Ein radikal neuer Freiheitsbegriff von einer leidenschaftlichen Stimme der Gegenwartsphilosophie
Selten wurde Freiheit so intensiv diskutiert wie in der Pandemie: die Freiheit zu reisen, sich uneingeschränkt zu bewegen, Menschen dort zu treffen, wo man möchte. Doch wie zukunftsfähig ist ein derart räumlich abgesteckter Freiheitsbegriff, da wir Zeiten entgegensehen, in denen die Orte schwinden, an denen es sich leben lässt und Klimakrise oder Kriege ganze Landstriche unbewohnbar machen? Die Philosophin Eva von Redecker denkt Freiheit darum ganz neu: als die Freiheit, an einem Ort zu leben, an dem wir bleiben könnten. Bleibefreiheit entfaltet sich zeitlich. Als auch künftig lebbare Freiheit rückt sie nicht nur die Erhaltung unserer Lebensgrundlagen in den Blick, sie verringert auch den Abstand zwischen dem Freisein Einzelner und ihrer Gemeinschaft. Bleibefreiheit lässt sich nur gemeinsam herstellen. Und sie wächst, wenn wir sie teilen.
»Kundig, genau, spielerisch und lesbar, gleichzeitig in der Welt und über ihr schwebend, ist von Redecker eine brillante und wundersame Intellektuelle, angetrieben von der philosophischen Frage, wie wir aus dem, was wir jetzt tun, eine bessere Zukunft machen können.« Wendy Brown
Selten wurde Freiheit so intensiv diskutiert wie in der Pandemie: die Freiheit zu reisen, sich uneingeschränkt zu bewegen, Menschen dort zu treffen, wo man möchte. Doch wie zukunftsfähig ist ein derart räumlich abgesteckter Freiheitsbegriff, da wir Zeiten entgegensehen, in denen die Orte schwinden, an denen es sich leben lässt und Klimakrise oder Kriege ganze Landstriche unbewohnbar machen? Die Philosophin Eva von Redecker denkt Freiheit darum ganz neu: als die Freiheit, an einem Ort zu leben, an dem wir bleiben könnten. Bleibefreiheit entfaltet sich zeitlich. Als auch künftig lebbare Freiheit rückt sie nicht nur die Erhaltung unserer Lebensgrundlagen in den Blick, sie verringert auch den Abstand zwischen dem Freisein Einzelner und ihrer Gemeinschaft. Bleibefreiheit lässt sich nur gemeinsam herstellen. Und sie wächst, wenn wir sie teilen.
»Kundig, genau, spielerisch und lesbar, gleichzeitig in der Welt und über ihr schwebend, ist von Redecker eine brillante und wundersame Intellektuelle, angetrieben von der philosophischen Frage, wie wir aus dem, was wir jetzt tun, eine bessere Zukunft machen können.« Wendy Brown
Perlentaucher-Notiz zur 9punkt-Rezension
Es gibt eine Erstarken der politischen Ränder, jedoch keine generelle Polarisierung der Gesellschaft, erklären die Soziologen Steffen Mau und Thomas Lux im Tagesspiegel-Gespräch mit Hans Monath. Trotzdem gibt es in der Gesellschaft bestimmte "Triggerpunkte": "Das sind Sollbruchstellen der öffentlichen Debatte, bei denen sachliche Diskussionen in emotionale umschlagen und sich die Menschen anders positionieren, als sie es zuvor getan haben", führt Mau aus. "Viele Menschen haben aus unterschiedlichen Gründen Vorbehalte gegen Gendersternchen, befürworten in ihrer großen Mehrheit aber die Gleichberechtigung und gleiche Bezahlung von Frauen und Männer. Ein Triggerpunkt, also Auslöser von politischer Emotionalisierung, sind in diesem Zusammenhang etwa Verhaltensvorschriften. Wenn bestimmte Akteure sagen, du musst dich grundsätzlich verändern, in der Art, wie du sprichst, und das auch in deinem privaten Raum, dann provoziert das Reaktanz, also Abwehr, und viele sagen: Das mache ich jetzt nicht mehr mit."
© Perlentaucher Medien GmbH
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Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 02.08.2023Auf der Suche nach der erfüllten Zeit
Lob der Begrenzung: Eva von Redecker hält ein Plädoyer für die Freiheit, an einem Ort zu bleiben.
Wir bleiben zuhause" war eine der Durchhalte- und Motivationsparolen, die während der Corona-Lockdowns im städtischen Raum auf Litfaßsäulen plakatiert und in den sozialen Medien auf Bildkacheln geteilt wurden, um sich der weiterhin andauernden Rücksichtnahme im Modus geteilter Distanz zu versichern. Folgt man Eva von Redeckers jüngst veröffentlichtem Essay sollte diese von vielen als Freiheitseinschränkung erfahrene Periode häuslichen Rückzugs nicht ganz so schnell wieder dem kollektiven Vergessen anheimfallen, sondern könnte auf eine Verkürzung unseres zumeist ins Räumliche hin entworfenen, eben auf Bewegungsfreiheit fokussierten Freiheitsbegriff aufmerksam machen.
Die Autorin möchte den Freiheitsbegriff von solchen mit der Möglichkeit zum permanenten Ortswechsel verknüpften Vorstellungswelten entlasten, ihn aufs Zeitliche hin wenden und einsichtig machen, weshalb zukünftig auf "das Bleiben-Wollen" als "Maß der Freiheit" gesetzt werden müsse. Was mit dieser Verzeitlichung im Gegensatz zur Unbegrenztheit des Raumes anders in den Blick falle, sei die unverrückbare Grenze des menschlichen Todes. Eher beiläufig wird diese doch zentrale systematische Differenz erwähnt: Begrenzung wirkt befreiend, ermöglicht eine Haltung zur eigenen Lebenszeit, die das gegenwärtige Hier und Jetzt überhaupt erst als Möglichkeitsraum sinnhafter Erfahrung anerkennt. Damit die eigene Lebenszeit nicht zur monotonen Fortdauer gerate, setzt Redecker auf eine Idee Hannah Arendts, beschreibt "erfüllte Zeit" als "Zeit, die von Neuanfängen gekennzeichnet" sei und schätzt eine Naturerfahrung, die die Eingebundenheit des Menschen in eine ihm äußerliche, Routine- und Regelhaftigkeit versprechende Zeitstruktur verbürge.
Konsequent schwört sie damit jeder Transzendenz ab, will die "Bleibefreiheit" ganz diesseitig verstanden wissen. Denn nicht erst der spätmodernde, in die Rhythmen kapitalistischer Betriebsamkeit eingespannte Mensch der Gegenwart sucht nach Ausflüchten aus der prekären Situation endlicher Zeitverfügung. Redecker erinnert an Platons Sokrates, der die Bedingungen der eigenen Existenz verleugne, indem er dem bevorstehenden Abschied von seinen philosophischen Freunden kurz vor seinem Tod im Vertrauen auf die Unsterblichkeit der Seele unberührt entgegenblicke. So eine Geringschätzung irdischer Existenz ist mit ihrer Konzeption hingegen nicht zu haben: "Das Bleibeindividuum muss den Tod wahrhaben."
Doch der Text dient nicht nur der Vergegenwärtigung solcher existenzieller Grenzerfahrungen, sondern speist sich aus genuin politischen Verfallserscheinungen der vergangenen Jahre, die auch an der Verwendung des Freiheitsbegriffs nachzuvollziehen sind. Maskenpflicht, Tempolimit, Sprachpolitiken - jede Form kollektiver Selbstbegrenzung werde hier als Einschränkung der eigenen Willkürsphäre erfahren und mit eben dem Verweis auf Freiheit abgetan.
Um dennoch dem Eindruck zu entgehen, die Stoßrichtung des Aufrufs ergäbe sich aus der bloß subjektiven Phantasie einer vom Reisedruck entlasteten Akademikerin, sucht Redecker nach Absicherung in Forderungen gegenwärtiger sozialer Bewegungen, die in gleicher Weise vom Wunsch des Bleibens angetrieben gegen Umweltzerstörung oder Gentrifizierung protestieren und sich damit als politisches Subjekt der Bleibefreiheit andienen.
Von der Seite her verstanden, erscheint das Plädoyer für die Freiheit zum Bleiben nicht mehr ganz so abwegig und behelfsmäßig wie es der etwas artifiziell wirkende Neologismus der titelbildenden "Bleibefreiheit" nahezulegen scheint. Und das Anliegen, sich auf die Suche nach einem Freiheitsbegriff zu begeben, der die im Aufkommen der ökologischen Krise zwangsläufig eintretenden Veränderungen eingeübter Lebensformen nicht rein negativ als Zwang, Verlust oder Verzicht bestimmt, kann zweifelsohne Aktualität für sich beanspruchen.
Dennoch verlieren sich die Ausführungen häufig in persönlichen Erlebnissen, Anekdoten und Begegnungen. Diese sind für sich genommen durchaus interessant, stehen der Entfaltung eines in sich zusammenhängenden Gedankens teilweise jedoch eher im Weg. Stärker noch provoziert der Text jedoch einen anderen Eindruck: So strategisch einleuchtend es vor dem Hintergrund der treffend beschriebenen, eben weltvergessenen Freiheitsrhetorik der Gegenwart ist, auf Abhängigkeiten von seinen Mitmenschen, Begrenzungen durch die eigene Endlichkeit und Verbundenheiten mit der äußeren Natur zu verweisen, durchweht das Vorhaben an vielen Stellen ein defaitistischer, resignativer Zug.
Anders als Redecker, die im Wunsch nach Orts- und Erdentfernung vor allem schrankenlose Aneignungsphantasmen walten sieht, bejubelte Emmanuel Levinas 1961 den erstmaligen Aufbruch des sowjetischen Kosmonauten Juri Alexejewitsch Gagarin in den Weltall als Chance, "dem Aberglauben des Ortes" zu entgehen: "Aber was vielleicht mehr als alles andere zählt, ist der Umstand, den Ort verlassen zu haben. Eine Stunde lang hat ein Mensch außerhalb jedes Horizonts existiert - alles um ihn herum war Himmel, oder genauer gesagt, alles war geometrischer Raum. Ein Mensch existierte im Absoluten des homogenen Raumes." Aber vielleicht ist das sechzig Jahre später wirklich nur noch schwer zu halten. TOBIAS SCHWEITZER
Eva von Redecker: "Bleibefreiheit".
S. Fischer Verlag, Frankfurt am Main, 2023. 160 S., geb., 22,- Euro.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Lob der Begrenzung: Eva von Redecker hält ein Plädoyer für die Freiheit, an einem Ort zu bleiben.
Wir bleiben zuhause" war eine der Durchhalte- und Motivationsparolen, die während der Corona-Lockdowns im städtischen Raum auf Litfaßsäulen plakatiert und in den sozialen Medien auf Bildkacheln geteilt wurden, um sich der weiterhin andauernden Rücksichtnahme im Modus geteilter Distanz zu versichern. Folgt man Eva von Redeckers jüngst veröffentlichtem Essay sollte diese von vielen als Freiheitseinschränkung erfahrene Periode häuslichen Rückzugs nicht ganz so schnell wieder dem kollektiven Vergessen anheimfallen, sondern könnte auf eine Verkürzung unseres zumeist ins Räumliche hin entworfenen, eben auf Bewegungsfreiheit fokussierten Freiheitsbegriff aufmerksam machen.
Die Autorin möchte den Freiheitsbegriff von solchen mit der Möglichkeit zum permanenten Ortswechsel verknüpften Vorstellungswelten entlasten, ihn aufs Zeitliche hin wenden und einsichtig machen, weshalb zukünftig auf "das Bleiben-Wollen" als "Maß der Freiheit" gesetzt werden müsse. Was mit dieser Verzeitlichung im Gegensatz zur Unbegrenztheit des Raumes anders in den Blick falle, sei die unverrückbare Grenze des menschlichen Todes. Eher beiläufig wird diese doch zentrale systematische Differenz erwähnt: Begrenzung wirkt befreiend, ermöglicht eine Haltung zur eigenen Lebenszeit, die das gegenwärtige Hier und Jetzt überhaupt erst als Möglichkeitsraum sinnhafter Erfahrung anerkennt. Damit die eigene Lebenszeit nicht zur monotonen Fortdauer gerate, setzt Redecker auf eine Idee Hannah Arendts, beschreibt "erfüllte Zeit" als "Zeit, die von Neuanfängen gekennzeichnet" sei und schätzt eine Naturerfahrung, die die Eingebundenheit des Menschen in eine ihm äußerliche, Routine- und Regelhaftigkeit versprechende Zeitstruktur verbürge.
Konsequent schwört sie damit jeder Transzendenz ab, will die "Bleibefreiheit" ganz diesseitig verstanden wissen. Denn nicht erst der spätmodernde, in die Rhythmen kapitalistischer Betriebsamkeit eingespannte Mensch der Gegenwart sucht nach Ausflüchten aus der prekären Situation endlicher Zeitverfügung. Redecker erinnert an Platons Sokrates, der die Bedingungen der eigenen Existenz verleugne, indem er dem bevorstehenden Abschied von seinen philosophischen Freunden kurz vor seinem Tod im Vertrauen auf die Unsterblichkeit der Seele unberührt entgegenblicke. So eine Geringschätzung irdischer Existenz ist mit ihrer Konzeption hingegen nicht zu haben: "Das Bleibeindividuum muss den Tod wahrhaben."
Doch der Text dient nicht nur der Vergegenwärtigung solcher existenzieller Grenzerfahrungen, sondern speist sich aus genuin politischen Verfallserscheinungen der vergangenen Jahre, die auch an der Verwendung des Freiheitsbegriffs nachzuvollziehen sind. Maskenpflicht, Tempolimit, Sprachpolitiken - jede Form kollektiver Selbstbegrenzung werde hier als Einschränkung der eigenen Willkürsphäre erfahren und mit eben dem Verweis auf Freiheit abgetan.
Um dennoch dem Eindruck zu entgehen, die Stoßrichtung des Aufrufs ergäbe sich aus der bloß subjektiven Phantasie einer vom Reisedruck entlasteten Akademikerin, sucht Redecker nach Absicherung in Forderungen gegenwärtiger sozialer Bewegungen, die in gleicher Weise vom Wunsch des Bleibens angetrieben gegen Umweltzerstörung oder Gentrifizierung protestieren und sich damit als politisches Subjekt der Bleibefreiheit andienen.
Von der Seite her verstanden, erscheint das Plädoyer für die Freiheit zum Bleiben nicht mehr ganz so abwegig und behelfsmäßig wie es der etwas artifiziell wirkende Neologismus der titelbildenden "Bleibefreiheit" nahezulegen scheint. Und das Anliegen, sich auf die Suche nach einem Freiheitsbegriff zu begeben, der die im Aufkommen der ökologischen Krise zwangsläufig eintretenden Veränderungen eingeübter Lebensformen nicht rein negativ als Zwang, Verlust oder Verzicht bestimmt, kann zweifelsohne Aktualität für sich beanspruchen.
Dennoch verlieren sich die Ausführungen häufig in persönlichen Erlebnissen, Anekdoten und Begegnungen. Diese sind für sich genommen durchaus interessant, stehen der Entfaltung eines in sich zusammenhängenden Gedankens teilweise jedoch eher im Weg. Stärker noch provoziert der Text jedoch einen anderen Eindruck: So strategisch einleuchtend es vor dem Hintergrund der treffend beschriebenen, eben weltvergessenen Freiheitsrhetorik der Gegenwart ist, auf Abhängigkeiten von seinen Mitmenschen, Begrenzungen durch die eigene Endlichkeit und Verbundenheiten mit der äußeren Natur zu verweisen, durchweht das Vorhaben an vielen Stellen ein defaitistischer, resignativer Zug.
Anders als Redecker, die im Wunsch nach Orts- und Erdentfernung vor allem schrankenlose Aneignungsphantasmen walten sieht, bejubelte Emmanuel Levinas 1961 den erstmaligen Aufbruch des sowjetischen Kosmonauten Juri Alexejewitsch Gagarin in den Weltall als Chance, "dem Aberglauben des Ortes" zu entgehen: "Aber was vielleicht mehr als alles andere zählt, ist der Umstand, den Ort verlassen zu haben. Eine Stunde lang hat ein Mensch außerhalb jedes Horizonts existiert - alles um ihn herum war Himmel, oder genauer gesagt, alles war geometrischer Raum. Ein Mensch existierte im Absoluten des homogenen Raumes." Aber vielleicht ist das sechzig Jahre später wirklich nur noch schwer zu halten. TOBIAS SCHWEITZER
Eva von Redecker: "Bleibefreiheit".
S. Fischer Verlag, Frankfurt am Main, 2023. 160 S., geb., 22,- Euro.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Mit "Bleibefreiheit" ist von Redecker ein Wurf gelungen, der eine Reihe theoretischer und praktischer philosophischer Fragen im Brennpunkt einer fundierten aktuellen Zeitkritik zusammenführt Reinhard Margreiter Philosophischer Literaturanzeiger 20240109
Die hier rezensierende Philosophin Olivia Mitscherlich-Schönherr schätzt ihre Kollegin Eva von Redecker und versteht sehr gut deren Aufbegehren gegen eine ideologische Verengung der Freiheit, wie sie etwa die AfD während der Pandemie oder die FDP auf den Autobahnen befeuert. Auch dass sie der Linken wieder zu einem emanzipatorischen Freiheitsbegriff verhelfen möchte, findet Mitscherlich-Schönherr richtig. Dennoch ist sie nicht überzeugt von Redeckers Dichotomie, die das traditionelle europäische Freiheitsdenken als räumlich charakterisiert, während es ein zeitliches bräuchte. Historisch, aber auch kategorisch findet Mitscherlich-Schönherr diese Gegenüberstellung zweifelhaft, "Die Freiheit, auch künftig auf Erden zu bleiben", die Redecker in einem eher konservativ-bewahrenden Duktus postuliert, können auch zerstörerische Lebensformen für sich in Anspruch nehmen, gibt die Rezensentin zu bedenken und bringt dagegen "die Freiheit erfüllter Gegenwart" ins Spiel.
© Perlentaucher Medien GmbH
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