Produktdetails
  • Verlag: Faber & Faber
  • ISBN-13: 9783936618723
  • ISBN-10: 3936618720
  • Artikelnr.: 14425527
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 16.02.2006

Hansdampf sorgt für Devisen
Umbau Ost: Fritz Rudolf Fries aktualisiert den Blaubart-Mythos

"Blaustrumpf" ist nicht die weibliche Entsprechung zu "Blaubart". Blaustrumpf (blue stocking) kommt im 18. Jahrhundert als Ausdruck für gelehrte Frauen auf, die über ihre schöngeistigen Neigungen angeblich die häuslichen Pflichten vernachlässigen. Der Spottname gerät seinerseits in Mißkredit mit dem Aufkommen der Frauenbewegung. Und der Sinn fürs Ästhetische hat nun gewiß nichts zu tun mit den mörderischen Gelüsten, die dem Ritter Blaubart zugeschrieben werden.

Die Legende vom oft verheirateten Mann, der sich seiner Frauen entledigt, sobald sie schwanger werden, ist bereits von einem bretonischen Geschichtsschreiber aus dem 6. Jahrhundert überliefert. In späteren Fassungen genügt dem Mann schon die Neugier der Frau, das Betreten eines verbotenen Zimmers, als Grund, sie zu töten. Breitenwirkung bekommt der Stoff durch die berühmte französische Märchensammlung von Perrault (1697). Ludwig Tieck schlachtet ihn für ein albtraumhaftes romantisches Ritterdrama aus, Jacques Offenbach reißt ihm in seiner Operette den Stachel aus, indem er die angeblich ermordeten Frauen munter auf der Szene erscheinen läßt. Nach vielen anderen Autoren, darunter Alfred Döblin, Georg Kaiser und Max Frisch, hat nun mit dem Roman "Blaubarts Besitz" Fritz Rudolf Fries seine Chance wahrgenommen.

Denn dieser Stoff ist so recht nach dem Geschmack jenes fabulierfreudigen und in der romanischen Literatur bewanderten Autors Fries, wie wir ihn von früher kennen. Lange nicht mehr hat sich Fries, der seine Schwierigkeiten mit der Klärung seiner Vergangenheit in der DDR hatte, so locker und ressentimentlos, so befreit auch von den Flügeln seiner Phantasie davontragen lassen wie hier.

Er muß erkannt haben, daß beim Thema vom ehelichen Serienmörder Blaubart das literarische Korn inzwischen ausgedroschen war. So ersetzt er die Morde durch eine mit dem Hausarzt abgesprochene vorübergehende künstliche Schlafpause und damit Gefangenschaft in ebenjenem ominösen Zimmer, das zuvor den Frauen zum Verhängnis wurde. Aus den Morden ist der Versuch geworden, die geliebte, aber eine Enttäuschung nicht verwindende Frau aus der ehelichen Entfremdung wieder zurückzugewinnen. Hier also entzieht Fries dem Stoff das Barbarische.

Und zugleich versteckt er hinter dem Blaubart- auch das Blaustrumpfmotiv. Denn Blaubart - die erste Ehefrau ist mit einem Reiterhof entschädigt worden - hat Caroline, die in Leipzig eine Fachschule für den Buchhandel besucht, in der sächsischen Provinzstadt R. eine Buchhandlung gekauft, in der sie ihre Lebensaufgabe, die Vermittlung von Literatur, gefunden hat. Aus dem Zeitalter des Rittertums ist das Blaubartmärchen ins Industriezeitalter verlegt, ist eingebettet worden in die politische und die Wirtschaftsgeschichte und die Generationengeschichte einer Familie, die in Sachsen ansässig wurde.

Louis Blaubart I., Gründer und Besitzer von Textilfabriken noch im 19. Jahrhundert, war von der französischen Nation mit dem Pour le mérite ausgezeichnet und zum Ritter geschlagen worden. Und als eine revolutionäre Marianne begleitet später eine französische Widerstandskämpferin Colette, die nach der Befreiung aus dem KZ in der Ostzone geblieben ist, Carolines Lebensweg, zunächst im Kindergarten, dann im Gymnasium. Einen bösen Blaubart schiebt Fries aber doch in die Generationenreihe. Blaubart II. hat als Chemiker und Sturmbannführer der SS ein synthetisches Nahrungsmittel entwickelt und im Konzentrationslager Experimente an Frauen mit tödlichem Ausgang durchgeführt, ist nach dem Ende des Krieges von den Amerikanern den Russen abgehandelt worden und hat in den Vereinigten Staaten ein Wirtschaftsimperium aufgebaut. Sein Sohn Louis, Blaubart III., Bürger der DDR, soll das riesige Vermögen erben.

Hier nun vor allem legt sich der Ironiker und Satiriker Fries ins Zeug. In Erwartung eines unermeßlichen Devisen-Transfers wittert die Staatsführung Morgenluft für die inzwischen marode gewordene Wirtschaft der DDR. Louis, Blaubart III., der einstmals Enteignete, wird zum Hans im Glück, dem nun als Hätschelkind der Republik tausend Wünsche offenstehen. Die Millionen auf Schweizer Banken sollen für Geschäfte liquide gemacht werden, mit denen man das Nato-Embargo gegen die DDR als Ostblockstaat unterlaufen will.

Als weltwirtschaftskundiger Hansdampf in allen Gassen tritt ein Dr. Glossowski in Tätigkeit, dessen Name verräterisch an den Namen eines gewissen Maklers in Ost-West-Geschäften aus der Endzeit der DDR erinnert. Auch der Fall der Berliner Mauer und die Zeit nach der Wende werden im Roman noch erreicht. Das Märchen vom Blaubart im Glück aber bleibt nicht ohne den Wermutstropfen der Melancholie. Louis, der meint, er hätte die DDR kaufen können, hat sich die alte eheliche Vertrautheit mit Caroline nicht zurückkaufen können, nicht einmal durch aufrichtige Liebe.

Dieser Handlungsabriß täuscht allzusehr lineares Erzählen vor. Ein Teil des Vergnügens am Text rührt aber von den erzählerischen Volten her, die Fries zwischen den Generationen und den Zeiten schlägt, ohne den Leser zu desorientieren. Überall blitzen Blinklichter aus der literarischen Tradition auf. Ein paarmal spukt der "Geist der Erzählung" aus Thomas Manns "Erwähltem" durch den Roman, schwermütige Musik aus einer frühen Erzählung von Marcel Proust klingt herüber. Gelegentlich winkt aus dem Text auch der Autor Fries selbst hervor, etwa wenn er vom Leipziger Literatur- und Sprachenstudium des letzten Blaubarts erzählt, das man ähnlich auch aus Fries' Biographie oder dem erst 1997 erschienenen frühen Roman "Septembersong" kennt. Mit Augenzwinkern bringt der Erzähler die politische Satire ins Gleichgewicht von Ost und West. Im Westen segnet der "Gott des Kapitals" das "heckende" Geld; bei der Uranförderung für die Sowjetunion in der "Wismut" haben die Arbeiter nur "die einen Ausbeuter für neue Ausbeuter eingetauscht".

Eine Fülle von Erscheinungen, wie sie nur die deutsche Teilung hervorgebracht haben kann, staffieren das Blaubart-Märchen mit einem zeitgeschichtlichen Polster aus: Carolines "republikflüchtige" Schwester Gisela, die über viele westdeutsche Stationen schließlich in die Vereinigten Staaten gelangt und die Familie daheim mit anstößiger westlicher Kleidung versorgt; die Postzensur, bei der manches Westgut wie zufällig aus dem Paket fällt und die Freundin des Zollbeamten erfreut; die "Liga zur kulturellen Verbindung mit dem Ausland", bei der Blaubart die linientreue Tanzmeisterin Dunja kennenlernt; der für Berlin vorgesehene Transport ins Ferienlager, der nach Rügen umgeleitet werden muß, weil in Berlin gerade die Mauer gebaut wird; die unsichtbare Allgegenwart der Staatssicherheit; der als Helfer in allen Lagen zum Millionenerben abgeordnete "gestiefelte Kater", etwas wie eine Variante von Fontys "Tag- und Nachtschatten" Hoftaller in Günter Grass' Roman "Ein weites Feld".

Dies ist Gott sei Dank kein Buch, das - wieder einmal - der Roman der DDR oder der Wende sein will. Es bleibt, mit allen seinen Freiheiten, ein Märchen. Aber ausgestreut in dieses ironische Märchen sind Mosaiksteine, die sich der Leser zu einem Zeitbild zusammensetzen kann auf vergnügliche Weise. Am Ende ist das kinderlose Ehepaar gestorben. Nur Blaubarts Millionen wuchern weiter. Aber sie sind eingefroren auf Schweizer Nummernkonten. Und es wäre so schön gewesen, hätten sie in den "Aufbau Ost" fließen können.

WALTER HINCK

Fritz Rudolf Fries: "Blaubarts Besitz". Roman. Faber & Faber Verlag, Leipzig 2005. 158 Seiten, geb., 16,- [Euro].

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Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension

Ausgesprochen gut gelaunt hat Rezensent Walter Hinck das neue Buch von Fritz Rudolf Fries zugeklappt. Lange nicht mehr, so sein Eindruck, habe Fries sich so "locker und ressentimentlos, so befreit auch von den Flügeln der Fantasie davontragen lassen". Ein beträchtlicher Teil des Lesevergnügens geht Hinck zufolge auf das Konto gekonnter erzählerischer Volten, die den Rezensenten beim Lesen manchmal sogar an Größen wie Thomas Mann und Marcel Proust denken lassen. Seine Wirkung verdankt Fries' Variation des berühmten Stoffes der Einschätzung des Rezensenten zufolge der Tatsache, dass ihm "das Barbarische" entzogen wurde und die Geschichte aus dem Ritterzeitalter ins Industriezeitalter verlegt, in die Wirtschafts- und Generationengeschichte einer sächsischen Familie eingebettet wurde, in der es Hinck zufolge eigentlich nur einen einzigen wirklich Bösen gibt: Louis Blaubart II., SS-Sturmbannführer und Chemiker, der in Konzentrationslagern tödliche Experimente an Frauen durchgeführt habe. Fries führt seine Familiengeschichte durch die Wirren der deutschen Geschichte und ihre Mosaiksteine ergänzen sich für den Rezensenten "auf vergnügliche Weise" zu einem Zeitbild bis in die Gegenwart. Dabei ist Hinck ausgesprochen dankbar, dass Fries gerade keinen Wende- oder DDR-Roman geschrieben hat, sondern dass seine Geschichte immer ein "ironisches Märchen" bleibt.

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