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Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 19.12.2005

Mit der Handkamera
Radjo Monks authentisches Tagebuch über das Wendejahr 1989

Kaum ein erwachsener Deutscher aus Ost oder West wird je vergessen, wo er sich am Abend des 9. November 1989 befand, wann er zum ersten Mal von der Öffnung der Grenzen erfuhr. Christian Heckel in Leipzig schälte gerade Zwiebeln, als Günther Schabowski kurz vor sieben Uhr in einem Fernsehinterview erklärte: "Jeder Bürger der DDR kann fahren, wohin er will." Im Unterschied zu den meisten anderen Deutschen, denen die Details der Tage, Wochen und Monate vor und nach diesem Weltereignis allmählich abhanden kommen oder durch Retrospektiven überlagert werden, verspürte Heckel den Drang und die Notwendigkeit, das Geschehen um sich herum aufzuzeichnen. Unverändert erschienen ist dieser Augenzeugenbericht von seltener Unmittelbarkeit jetzt unter Heckels Pseudonym Radjo Monk in der "Verschwiegenen Bibliothek" - einem von der Stiftung zur Aufarbeitung der SED-Diktatur geförderten Textarchiv.

Heckels Beobachtungen und Einschätzungen des jeweiligen Augenblicks sind in diesem Buch bewahrt, selbst wenn sie sich später als unzureichend oder gar unzutreffend erweisen sollten. "Tagebuch ist es nicht, Erzählung wird es nicht, Roman schon gar nicht" - was aber dann? Heckel weiß das selbst nicht so genau, reflektiert beim Schreiben aber immer wieder darüber. Schließlich handelt es sich ja um einen Text, der nicht mit Blick auf eine Publikation entstand, sondern als "selbst gestellte Aufgabe, eine Dokumentation aus subjektiver Sicht über die Vorgänge anzufertigen", ohne deshalb zur "Leichenfledderei von Tatsachen" zu verkommen. Heckels persönliche Notizen zwischen dem 3. Oktober 1989 und dem Tag der deutschen Einheit werden durch die Einbettung in seine Biographie zu einem aufschlußreichen Stück Zeitgeschichte. Es vermittelt einen Einblick in die alternative Kunstszene der DDR, in die Dynamik einer sozialen Bewegung und in verschiedene Spielarten des Protestes im schmalen halböffentlichen Raum zwischen den Staatsorganen.

Der 1959 in Sachsen geborene Heckel, der schon früh ins Visier der Staatssicherheit geriet, kannte sich in dieser Gegenkultur bestens aus. Nachdem schon 1978 Manuskripte aus seinem Schreibtisch verschwanden und er 1983 auf einer Reise nach Ungarn wegen Fluchtverdachts verhaftet wurde, verweigerte 1984 das Literaturinstitut in Leipzig dem ehemaligen Theatertechniker, der sich inzwischen mit allerlei Hilfsarbeiten durchgeschlagen hatte, die Aufnahme. Das von Spitzeln aus dem engsten Freundeskreis ermittelte Vergehen lautete: "Heckel versucht, seine Ideen frei von jedem Zwang und staatlicher Kontrolle zu verwirklichen."

Diese einst so gefürchtete geistige Autonomie bildet auch die Basis des Tagebuchs. Der Diarist richtet sein Objektiv, worauf er will, und erzeugt durch ein Spiel mit der "Blende" unterschiedliche Grade an Tiefenschärfe. So kommt es gelegentlich zu Szenen von bedrückender Intensität. Dazu gehört etwa der Abschied von einem kauzigen Phantasten, der ein paar Tage vor dem Fall der Mauer sein kleines Bündel schnürt, um in Ozeanien "die Idee des Weltsozialismus zu verbreiten". Doch er hinterläßt nur einen Haufen Müll und strandet bald als Hausmeister im Westen.

Ein anderes Beispiel ist die Reise an die tschechische Grenze am 8. November, wo Heckel mit der Fotografin Edith Tar die als Kaffeefahrten deklarierten Fluchtversuche beobachtet und seine Landsleute befragt. Dazwischen gibt es aber immer wieder Versuche des Lyrikers Heckel, Philosophie oder Poesie in diese Prosa der Verhältnisse zu mengen, die nicht recht glücken wollen, etwa so: "Die Appelle an die Besonnenheit sind schwanger von der Angst vor dem überschwappenden Sinn, dem Dammbruch der Emotionen." Dennoch sind Heckel seine kritischen Zweifel und seine Bescheidenheit zugute zu halten - so räumt er selbst Ungenauigkeiten, fehlende Zusammenhänge, sogar Trivialitäten ein. Aus einer Gebrauchsform ging das Buch hervor und wurde als ungeschliffener Rohling erhalten. Sein historischer, nicht künstlerischer Wert liegt genau in dieser ungeschönten Bilderfolge einer wackligen Handkamera, die dem Leser durchaus dienen kann, "das Gedächtnis nicht zu verlieren".

ALEXANDER KOSENINA

Radjo Monk: "Blende 89". Mit einem Nachwort von Joachim Walther. Büchergilde Gutenberg, Frankfurt am Main 2005. 287 S., geb., 19,90 [Euro].

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Perlentaucher-Notiz zur Süddeutsche Zeitung-Rezension

Radjo Monk dokumentiert die Zeit vom 3. Oktober 1989 bis zur Wiedervereinigung und versucht sie "ästhetisch greifbar" zu machen, konstatiert Christoph Schmaus. Dass alles "subjektiv gefärbt" wiedergegeben wird, macht dem Rezensenten nicht nur nichts aus, er befürwortet diesen persönlichen Umgang mit der Geschichte sogar, da der Autor so seine ganze Gefühlspalette darlegen kann. Monk schreibe als "Intellektueller", distanziert zum Mitbürger und mit "Schärfe" gegenüber dem Regime. Ein Tipp von Schmaus: Immer die historische Umgebung im Blick behalten und ausgiebig das Nachwort nutzen. Dann nämlich können Radjo Monks Aufzeichnungen nach dem Dafürhalten des Rezensenten zu "künstlerischen Dokumenten der Aufarbeitung von Geschichte" avancieren.

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