Blende 89 ist ein poetisches und politisches "Tagebuch". Es beginnt am dritten Oktober 1989 und endet ein Jahr später. Der junge, hochbegabte, aber ausgegrenzte Autor Christian Heckel wird im Oktober ´89 von der vorrevolutionären Stimmung in Leipzig erfasst. Er fühlt den Puls der Zeit, die nach jahrzehntelang verordnetem Stillstand zu rasen beginnt. Er findet sich auf der Straße wieder, mitten im aufziehenden revolutionären Herbststurm. Die allgemeine Stagnation beginnt langsam aufzubrechen. Das Volk entledigt sich seines Maulkorbs. Die letzte Option des sterbenden Staates, die der nackten Gewalt, weicht dem befreienden Glücksgefühl. Blende 89 ist weit mehr als die Chronik eines Glücksfalles der Geschichte. Es ist das einmalige Notat eines autonomen Geistes in der untergehenden DDR-Diktatur.
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Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 30.01.2006Schreibt mir keinen Trost
Die verschwiegene Bibliothek, eine unterdrückte Sicht der DDR: Bücher von Edeltraud Eckert und Radjo Monk
Radjo Monk bringt es auf den Punkt. Den Gegnern der Leipziger Montagsdemonstration hält er in seinem dokumentarischen Tagebuch von 1989 entgegen: „Ich behaupte, wer die Straße als Ort der Artikulation verpönt oder gar blockiert, der will den Prozess der gesellschaftlichen Reife stoppen, der setzt Kontrolle über Vertrauen, der hat Angst vor selbständigem Denken, der liebäugelt letztlich mit der Macht, mit der potenziellen Gewalttätigkeit.” Gleiches lässt sich vom Umgang der SED-Diktatur mit regimekritischer Literatur festhalten, dem vielleicht ausdrucksstärksten „Ort der Artikulation”. Ihn haben die Mächtigen der DDR größtenteils zugeschüttet und mit den Barrikaden der Zensur vor der Öffentlichkeit abgeschirmt.
Weite Teile dieses Ortes werden nun freigelegt. Die Schriftsteller Ines Geipel und Joachim Walther haben in den Jahren 2001 bis 2004 etwa vierzigtausend Manuskriptseiten von Autoren gesammelt, deren Texte zu DDR-Zeiten nicht erscheinen durften. Zugänglich sind sie im „Archiv unterdrückter Literatur in der DDR”, das im Jahr 2005 an die „Stiftung zur Aufarbeitung der SED-Diktatur” übergeben wurde. Außerdem wird mit einer auf zwanzig Bände angelegten Publikationsreihe „Die verschwiegene Bibliothek” einigen der Schriftstücke zuteil, was ihnen die ideologische Kulturpolitik verwehrt hat: Sie werden gedruckt. Edeltraud Eckerts Gedicht- und Briefsammlung „Jahr ohne Frühling” und Radjo Monks Tagebuch „Blende 89” stecken die zeitlichen Eckpunkte der DDR ab, von ihren Gründungsjahren bis zur friedlichen Revolution 1989.
Edeltraud Eckert verfasste die meisten Gedichte und die Briefe an ihre Familie hinter den Mauern der Strafvollzugsanstalt Waldheim. Dort wurde sie 1950 weggesperrt, gerade mal zwanzig Jahre alt. Auf Flugblättern hatte sie gemeinsam mit einer Gruppe junger Studenten die Freilassung politischer Gefangener gefordert und war deshalb zu 25 Jahren Haft verurteilt worden. Daran muss ein junger Mensch eigentlich zugrunde gehen. Aber Edeltraud Eckert will sich nicht zerbrechen lassen. In ihren Zeilen spricht sie sich immer wieder Mut zu und neben aller Schwere spricht aus ihren Zeilen auch immer wieder die Hoffnung auf ein Leben in Freiheit.
Vor allem die monatlichen Botschaften an die Angehörigen werden so zum Appell, im Elternhaus möglichst den Alltag fortzuführen. Und damit der Gefangenen die ihr verschlossene Welt als Möglichkeit weiterhin offen zu halten: „Ich spüre eure Gedanken, und alles wird mir nur schwer. Schreibt mir keinen Trost, sondern alle Veränderungen zu Hause, lasst mich an eurem Leben teilnehmen.”
Distanz und Schärfe
Auch in der Lyrik, meist an ein Gegenüber und doch an die Dichterin selbst gerichtet, suchen die Worte in Tönen nach der verloren gegangenen Harmonie. Manchmal führt die Orientierung am großen Vorbild Rilke zur symbolistischen Überladung. Auch an hypersensibler Naturmetaphorik fehlt es nicht. Aber Edeltraud Eckerts ironielose und ehrliche Poesie legt damit auch die tiefe Traurigkeit der jungen Frau offen. In einem Gedicht von 1953 heißt es: „Du bist nicht ganz verlassen, / Wenn du dich selbst nicht fallen lässt, / Selbst von den blassen / Bildern, die du kaum empfunden, / Bleibt deinem Wesen / Immer noch ein Rest, / Der dir in deinen stillsten Stunden / Zurückruft, was du einst gewesen, / Der dich geformt, so wie du bist / Und wie ein Nachklang / Deines Lebens ist.” Edeltraud Eckerts Leben fand 1955 ein jähes Ende. Bei einem Arbeitsunfall im Gefängnis riss ihr eine Getriebewelle die Kopfhaut weg. Wenige Wochen später starb sie in der Leipziger Universitätsklinik.
In derselben Stadt begann knapp 35 Jahre später die ostdeutsche Revolution. Radjo Monk, der eigentlich Christian Heckel heißt, gibt in „Blende 89” nicht nur eine Chronik der Ereignisse. In seinen Aufzeichnungen, die vom 3. Oktober 1989 bis zum Tag der Wiedervereinigung reichen, versucht er das Geschehen des Wendejahres ästhetisch greifbar zu machen. Die Form der subjektiv gefärbten Dokumentation ist dafür die richtige, auch wenn er selbst immer wieder Zweifel formuliert. Aber so ist es dem 1959 geborenen Schriftsteller möglich, durchlebte Ängste und erlebte Hoffnungen gleichermaßen festzuhalten.
Aber Radjo Monks Sicht ist nicht die der Mehrheit, sondern die des Intellektuellen. Vielleicht liegt hier der Grund für die stets gewahrte Distanz zu den beschriebenen Mitbürgern und gleichzeitig auch für die Schärfe der verbalen Angriffe gegen die Staatsführung. Mehrmals wird sie in direkte Verbindung mit dem nationalsozialistischen Regime gebracht.
Als die Zeichen auf Wiedervereinigung stehen, als die Mehrheit im Modell „BRD” auf die Erfüllung lange versagter Konsumwünsche hofft, da tauscht Monk die Freude über den Systemsturz und die Hoffnung auf eine Solidargemeinschaft gegen die Resignation ein: „Wohlstand als Droge gegen das Denkvermögen. Eine ganz andere, viel subtilere Form der Entmündigung kommt auf uns zu, die auch auf das Schuldenkonto der SED-Abschottungspolitik geschrieben werden muss: die Desorientierung der Masse der Leute im Überangebot von Waren, die sie nicht kaufen können. So wird ein Teil der Deutschen zum zweiten Mal Verlierer eines Krieges. Wahrlich: bestraft bis ins siebte Glied.”
Einige Passagen in „Blende 89” gehen in ihren Reflexionen ähnlich weit über das geschichtliche Ende der DDR hinaus. Man kann den Text deshalb aber nicht von den Zeitumständen lösen, in denen er geschrieben wurde. Ebenso sinnlos wäre der Versuch, sich auf Edeltraud Eckerts Dichtung einzulassen oder sie gar qualitativ zu bewerten, ohne die tragischen Hintergründe ihrer Biographie zu berücksichtigen.
Befreite Texte
Die große Stärke der „verschwiegenen Bibliothek” ist es dann auch, dass sie nicht nur die Texte für sich sprechen lässt. In umfassenden Nachworten informieren die Herausgeber über die Entstehungsgeschichte der Werke und das Leben der Autoren. Erst dadurch erhalten die Schriften ihre volle Bedeutung und können als künstlerische Dokumente der Aufarbeitung von Geschichte dienlich sein.
So verschieden die Auseinandersetzung mit der Diktatur bei Edeltraud Eckert und Radjo Monk auch sein mag, beide treffen sich in diesem entscheidenden Punkt. Die Jugendlyrik einer politischen Gefangenen aus den fünfziger Jahren samt ihren Briefen und die kommentierten Betrachtungen der Umbruchszeit werden zum literarisch gesetzten Zeichen gegen Diktatur und Gewaltherrschaft. CHRISTOPH SCHMAUS
EDELTRAUD ECKERT: Jahr ohne Frühling. Gedichte und Briefe. Edition Büchergilde, Frankfurt am Main 2005. 123 Seiten, 16,90 Euro.
RADJO MONK: Blende 89. Edition Büchergilde, Frankfurt am Main 2005. 287 Seiten, 19,90 Euro.
SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Eine Dienstleistung der DIZ München GmbH
Die verschwiegene Bibliothek, eine unterdrückte Sicht der DDR: Bücher von Edeltraud Eckert und Radjo Monk
Radjo Monk bringt es auf den Punkt. Den Gegnern der Leipziger Montagsdemonstration hält er in seinem dokumentarischen Tagebuch von 1989 entgegen: „Ich behaupte, wer die Straße als Ort der Artikulation verpönt oder gar blockiert, der will den Prozess der gesellschaftlichen Reife stoppen, der setzt Kontrolle über Vertrauen, der hat Angst vor selbständigem Denken, der liebäugelt letztlich mit der Macht, mit der potenziellen Gewalttätigkeit.” Gleiches lässt sich vom Umgang der SED-Diktatur mit regimekritischer Literatur festhalten, dem vielleicht ausdrucksstärksten „Ort der Artikulation”. Ihn haben die Mächtigen der DDR größtenteils zugeschüttet und mit den Barrikaden der Zensur vor der Öffentlichkeit abgeschirmt.
Weite Teile dieses Ortes werden nun freigelegt. Die Schriftsteller Ines Geipel und Joachim Walther haben in den Jahren 2001 bis 2004 etwa vierzigtausend Manuskriptseiten von Autoren gesammelt, deren Texte zu DDR-Zeiten nicht erscheinen durften. Zugänglich sind sie im „Archiv unterdrückter Literatur in der DDR”, das im Jahr 2005 an die „Stiftung zur Aufarbeitung der SED-Diktatur” übergeben wurde. Außerdem wird mit einer auf zwanzig Bände angelegten Publikationsreihe „Die verschwiegene Bibliothek” einigen der Schriftstücke zuteil, was ihnen die ideologische Kulturpolitik verwehrt hat: Sie werden gedruckt. Edeltraud Eckerts Gedicht- und Briefsammlung „Jahr ohne Frühling” und Radjo Monks Tagebuch „Blende 89” stecken die zeitlichen Eckpunkte der DDR ab, von ihren Gründungsjahren bis zur friedlichen Revolution 1989.
Edeltraud Eckert verfasste die meisten Gedichte und die Briefe an ihre Familie hinter den Mauern der Strafvollzugsanstalt Waldheim. Dort wurde sie 1950 weggesperrt, gerade mal zwanzig Jahre alt. Auf Flugblättern hatte sie gemeinsam mit einer Gruppe junger Studenten die Freilassung politischer Gefangener gefordert und war deshalb zu 25 Jahren Haft verurteilt worden. Daran muss ein junger Mensch eigentlich zugrunde gehen. Aber Edeltraud Eckert will sich nicht zerbrechen lassen. In ihren Zeilen spricht sie sich immer wieder Mut zu und neben aller Schwere spricht aus ihren Zeilen auch immer wieder die Hoffnung auf ein Leben in Freiheit.
Vor allem die monatlichen Botschaften an die Angehörigen werden so zum Appell, im Elternhaus möglichst den Alltag fortzuführen. Und damit der Gefangenen die ihr verschlossene Welt als Möglichkeit weiterhin offen zu halten: „Ich spüre eure Gedanken, und alles wird mir nur schwer. Schreibt mir keinen Trost, sondern alle Veränderungen zu Hause, lasst mich an eurem Leben teilnehmen.”
Distanz und Schärfe
Auch in der Lyrik, meist an ein Gegenüber und doch an die Dichterin selbst gerichtet, suchen die Worte in Tönen nach der verloren gegangenen Harmonie. Manchmal führt die Orientierung am großen Vorbild Rilke zur symbolistischen Überladung. Auch an hypersensibler Naturmetaphorik fehlt es nicht. Aber Edeltraud Eckerts ironielose und ehrliche Poesie legt damit auch die tiefe Traurigkeit der jungen Frau offen. In einem Gedicht von 1953 heißt es: „Du bist nicht ganz verlassen, / Wenn du dich selbst nicht fallen lässt, / Selbst von den blassen / Bildern, die du kaum empfunden, / Bleibt deinem Wesen / Immer noch ein Rest, / Der dir in deinen stillsten Stunden / Zurückruft, was du einst gewesen, / Der dich geformt, so wie du bist / Und wie ein Nachklang / Deines Lebens ist.” Edeltraud Eckerts Leben fand 1955 ein jähes Ende. Bei einem Arbeitsunfall im Gefängnis riss ihr eine Getriebewelle die Kopfhaut weg. Wenige Wochen später starb sie in der Leipziger Universitätsklinik.
In derselben Stadt begann knapp 35 Jahre später die ostdeutsche Revolution. Radjo Monk, der eigentlich Christian Heckel heißt, gibt in „Blende 89” nicht nur eine Chronik der Ereignisse. In seinen Aufzeichnungen, die vom 3. Oktober 1989 bis zum Tag der Wiedervereinigung reichen, versucht er das Geschehen des Wendejahres ästhetisch greifbar zu machen. Die Form der subjektiv gefärbten Dokumentation ist dafür die richtige, auch wenn er selbst immer wieder Zweifel formuliert. Aber so ist es dem 1959 geborenen Schriftsteller möglich, durchlebte Ängste und erlebte Hoffnungen gleichermaßen festzuhalten.
Aber Radjo Monks Sicht ist nicht die der Mehrheit, sondern die des Intellektuellen. Vielleicht liegt hier der Grund für die stets gewahrte Distanz zu den beschriebenen Mitbürgern und gleichzeitig auch für die Schärfe der verbalen Angriffe gegen die Staatsführung. Mehrmals wird sie in direkte Verbindung mit dem nationalsozialistischen Regime gebracht.
Als die Zeichen auf Wiedervereinigung stehen, als die Mehrheit im Modell „BRD” auf die Erfüllung lange versagter Konsumwünsche hofft, da tauscht Monk die Freude über den Systemsturz und die Hoffnung auf eine Solidargemeinschaft gegen die Resignation ein: „Wohlstand als Droge gegen das Denkvermögen. Eine ganz andere, viel subtilere Form der Entmündigung kommt auf uns zu, die auch auf das Schuldenkonto der SED-Abschottungspolitik geschrieben werden muss: die Desorientierung der Masse der Leute im Überangebot von Waren, die sie nicht kaufen können. So wird ein Teil der Deutschen zum zweiten Mal Verlierer eines Krieges. Wahrlich: bestraft bis ins siebte Glied.”
Einige Passagen in „Blende 89” gehen in ihren Reflexionen ähnlich weit über das geschichtliche Ende der DDR hinaus. Man kann den Text deshalb aber nicht von den Zeitumständen lösen, in denen er geschrieben wurde. Ebenso sinnlos wäre der Versuch, sich auf Edeltraud Eckerts Dichtung einzulassen oder sie gar qualitativ zu bewerten, ohne die tragischen Hintergründe ihrer Biographie zu berücksichtigen.
Befreite Texte
Die große Stärke der „verschwiegenen Bibliothek” ist es dann auch, dass sie nicht nur die Texte für sich sprechen lässt. In umfassenden Nachworten informieren die Herausgeber über die Entstehungsgeschichte der Werke und das Leben der Autoren. Erst dadurch erhalten die Schriften ihre volle Bedeutung und können als künstlerische Dokumente der Aufarbeitung von Geschichte dienlich sein.
So verschieden die Auseinandersetzung mit der Diktatur bei Edeltraud Eckert und Radjo Monk auch sein mag, beide treffen sich in diesem entscheidenden Punkt. Die Jugendlyrik einer politischen Gefangenen aus den fünfziger Jahren samt ihren Briefen und die kommentierten Betrachtungen der Umbruchszeit werden zum literarisch gesetzten Zeichen gegen Diktatur und Gewaltherrschaft. CHRISTOPH SCHMAUS
EDELTRAUD ECKERT: Jahr ohne Frühling. Gedichte und Briefe. Edition Büchergilde, Frankfurt am Main 2005. 123 Seiten, 16,90 Euro.
RADJO MONK: Blende 89. Edition Büchergilde, Frankfurt am Main 2005. 287 Seiten, 19,90 Euro.
SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Eine Dienstleistung der DIZ München GmbH
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 19.12.2005Mit der Handkamera
Radjo Monks authentisches Tagebuch über das Wendejahr 1989
Kaum ein erwachsener Deutscher aus Ost oder West wird je vergessen, wo er sich am Abend des 9. November 1989 befand, wann er zum ersten Mal von der Öffnung der Grenzen erfuhr. Christian Heckel in Leipzig schälte gerade Zwiebeln, als Günther Schabowski kurz vor sieben Uhr in einem Fernsehinterview erklärte: "Jeder Bürger der DDR kann fahren, wohin er will." Im Unterschied zu den meisten anderen Deutschen, denen die Details der Tage, Wochen und Monate vor und nach diesem Weltereignis allmählich abhanden kommen oder durch Retrospektiven überlagert werden, verspürte Heckel den Drang und die Notwendigkeit, das Geschehen um sich herum aufzuzeichnen. Unverändert erschienen ist dieser Augenzeugenbericht von seltener Unmittelbarkeit jetzt unter Heckels Pseudonym Radjo Monk in der "Verschwiegenen Bibliothek" - einem von der Stiftung zur Aufarbeitung der SED-Diktatur geförderten Textarchiv.
Heckels Beobachtungen und Einschätzungen des jeweiligen Augenblicks sind in diesem Buch bewahrt, selbst wenn sie sich später als unzureichend oder gar unzutreffend erweisen sollten. "Tagebuch ist es nicht, Erzählung wird es nicht, Roman schon gar nicht" - was aber dann? Heckel weiß das selbst nicht so genau, reflektiert beim Schreiben aber immer wieder darüber. Schließlich handelt es sich ja um einen Text, der nicht mit Blick auf eine Publikation entstand, sondern als "selbst gestellte Aufgabe, eine Dokumentation aus subjektiver Sicht über die Vorgänge anzufertigen", ohne deshalb zur "Leichenfledderei von Tatsachen" zu verkommen. Heckels persönliche Notizen zwischen dem 3. Oktober 1989 und dem Tag der deutschen Einheit werden durch die Einbettung in seine Biographie zu einem aufschlußreichen Stück Zeitgeschichte. Es vermittelt einen Einblick in die alternative Kunstszene der DDR, in die Dynamik einer sozialen Bewegung und in verschiedene Spielarten des Protestes im schmalen halböffentlichen Raum zwischen den Staatsorganen.
Der 1959 in Sachsen geborene Heckel, der schon früh ins Visier der Staatssicherheit geriet, kannte sich in dieser Gegenkultur bestens aus. Nachdem schon 1978 Manuskripte aus seinem Schreibtisch verschwanden und er 1983 auf einer Reise nach Ungarn wegen Fluchtverdachts verhaftet wurde, verweigerte 1984 das Literaturinstitut in Leipzig dem ehemaligen Theatertechniker, der sich inzwischen mit allerlei Hilfsarbeiten durchgeschlagen hatte, die Aufnahme. Das von Spitzeln aus dem engsten Freundeskreis ermittelte Vergehen lautete: "Heckel versucht, seine Ideen frei von jedem Zwang und staatlicher Kontrolle zu verwirklichen."
Diese einst so gefürchtete geistige Autonomie bildet auch die Basis des Tagebuchs. Der Diarist richtet sein Objektiv, worauf er will, und erzeugt durch ein Spiel mit der "Blende" unterschiedliche Grade an Tiefenschärfe. So kommt es gelegentlich zu Szenen von bedrückender Intensität. Dazu gehört etwa der Abschied von einem kauzigen Phantasten, der ein paar Tage vor dem Fall der Mauer sein kleines Bündel schnürt, um in Ozeanien "die Idee des Weltsozialismus zu verbreiten". Doch er hinterläßt nur einen Haufen Müll und strandet bald als Hausmeister im Westen.
Ein anderes Beispiel ist die Reise an die tschechische Grenze am 8. November, wo Heckel mit der Fotografin Edith Tar die als Kaffeefahrten deklarierten Fluchtversuche beobachtet und seine Landsleute befragt. Dazwischen gibt es aber immer wieder Versuche des Lyrikers Heckel, Philosophie oder Poesie in diese Prosa der Verhältnisse zu mengen, die nicht recht glücken wollen, etwa so: "Die Appelle an die Besonnenheit sind schwanger von der Angst vor dem überschwappenden Sinn, dem Dammbruch der Emotionen." Dennoch sind Heckel seine kritischen Zweifel und seine Bescheidenheit zugute zu halten - so räumt er selbst Ungenauigkeiten, fehlende Zusammenhänge, sogar Trivialitäten ein. Aus einer Gebrauchsform ging das Buch hervor und wurde als ungeschliffener Rohling erhalten. Sein historischer, nicht künstlerischer Wert liegt genau in dieser ungeschönten Bilderfolge einer wackligen Handkamera, die dem Leser durchaus dienen kann, "das Gedächtnis nicht zu verlieren".
ALEXANDER KOSENINA
Radjo Monk: "Blende 89". Mit einem Nachwort von Joachim Walther. Büchergilde Gutenberg, Frankfurt am Main 2005. 287 S., geb., 19,90 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Radjo Monks authentisches Tagebuch über das Wendejahr 1989
Kaum ein erwachsener Deutscher aus Ost oder West wird je vergessen, wo er sich am Abend des 9. November 1989 befand, wann er zum ersten Mal von der Öffnung der Grenzen erfuhr. Christian Heckel in Leipzig schälte gerade Zwiebeln, als Günther Schabowski kurz vor sieben Uhr in einem Fernsehinterview erklärte: "Jeder Bürger der DDR kann fahren, wohin er will." Im Unterschied zu den meisten anderen Deutschen, denen die Details der Tage, Wochen und Monate vor und nach diesem Weltereignis allmählich abhanden kommen oder durch Retrospektiven überlagert werden, verspürte Heckel den Drang und die Notwendigkeit, das Geschehen um sich herum aufzuzeichnen. Unverändert erschienen ist dieser Augenzeugenbericht von seltener Unmittelbarkeit jetzt unter Heckels Pseudonym Radjo Monk in der "Verschwiegenen Bibliothek" - einem von der Stiftung zur Aufarbeitung der SED-Diktatur geförderten Textarchiv.
Heckels Beobachtungen und Einschätzungen des jeweiligen Augenblicks sind in diesem Buch bewahrt, selbst wenn sie sich später als unzureichend oder gar unzutreffend erweisen sollten. "Tagebuch ist es nicht, Erzählung wird es nicht, Roman schon gar nicht" - was aber dann? Heckel weiß das selbst nicht so genau, reflektiert beim Schreiben aber immer wieder darüber. Schließlich handelt es sich ja um einen Text, der nicht mit Blick auf eine Publikation entstand, sondern als "selbst gestellte Aufgabe, eine Dokumentation aus subjektiver Sicht über die Vorgänge anzufertigen", ohne deshalb zur "Leichenfledderei von Tatsachen" zu verkommen. Heckels persönliche Notizen zwischen dem 3. Oktober 1989 und dem Tag der deutschen Einheit werden durch die Einbettung in seine Biographie zu einem aufschlußreichen Stück Zeitgeschichte. Es vermittelt einen Einblick in die alternative Kunstszene der DDR, in die Dynamik einer sozialen Bewegung und in verschiedene Spielarten des Protestes im schmalen halböffentlichen Raum zwischen den Staatsorganen.
Der 1959 in Sachsen geborene Heckel, der schon früh ins Visier der Staatssicherheit geriet, kannte sich in dieser Gegenkultur bestens aus. Nachdem schon 1978 Manuskripte aus seinem Schreibtisch verschwanden und er 1983 auf einer Reise nach Ungarn wegen Fluchtverdachts verhaftet wurde, verweigerte 1984 das Literaturinstitut in Leipzig dem ehemaligen Theatertechniker, der sich inzwischen mit allerlei Hilfsarbeiten durchgeschlagen hatte, die Aufnahme. Das von Spitzeln aus dem engsten Freundeskreis ermittelte Vergehen lautete: "Heckel versucht, seine Ideen frei von jedem Zwang und staatlicher Kontrolle zu verwirklichen."
Diese einst so gefürchtete geistige Autonomie bildet auch die Basis des Tagebuchs. Der Diarist richtet sein Objektiv, worauf er will, und erzeugt durch ein Spiel mit der "Blende" unterschiedliche Grade an Tiefenschärfe. So kommt es gelegentlich zu Szenen von bedrückender Intensität. Dazu gehört etwa der Abschied von einem kauzigen Phantasten, der ein paar Tage vor dem Fall der Mauer sein kleines Bündel schnürt, um in Ozeanien "die Idee des Weltsozialismus zu verbreiten". Doch er hinterläßt nur einen Haufen Müll und strandet bald als Hausmeister im Westen.
Ein anderes Beispiel ist die Reise an die tschechische Grenze am 8. November, wo Heckel mit der Fotografin Edith Tar die als Kaffeefahrten deklarierten Fluchtversuche beobachtet und seine Landsleute befragt. Dazwischen gibt es aber immer wieder Versuche des Lyrikers Heckel, Philosophie oder Poesie in diese Prosa der Verhältnisse zu mengen, die nicht recht glücken wollen, etwa so: "Die Appelle an die Besonnenheit sind schwanger von der Angst vor dem überschwappenden Sinn, dem Dammbruch der Emotionen." Dennoch sind Heckel seine kritischen Zweifel und seine Bescheidenheit zugute zu halten - so räumt er selbst Ungenauigkeiten, fehlende Zusammenhänge, sogar Trivialitäten ein. Aus einer Gebrauchsform ging das Buch hervor und wurde als ungeschliffener Rohling erhalten. Sein historischer, nicht künstlerischer Wert liegt genau in dieser ungeschönten Bilderfolge einer wackligen Handkamera, die dem Leser durchaus dienen kann, "das Gedächtnis nicht zu verlieren".
ALEXANDER KOSENINA
Radjo Monk: "Blende 89". Mit einem Nachwort von Joachim Walther. Büchergilde Gutenberg, Frankfurt am Main 2005. 287 S., geb., 19,90 [Euro].
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Perlentaucher-Notiz zur Süddeutsche Zeitung-Rezension
Radjo Monk dokumentiert die Zeit vom 3. Oktober 1989 bis zur Wiedervereinigung und versucht sie "ästhetisch greifbar" zu machen, konstatiert Christoph Schmaus. Dass alles "subjektiv gefärbt" wiedergegeben wird, macht dem Rezensenten nicht nur nichts aus, er befürwortet diesen persönlichen Umgang mit der Geschichte sogar, da der Autor so seine ganze Gefühlspalette darlegen kann. Monk schreibe als "Intellektueller", distanziert zum Mitbürger und mit "Schärfe" gegenüber dem Regime. Ein Tipp von Schmaus: Immer die historische Umgebung im Blick behalten und ausgiebig das Nachwort nutzen. Dann nämlich können Radjo Monks Aufzeichnungen nach dem Dafürhalten des Rezensenten zu "künstlerischen Dokumenten der Aufarbeitung von Geschichte" avancieren.
© Perlentaucher Medien GmbH
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