Produktdetails
  • Verlag: Transit Berlin
  • Seitenzahl: 127
  • Abmessung: 240mm
  • Gewicht: 270g
  • ISBN-13: 9783887471392
  • ISBN-10: 3887471393
  • Artikelnr.: 24708016
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 06.01.2000

Staubwischen für den Frieden
Vom Winde verweht: Friedrich Lufts gesammeltes Feuilleton

Zeitungstexte werden gewöhnlich für den Tagesgebrauch geschrieben und altern rasch. Für Feuilletonisten gleicht es seit Heinrich Heine jedoch häufig einer Beleidigung, wenn ihre Produkte anschließend dazu dienen müssen, Fisch und Gemüse auf den Märkten zu umwickeln. Sie sehnen sich hartnäckig nach unverformbaren Buchdeckeln, doch nicht immer bekommt die Dauer ihren Texten gut. Der große Theaterkritiker Friedrich Luft schrieb, bevor er im RIAS zur "Stimme der Kritik" wurde, vom März 1946 bis März 1947 unter dem Pseudonym "Urbanus" Feuilletons für den "Tagesspiegel" und ließ sie 1948 - ebenfalls unter Pseudonym - zum Buch gerinnen. Jetzt sind sie zum ersten Mal unter seinem richtigen Namen erschienen und müssen sich, mit mehr als fünfzig Jahren Abstand und neun Jahre nach seinem Tod, einer echten Haltbarkeitsprüfung unterziehen.

Das Interesse des heutigen Lesers richtet sich vor allem darauf, etwas über die unmittelbare Gegenwart der Nachkriegszeit zu erfahren. Doch Friedrich Luft interessiert sich gar nicht für das Tagesgeschehen. Er ist weder politischer Beobachter noch Herumtreiber und Spurensammler, keiner, der nur deshalb durch die Straßen zieht, um Geschichten und Bilder aufzulesen. Er stellt sich vor als Räsonierer am Schreibtisch, der die alltägliche Not für Minuten zum Verschwinden bringen möchte. Das haben seine damaligen Leser vermutlich auch erwartet. Wozu über das Elend lesen, das man jeden Tag sieht? Das Bedürfnis nach Normalität war groß, und Friedrich Luft befriedigte es.

Das Metier des Feuilletonisten bestand für ihn darin, den "Finger auf Selbstverständlichkeiten zu legen" und nebenbei ein bisschen die Moral und den behäbigen Bürgersinn zu stärken. Welch ein Fortschritt, schrieb er, dass die Welt wieder Zeit hat, darüber zu diskutieren, ob Männer mit oder ohne Bart vorteilhafter aussehen. Seine Texte sind kleine Ablenkungsmanöver, freundliche Belanglosigkeiten, die lieber über den Mond und die Sommerhitze plaudern, als die Trümmerlandschaft Berlins in den Blick zu nehmen. Die Existenz der Lebensmittelkarten verschwindet im beiläufigen Nebensatz, dafür erfährt man, dass ein Bier behördlich vorgeschriebene zweiunddreißig Pfennig kostete. Erst in den Wintermonaten drängt sich der frostige Alltag unübersehbar in den Vordergrund. Die Wasserrohre frieren ein, die Kohlen sind knapp, und nächtliche Diebe graben die Kartoffeln aus dem Garten. Dass es böse Menschen gibt, hat Urbanus schon vorher vermutet. "So böse aber - das ahnte er nicht."

Glückliches Deutschland! Was für eine friedliche Zeit, in der Kartoffeldiebe den Gipfel des Bösen darstellten. Ein wenig gleicht die naive Harmlosigkeit dieser Feuilletons dem kindlichen Pfeifen im Walde: War da was? Wir haben nichts bemerkt! Weltanschauungen haben im Gefolge der schlechten Erfahrungen mit dem Nationalsozialismus keine Konjunktur: "Die Verwirrung ist groß, Ordnung nötiger denn je. Die großen Begriffe geraten immer mehr ins Schleudern." Der Krieg war zwar "blutig und grausam", doch "ohne vorerst erkennbaren Sinn". Warum also übers Politische reden? Orientierung schafft einstweilen der ungerührte Wechsel der Jahreszeiten und der Blick aus dem Fenster in die unschuldige Natur. Hier, im ewigen Gang der Dinge, ist der Mensch aufgehoben und der Feuilletonist getröstet.

Das Pseudonym "Urbanus" ist folglich weniger Programm als Tarnkappe. Was bedeutet schon Urbanität in Zeiten der Zerstörung? Luft spiegelt eine Normalität vor, die es doch nur als Sehnsucht oder als Lüge geben konnte. Er dreht Arabesken über einem Abgrund des Schweigens, und es ist diese Differenz zwischen der Banalität der gewählten Themen und dem Ungenannten, das diese Texte dann doch zu einer spannenden Lektüre macht. Sicher, ganz übersehen kann auch er die Frierenden nicht, "durch deren Backen der Wind pfeift". Hinter diesen Gestalten aber erkennt er ein Jahrhundert, das eigentlich dazu prädestiniert schien, "gelassen in der Nähe jedes fortschrittlichen Komforts" zu leben. Durch "einigen Widersinn" aber wurde es "auf eine Kulturstufe geworfen", auf der "Behaglichkeit eine fremde Vokabel geworden" ist. Also knöpft sich der Bürgersmann auf den Trümmern der Zivilisation vorsichtshalber die Strickjacke zu.

Mit einem geradezu rührenden Konservatismus wendet Luft sich gegen die Neuerungen seiner Zeit in Gestalt von verhetzten Fahrradkurieren, aufdringlichen Anrufbeantwortern, Medizinern, die Fröschen ein zweites Herz einsetzen, und allgegenwärtiger Musik. Im Lärm der Welt scheint der wahre, der einzige Terror zu bestehen. Scheinbar ungebrochen hat die konservative Kulturkritik die Katastrophe des Nationalsozialismus überdauert, so dass der "Krach freilaufender Geschäftigkeit" die "Harmonie der Sphären" übertönt. Es ist eine Art seelischer Morgenthau-Plan, den Luft propagiert und der auch sprachlich eine altväterliche Entsprechung findet. "Gestützt auf den Stab der Nachdenklichkeit", steht er in "den widrigen Winden der öffentlichen Meinung" und "projiziert jahreszeitlichen Trübsinn an die Silberwand des Feuilletons". Und oben drüber leuchtet programmgemäß der Mond als "traulicher Trabant".

Solche Formulierungen werden in ihrer Onkelhaftigkeit nur noch vom Bild der Ehe übertroffen, das in Gestalt der guten "Ella" durch die Texte geistert. Sie ist das treu sorgende Hausmütterchen, das dem lieben Urbanus das warme Rasierwasser bringt. Sie stopft seine Socken, macht den Abwasch und "regiert mit dem Staubtuch". Nicht die Trümmerfrauen sind Lufts Heldinnen, sondern Ella, und wenn die Welt aus den Fugen geraten ist, dann ist Ellas Frühjahrsputz daran schuld. Die Wiederherstellung der Ordnung ist jedenfalls ein sehr privates, hygienisches Problem. Die ersten Konturen der frühen Bundesrepublik werden sichtbar.

JÖRG MAGENAU

Friedrich Luft: "Blick über den Zaun. Tagesblätter". Transit Verlag, Berlin 1999, 128 S., Abb., geb., 28,- DM.

Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
…mehr