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Erscheint vorauss. 29. Januar 2025
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Ein radikal neuer Freiheitsbegriff von einer leidenschaftlichen Stimme der Gegenwartsphilosophie
Selten wurde Freiheit so intensiv diskutiert wie in der Pandemie: die Freiheit zu reisen, sich uneingeschränkt zu bewegen, Menschen dort zu treffen, wo man möchte. Doch wie zukunftsfähig ist ein derart räumlich abgesteckter Freiheitsbegriff, da wir Zeiten entgegensehen, in denen die Orte schwinden, an denen es sich leben lässt und Klimakrise oder Kriege ganze Landstriche unbewohnbar machen? Die Philosophin Eva von Redecker denkt Freiheit darum ganz neu: als die Freiheit, an einem Ort zu leben,…mehr

Produktbeschreibung
Ein radikal neuer Freiheitsbegriff von einer leidenschaftlichen Stimme der Gegenwartsphilosophie

Selten wurde Freiheit so intensiv diskutiert wie in der Pandemie: die Freiheit zu reisen, sich uneingeschränkt zu bewegen, Menschen dort zu treffen, wo man möchte. Doch wie zukunftsfähig ist ein derart räumlich abgesteckter Freiheitsbegriff, da wir Zeiten entgegensehen, in denen die Orte schwinden, an denen es sich leben lässt und Klimakrise oder Kriege ganze Landstriche unbewohnbar machen? Die Philosophin Eva von Redecker denkt Freiheit darum ganz neu: als die Freiheit, an einem Ort zu leben, an dem wir bleiben könnten. Bleibefreiheit entfaltet sich zeitlich. Als auch künftig lebbare Freiheit rückt sie nicht nur die Erhaltung unserer Lebensgrundlagen in den Blick, sie verringert auch den Abstand zwischen dem Freisein Einzelner und ihrer Gemeinschaft. Bleibefreiheit lässt sich nur gemeinsam herstellen. Und sie wächst, wenn wir sie teilen.
Autorenporträt
Eva von Redecker, geboren 1982, ist Philosophin und freie Autorin. Von 2009 bis 2019 war sie wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Humboldt-Universität und als Gastwissenschaftlerin an der Cambridge University sowie der New School for Social Research in New York tätig. 2020/2021 hatte sie ein Marie-Sk¿odowska-Curie-Stipendiatium an der Universität von Verona inne, wo sie zur Geschichte des Eigentums forschte. Eva von Redecker beschäftigt sich mit Kritischer Theorie, Feminismus und Kapitalismuskritik, schreibt Beiträge für u.a. 'Die ZEIT' und ist regelmäßig in Rundfunk- und TV-Interviews zu hören. Seit Herbst 2022 richtet sie am Schauspiel Köln die philosophische Gesprächsreihe 'Eva and the Apple' aus. Bei S. FISCHER erschien zuletzt ihr Buch 'Revolution für das Leben. Philosophie der neuen Protestformen' (2020) sowie ein Vorwort zur Jubiläumsausgabe der 'Dialektik der Aufklärung'. Aufgewachsen auf einem Biohof, lebt sie heute im ländlichen Brandenburg.
Rezensionen
Mit "Bleibefreiheit" ist von Redecker ein Wurf gelungen, der eine Reihe theoretischer und praktischer philosophischer Fragen im Brennpunkt einer fundierten aktuellen Zeitkritik zusammenführt Reinhard Margreiter Philosophischer Literaturanzeiger 20240109

Perlentaucher-Notiz zur 9punkt-Rezension

Es gibt eine Erstarken der politischen Ränder, jedoch keine generelle Polarisierung der Gesellschaft, erklären die Soziologen Steffen Mau und Thomas Lux im Tagesspiegel-Gespräch mit Hans Monath. Trotzdem gibt es in der Gesellschaft bestimmte "Triggerpunkte": "Das sind Sollbruchstellen der öffentlichen Debatte, bei denen sachliche Diskussionen in emotionale umschlagen und sich die Menschen anders positionieren, als sie es zuvor getan haben", führt Mau aus. "Viele Menschen haben aus unterschiedlichen Gründen Vorbehalte gegen Gendersternchen, befürworten in ihrer großen Mehrheit aber die Gleichberechtigung und gleiche Bezahlung von Frauen und Männer. Ein Triggerpunkt, also Auslöser von politischer Emotionalisierung, sind in diesem Zusammenhang etwa Verhaltensvorschriften. Wenn bestimmte Akteure sagen, du musst dich grundsätzlich verändern, in der Art, wie du sprichst, und das auch in deinem privaten Raum, dann provoziert das Reaktanz, also Abwehr, und viele sagen: Das mache ich jetzt nicht mehr mit."

© Perlentaucher Medien GmbH

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 02.08.2023

Auf der Suche nach der erfüllten Zeit
Lob der Begrenzung: Eva von Redecker hält ein Plädoyer für die Freiheit, an einem Ort zu bleiben.

Wir bleiben zuhause" war eine der Durchhalte- und Motivationsparolen, die während der Corona-Lockdowns im städtischen Raum auf Litfaßsäulen plakatiert und in den sozialen Medien auf Bildkacheln geteilt wurden, um sich der weiterhin andauernden Rücksichtnahme im Modus geteilter Distanz zu versichern. Folgt man Eva von Redeckers jüngst veröffentlichtem Essay sollte diese von vielen als Freiheitseinschränkung erfahrene Periode häuslichen Rückzugs nicht ganz so schnell wieder dem kollektiven Vergessen anheimfallen, sondern könnte auf eine Verkürzung unseres zumeist ins Räumliche hin entworfenen, eben auf Bewegungsfreiheit fokussierten Freiheitsbegriff aufmerksam machen.

Die Autorin möchte den Freiheitsbegriff von solchen mit der Möglichkeit zum permanenten Ortswechsel verknüpften Vorstellungswelten entlasten, ihn aufs Zeitliche hin wenden und einsichtig machen, weshalb zukünftig auf "das Bleiben-Wollen" als "Maß der Freiheit" gesetzt werden müsse. Was mit dieser Verzeitlichung im Gegensatz zur Unbegrenztheit des Raumes anders in den Blick falle, sei die unverrückbare Grenze des menschlichen Todes. Eher beiläufig wird diese doch zentrale systematische Differenz erwähnt: Begrenzung wirkt befreiend, ermöglicht eine Haltung zur eigenen Lebenszeit, die das gegenwärtige Hier und Jetzt überhaupt erst als Möglichkeitsraum sinnhafter Erfahrung anerkennt. Damit die eigene Lebenszeit nicht zur monotonen Fortdauer gerate, setzt Redecker auf eine Idee Hannah Arendts, beschreibt "erfüllte Zeit" als "Zeit, die von Neuanfängen gekennzeichnet" sei und schätzt eine Naturerfahrung, die die Eingebundenheit des Menschen in eine ihm äußerliche, Routine- und Regelhaftigkeit versprechende Zeitstruktur verbürge.

Konsequent schwört sie damit jeder Transzendenz ab, will die "Bleibefreiheit" ganz diesseitig verstanden wissen. Denn nicht erst der spätmodernde, in die Rhythmen kapitalistischer Betriebsamkeit eingespannte Mensch der Gegenwart sucht nach Ausflüchten aus der prekären Situation endlicher Zeitverfügung. Redecker erinnert an Platons Sokrates, der die Bedingungen der eigenen Existenz verleugne, indem er dem bevorstehenden Abschied von seinen philosophischen Freunden kurz vor seinem Tod im Vertrauen auf die Unsterblichkeit der Seele unberührt entgegenblicke. So eine Geringschätzung irdischer Existenz ist mit ihrer Konzeption hingegen nicht zu haben: "Das Bleibeindividuum muss den Tod wahrhaben."

Doch der Text dient nicht nur der Vergegenwärtigung solcher existenzieller Grenzerfahrungen, sondern speist sich aus genuin politischen Verfallserscheinungen der vergangenen Jahre, die auch an der Verwendung des Freiheitsbegriffs nachzuvollziehen sind. Maskenpflicht, Tempolimit, Sprachpolitiken - jede Form kollektiver Selbstbegrenzung werde hier als Einschränkung der eigenen Willkürsphäre erfahren und mit eben dem Verweis auf Freiheit abgetan.

Um dennoch dem Eindruck zu entgehen, die Stoßrichtung des Aufrufs ergäbe sich aus der bloß subjektiven Phantasie einer vom Reisedruck entlasteten Akademikerin, sucht Redecker nach Absicherung in Forderungen gegenwärtiger sozialer Bewegungen, die in gleicher Weise vom Wunsch des Bleibens angetrieben gegen Umweltzerstörung oder Gentrifizierung protestieren und sich damit als politisches Subjekt der Bleibefreiheit andienen.

Von der Seite her verstanden, erscheint das Plädoyer für die Freiheit zum Bleiben nicht mehr ganz so abwegig und behelfsmäßig wie es der etwas artifiziell wirkende Neologismus der titelbildenden "Bleibefreiheit" nahezulegen scheint. Und das Anliegen, sich auf die Suche nach einem Freiheitsbegriff zu begeben, der die im Aufkommen der ökologischen Krise zwangsläufig eintretenden Veränderungen eingeübter Lebensformen nicht rein negativ als Zwang, Verlust oder Verzicht bestimmt, kann zweifelsohne Aktualität für sich beanspruchen.

Dennoch verlieren sich die Ausführungen häufig in persönlichen Erlebnissen, Anekdoten und Begegnungen. Diese sind für sich genommen durchaus interessant, stehen der Entfaltung eines in sich zusammenhängenden Gedankens teilweise jedoch eher im Weg. Stärker noch provoziert der Text jedoch einen anderen Eindruck: So strategisch einleuchtend es vor dem Hintergrund der treffend beschriebenen, eben weltvergessenen Freiheitsrhetorik der Gegenwart ist, auf Abhängigkeiten von seinen Mitmenschen, Begrenzungen durch die eigene Endlichkeit und Verbundenheiten mit der äußeren Natur zu verweisen, durchweht das Vorhaben an vielen Stellen ein defaitistischer, resignativer Zug.

Anders als Redecker, die im Wunsch nach Orts- und Erdentfernung vor allem schrankenlose Aneignungsphantasmen walten sieht, bejubelte Emmanuel Levinas 1961 den erstmaligen Aufbruch des sowjetischen Kosmonauten Juri Alexejewitsch Gagarin in den Weltall als Chance, "dem Aberglauben des Ortes" zu entgehen: "Aber was vielleicht mehr als alles andere zählt, ist der Umstand, den Ort verlassen zu haben. Eine Stunde lang hat ein Mensch außerhalb jedes Horizonts existiert - alles um ihn herum war Himmel, oder genauer gesagt, alles war geometrischer Raum. Ein Mensch existierte im Absoluten des homogenen Raumes." Aber vielleicht ist das sechzig Jahre später wirklich nur noch schwer zu halten. TOBIAS SCHWEITZER

Eva von Redecker: "Bleibefreiheit".

S. Fischer Verlag, Frankfurt am Main, 2023. 160 S., geb., 22,- Euro.

Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
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Süddeutsche Zeitung - Rezension
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 29.08.2023

Mit den Schwalben tanzen
Nicht fliehen müssen, an einem Ort bleiben können, das ist Freiheit, schreibt die Philosophin Eva von Redecker.
Wie scharf die Ablehnung ihrer Gedanken ausfällt, ist bezeichnend für die politische Kultur unserer Tage
VON JENS-CHRISTIAN RABE
Der politische Begriff der „Freiheit“ hat gerade eine erstaunliche ideologische Wanderung hinter sich. Gegenüber den diktatorischen Regimen des 20. Jahrhunderts war Freiheit einst eine glasklar (links-)liberale, antiautokratische Forderung. Freiheit als Befreiung der Unterdrückten von ihren gewaltsamen Unterdrückern. Ganz einfach. Stark zugespitzte politische Konflikte haben allerdings den Nachteil, unerbittlich geführt werden zu müssen. Sie lassen keinen Raum für Kompromisse. Jedes Zugeständnis an die Gegenseite wird nicht als Weg zu einer notwendigen gütlichen Einigung gesehen, sondern bloß als Schwäche und damit Gefahr für den Sieg. Dabei entstehen umgekehrt trügerisch eindeutige, jeder und jedem einleuchtende Alternativen: Freiheit oder Zwang. „Freiheit statt Sozialismus“. Choose your fighter.
In der liberalen Demokratie, die sich nach 1945 in Westdeutschland und nach 1990 in Ostdeutschland entwickelte, hat die Idee ungleich mehr Schattierungen. Die Koordination von liberal-demokratisch organisierten Kollektiven, in denen es Gewaltenteilung gibt, sind ewig mit dem Ausbalancieren von Gerechtigkeit, Gleichheit, Sicherheit und Freiheit beschäftigt. Mit der delikaten Pointe, dass jeder und jede, der oder die weder den Wert noch die Unausweichlichkeit dieses Ausbalancierens (als Kernmerkmal alles Liberal-demokratischen) erkennen kann, selbst ständig sehr, sehr unzufrieden ist.
Hier könnte man nun umgehend zu einer Erörterung der Gründe für den Höhenflug der AfD überleiten, deren zentraler Trick tatsächlich ist, politische Diskussionen nicht nur zuzuspitzen, sondern maximal eingängige Zweiteilungen erzwingen zu wollen: Europa – ja oder nein. Einwanderung – ja oder nein. Grundgesetz – ja oder nein. Zur AfD-Debatte wird jetzt aber nicht abgebogen, weil darin das Problem der Freiheit gleichermaßen vereinfacht wird. Dieses Problem betrifft aber auch einen erheblichen Teil der 80 bis 85 Prozent der Wählerinnen und Wähler im Land, die die AfD nicht wählen. Für die ist die aktuelle Kontroverse um den vor Kurzem erschienenen Essay „Bleibefreiheit“ der 41-jährigen Philosophin Eva von Redecker viel interessanter.
Ausgehend von der Überlegung darüber, wie empfindlich gerade eben erst die Pandemie unsere Möglichkeit, uns frei zu bewegen, eingeschränkt hat und wie die drastischen Folgen des Klimawandels neue Grenzen ziehen und in nächster Zukunft weiter ziehen werden, schlägt Redecker vor, die Freiheit künftig weniger als eine zur unbeschränkten Bewegung zu denken – sondern eher als „Bleibefreiheit“. Also als die Freiheit, nicht fliehen zu müssen, sondern eben bleiben zu dürfen: „Können wir auf diesem Planeten leben, ohne in ständigem Terror nur mühsam seinen Katastrophen entgegenzuarbeiten, können wir hier so bleiben, dass wir auch frei bleiben, dass wir Zeit im Überfluss genießen, dass wir hinaufschauen können in einen Himmel, in dem Schwalben tanzen?“
Für all jene, die mit Sorge um die Menschheit auf die ungewöhnliche Vielzahl von Umweltkatastrophen blicken und sich mit der Forschung und den Prognosen von Klimawissenschaftlern auseinandersetzen, hat ein solcher Freiheitsbegriff eine hohe Plausibilität. Der Gedanke bekam entsprechend viel Beifall.
Man kann als unverhohlen links-progressive Denkerin heute aber nicht am Freiheitsbegriff herumfieseln, ohne herben Widerspruch zu kassieren. Redecker sieht sich als Kapitalismuskritikerin in der Tradition der Kritischen Theorie, bekannt wurde sie vor drei Jahren mit dem Buch „Revolution für das Leben. Philosophie der neuen Protestformen“. Ihre Umwidmung von (Bewegungs-)Freiheit in Bleibefreiheit klingt nun in den Ohren ihrer Gegner wie ein Taschenspielertrick. Besonders auf die Palme bringt die Kritiker ihr Wort „Phantombesitz“. Angesichts der äußeren Bedrohungen des Lebens ist für Redecker längst auch Besitz ein Trugbild, eine falsche Gewissheit. Dagegen wehrt sich der überzeugte, in seine Eigenverantwortung vernarrte liberale bis libertäre Individualist, dem das Eigentum als Urgarantie der Selbstsorge sakrosankt ist.
In einem exemplarischen – und auf Twitter/X entsprechend vielfach gefeierten – Verriss warf etwa Ijoma Mangold in der Zeit Redecker vor, sie produziere „Naturkitsch“ und rede einem „totalitären Biedermeier“ das Wort. Die Feuilleton-Variante des beliebten „Ökodiktatur“-Vorwurfs gegen alle, die nicht mehr mit der Untätigkeit der Politik leben wollen angesichts verheerender Prognosen und Ereignisse. Gegen die, die nicht an die Verheißungen des „grünen Wachstums“ glauben können, die ihrerseits ja auch ordentliches Kitschpotenzial haben, wenn man sie nicht bloß diskursiv aufruft, sondern sich mit ihnen auseinandersetzt.
Tatsächlich gibt es in „Bleibefreiheit“ einen emphatischen Bezug auf die Natur. Den als Sentimentalität abzustempeln, heißt allerdings, ein einfaches, aber ziemlich schwer zu widerlegendes und genau besehen gar nicht triviales Argument nicht anzuerkennen, das sich in der Frage verbirgt: „Hängt unsere Freiheit nicht vom Fortbestand der lebendigen Welt ab?“ In dem Zusammenhang, wie es die Bauerntochter Redecker im Buch tut, genauer über Boden, Gezeiten und natürliche Regeneration nachzudenken, ist nur konsequent.
Schwerer noch wiegt der Biedermeier-Vorwurf (auch wenn das Attribut „totalitär“ hier einen heute für viele Diskussionen typischen rhetorischen Überschuss hat). Der Idee der Bleibefreiheit hängt mit dem Bleiben zweifellos etwas Provinzielles an, das nicht zu übersehen ist. Allerdings drehen sich zentrale Teile des Buchs genau um dieses Problem der Idee. Das zu missachten, heißt, zu übersehen, in welche Richtung sich Eva von Redeckers Argument bewegt: Es geht nicht darum, jemandem aus Spaß seine Lieblingsspielzeuge wegzunehmen.
Die entscheidende Pointe von „Bleibefreiheit“ ist vielmehr die: Wenn man von einem räumlichen auf ein zeitliches Freiheitsverständnis umstellt, ist der Kampf um die Ressource Freiheit kein kompetitives Nullsummenspiel mehr, bei dem mehr Freiheit des einen schnell weniger Freiheit des anderen bedeuten kann. Die Freiheit, über die eigene Zeit zu verfügen, kann vielmehr durch alle für alle vermehrt werden. Man mag das für einen optimistischen Wunsch halten. Aber es ist ein origineller und plausibler Dreh in einer festgefahrenen Diskussion. Dieses optimistische Moment braucht Redecker, um einen gewissen Schwung für ein normativ zweifellos anspruchsvolles Projekt zu erzeugen: Mit der italienischen Philosophin Luise Muraro geht es ihr um nicht weniger als ein neues Welt- und Selbstverständnis des Menschen. Dessen Ausgangspunkt soll der Gedanke sein, dass „die Quelle unserer Freiheit außerhalb unserer selbst liegt“. Der Mittelpunkt des Denkens ist hier also nicht das souveräne Individuum. Für den Liberalen bis Libertären, der sich den Gründen für diese Überlegungen verweigert und sofort Bevormundung wittert, ist das die maximale Provokation.
Es geht hier aber – wenn man das Argument Redeckers einmal so stark wie möglich macht – nicht ideologisch gegen das „Individuum“. Sondern darum, den Einzelnen mit seiner Umgebung zu versöhnen, um seine Freiheit zu retten: „Unser aller Freiheit“, so Redecker, stehe und falle damit, „wie gut wir uns in den Gezeiten einrichten, inwieweit sie sich weiterhin und immer wieder und reicher und besser regenerieren können“. Angesichts der täglichen Bilder, die im Sommer 2023 von tödlichen Naturkatastrophen um die Welt gehen, erscheint das fast zu zahm gedacht.
Die Debatte um den Begriff der „Bleibefreiheit“ spielt sich vor dem Hintergrund der idealtypischen Unterscheidung von „positiver Freiheit“ und „negativer Freiheit“ ab. Darüber hat der erzliberale britische Sozialphilosoph Isaiah Berlin den kanonischen Text „Zwei Freiheitsbegriffe“ geschrieben, der aus seiner 1958 gehaltenen Antrittsvorlesung an der Universität Oxford hervorging. Auf Isaiah Berlin wird gern verwiesen, insbesondere von den Freunden der negativen Freiheit, also der Freiheit, mit Bevormundung in Ruhe gelassen zu werden, unbehelligt zu bleiben, die individuelle Freiheit von Zwängen aller Art. Diese Vereinnahmung wird der skrupulösen Differenziertheit des Textes nicht gerecht.
Berlin schreibt – der Kalte Krieg läuft auf Hochtouren – als Antikommunist, ein „Pluralismus mit jenem Maß an ,negativer‘ Freiheit, das er mit sich bringt“, ist ihm das „wahrhaftigere und humanere Ideal“. Aber er lässt nicht den geringsten Zweifel daran, dass die Freiheit des Individuums nicht der „einzige oder auch nur vorrangige Maßstab gesellschaftlichen Handelns“ sei. Das „Ausmaß der Freiheit eines Menschen oder eines Volkes, so zu leben, wie sie leben wollen“, müsse gegen viele andere Werte abgewogen werden, „unter denen Gleichheit, Gerechtigkeit, Glück, Sicherheit, öffentliche Ordnung“ die naheliegendsten seien.
Klar, „Bleibefreiheit“ ist ein unbequemes, linkes Buch, und man muss gar nicht mal libertär oder konservativ sein, um sich von bestimmten utopistisch-fürsorglichen Passagen herausgefordert zu fühlen. Die Tatsache etwa, dass bei Eva von Redecker letztlich Einschränkung als Freiheit empfunden werden soll, bleibt ein Problem. Es steht jedoch in der Tradition eines politischen Denkens, zu der aus guten Gründen auch erzliberale Denker wie Isaiah Berlin gehören. Zudem macht Redecker keine hohlen Basta-Ansagen, für die man ihre Grundannahmen und Präferenzen vorher schon unterschrieben haben muss. Sie argumentiert und begründet. Und das macht möglich, klarer zu sehen, was auf der Strecke bleibt, wenn in der liberalen Demokratie Freiheit zum politischen Kampfbegriff wird: ein umfassender Blick darauf, der in polarisierten Zeiten nötiger ist denn je.
Besonders auf die Palme
bringt ihre Gegner der Begriff
„Phantombesitz“
Die Freiheit, über die eigene
Zeit zu verfügen, kann durch alle
für alle vermehrt werden
„Unser aller Freiheit“, schreibt die Philosophin Eva von Redecker, steht und fällt damit, „wie gut wir uns in den Gezeiten einrichten, inwieweit sie sich weiterhin und immer wieder und reicher und besser regenerieren können“.
Foto: Sophie Brand/S. Fischer
Eva von Redecker:
Bleibefreiheit.
S. Fischer,
Frankfurt 2023.
147 Seiten, 22 Euro.
DIZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.sz-content.de
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Die hier rezensierende Philosophin Olivia Mitscherlich-Schönherr schätzt ihre Kollegin Eva von Redecker und versteht sehr gut deren Aufbegehren gegen eine ideologische Verengung der Freiheit, wie sie etwa die AfD während der Pandemie oder die FDP auf den Autobahnen befeuert. Auch dass sie der Linken wieder zu einem emanzipatorischen Freiheitsbegriff verhelfen möchte, findet Mitscherlich-Schönherr richtig. Dennoch ist sie nicht überzeugt von Redeckers Dichotomie, die das traditionelle europäische Freiheitsdenken als räumlich charakterisiert, während es ein zeitliches bräuchte. Historisch, aber auch kategorisch findet Mitscherlich-Schönherr diese Gegenüberstellung zweifelhaft, "Die Freiheit, auch künftig auf Erden zu bleiben", die Redecker in einem eher konservativ-bewahrenden Duktus postuliert, können auch zerstörerische Lebensformen für sich in Anspruch nehmen, gibt die Rezensentin zu bedenken und bringt dagegen "die Freiheit erfüllter Gegenwart" ins Spiel.

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