeschichtsbruchstücke gewissermaßen nachkoloriert und sich seines Zuspätkommens sehr bewusst ist. Diese Ich-Erzählerin ist genauso seefahrerfixiert wie das Kind auf Usedom: In Riga erzählt sie die Geschichte von Serjoscha und Aljoscha, in denen man Sergej Eisenstein und Alexej, den letzten Zarensohn, wiedererkennt.
Aus der Matrosenfetischperspektive sind sie beide wichtige Funde: Eisensteins „Panzerkreuzer Potemkin” mit dem legendären Aufstand der Besatzung, und der letzte Romanow, dessen männliches Kindermädchen ein Matrose war. In ihrer Heimatstadt macht sich die Erzählerin auf die Suche nach Wolfgang Koeppen, der den Absprung geschafft hatte: weg aus Greifswald, vom Matrosenhemdfoto hinein ins echte Matrosenleben. Dass er auch als Schriftsteller ein Vagabund geblieben ist, einer, der seine Texte niemals zu Ende brachte, scheint ihm in dieser Matrosengalerie einen Ehrenplatz zu sichern.
Und noch etwas gelingt diesem feinen, farbverliebten Debütroman: Er präsentiert den Matrosen als androgynes Wesen und Crossdresser, der auch für die herumstreunende Ich-Erzählerin eine Form parat hält. Diese Blau-Weiß-Uniform kommt ohne Waffen aus und kann stattdessen mit dem Sexappeal der großen weiten See aufwarten – eine erotische Hülle, in der selbst die echten Seeleute manchmal wie verkleidet aussehen und an Claude Cahun erinnern, die Fotografin, Schriftstellerin und Rollenwechslerin aus den zwanziger Jahren, die als historisches Muster nicht fehlen darf.
Alles ist möglich
„Blau steht dir nicht”, meinte die Großmutter, und auch der Großvater riet vom Matrosinnenberuf ab. Judith Schalansky zieht sich elegant aus der Affäre, indem sie alle Matrosenphantasien in eine polymorphe Prosa verwandelt, die sich ins Weite träumt: Wegsegeln, Rausschwimmen oder Davonfliegen, mit dem Marineluftschiff oder auf Lilienthals Drachenflügeln. Alles ist möglich, lautete die Losung der Wendezeit, und sie hält sich zumindest für die Länge eines Matrosenromans. JUTTA PERSON
JUDITH SCHALANSKY: Blau steht dir nicht. Matrosenroman. Marebuchverlag, Hamburg 2008. 142 Seiten, 18 Euro.
DDR 1976: Am Strand von Usedom waren alle nackt – nur die verklemmten Sachsen nicht Foto: dpa
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Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
Als "vielversprechendes" Debüt lobt Rezensentin Elise Cannuel diesen Band der Autorin Judith Schalansky, der sie manchmal durchaus irritierte, aber immer wieder auch ergriff. Das Buch erzählt von Jenny, die zu DDR-Zeiten an der Ostsee bei Greifswald aufwächst und für die es nichts Schöneres gibt als Matrosen. Sie geben Anlass für Fernweh, "historische Recherchen" und "erotische Schwärmereien", was die Rezensentin gleichermaßen fesselnd wie verwirrend fand. Worin der poetische Reiz des Bandes nun genau besteht, wird nicht ganz klar, aber die beeindruckte Rezensentin Cannuel lässt keinen Zweifel daran, dass er seine Wirkung tut und dass dabei Schifferknoten, Sergej Eisenstein, die Ermordung der Zarenfamilie, Wolfgang Koeppen und ein Haus in Riga ebenso eine Rolle spielen wie die Schwarzweiß-Fotografien aus dem Archiv der Autorin.
© Perlentaucher Medien GmbH
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