Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 11.07.2005Geschichtspolitische Instrumentalisierung
Wie sich die arabische Welt vor und nach 1945 mit dem Nationalsozialismus beschäftigte
Gerhard Höpp/Peter Wien/René Wildangel (Herausgeber): Blind für die Geschichte? Arabische Begegnungen mit dem Nationalsozialismus. Klaus Schwarz Verlag, Berlin 2004. 378 Seiten, 26,- [Euro].
Der Buchumschlag zeigt eine niedergeschlagen dreinblickende Gruppe marokkanischer Soldaten, die als Teil der französischen Armee 1940 in deutsche Gefangenschaft gerieten. Auch im weiteren Verlauf des Krieges waren Marokkaner als französische Kolonialsoldaten in Nordafrika, Italien und schließlich bei der Befreiung Frankreichs im Einsatz. Solchen und anderen Formen der "Begegnung" von Arabern mit dem Nationalsozialismus wird in diesem Sammelband nachgegangen, den das " Zentrum Moderner Orient" in Berlin herausgibt.
Die Autoren wollen einem doppelten Klischee entgegentreten: Zum einen der Vorstellung, die Araber seien vor dem Zweiten Weltkrieg aufgrund ihrer Gegnerschaft zur britischen beziehungsweise französischen Kolonialherrschaft und angesichts der zionistischen Ansiedlung in Palästina natürliche Verbündete des italienischen Faschismus und deutschen Nationalsozialismus gewesen; zum anderen der Auffassung, man sei heute in der arabischen Welt "blind für die Geschichte", wie es vor einigen Jahren der britische Journalist Robert Fisk in einem Artikel ausdrückte, der die fortgesetzte Leugnung des millionenfachen Mordes an den europäischen Juden in arabischen Medien kritisierte.
Weder sei es gerechtfertigt, den "Mythos der ,profaschistischen Araber'" unbesehen zu tradieren, noch sei es angebracht, von einem einheitlichen arabischen Geschichtsbild zu sprechen. Der Blick dürfe nicht nur auf solche arabischen Führergestalten fallen, die tatsächlich ein Bündnis mit dem Nationalsozialismus anstrebten. Dem Großmufti von Jerusalem, Amin al-Husaini, der sich seit 1937 zunächst im italienischen und später im deutschen Exil aufhielt und die deutsche Unterstützung in seinem Kampf gegen Engländer und Juden suchte, müsse man diejenigen Stimmen in der palästinensischen Öffentlichkeit gegenüberstellen, die sich durch eine eher kritische Haltung gegenüber dem Nationalsozialismus auszeichneten. Es sei nicht nur auf die Kollaborateure zu verweisen, sondern auch auf die arabischen Opfer des Nationalsozialismus: "Es gibt zwar einen Diskurs der arabischen Täter, doch keinen der arabischen Opfer." Zu ihnen gehören auch zirka 450 Personen, die als Insassen deutscher Konzentrationslager ausfindig gemacht werden konnten.
In der Regel erfolgten die Begegnungen mit dem Nationalsozialismus aus der Ferne und spielten sich in der Publizistik ab. Aus der Perspektive marokkanischer Nationalisten interessierte das "Dritte Reich" weniger aus ideologischen Gründen "denn als eine europäische Kraft", die der Kolonialmacht Frankreich "feindlich gesinnt" war. Ausgesprochen ablehnend auf die NS-Rassenideologie reagierte die liberale ägyptische Monatszeitschrift al-Hilal. Schon 1933 beschwor sie die Gefahr des Völkermords. Der bisher "schrecklichste und verabscheuungswürdigste Mord in der Geschichte der modernen Zivilisation", wie die Zeitschrift die Vertreibung und Vernichtung der Armenier im Osmanischen Reich während des Ersten Weltkriegs bezeichnete, werde sich möglicherweise als Konsequenz des deutschen Antisemitismus wiederholen.
Auch für die arabisch-palästinensische Öffentlichkeit werden für die dreißiger Jahre und die Zeit des Zweiten Weltkriegs "kritische Stimmen" moderater Politiker und Journalisten nachgewiesen, die sich den ebenfalls in Palästina anzutreffenden "begeisterten Reaktionen auf Hitler und den Nationalsozialismus" entgegenstellten. Man fragt sich jedoch bei der Lektüre verwundert, warum die Autoren bei ihrer gelegentlich allzu entschlossen wirkenden Suche nach NS-Kritik darauf verzichten, deren Stellenwert in der kontroversen arabischen Meinungsbildung genauer zu bestimmen. War das "jähe Ende" der moderaten Kräfte nach 1945 nur auf die "enorm radikalisierte Nachkriegsatmosphäre" und das Versagen der britischen Politik zurückzuführen?
Zwei Beiträge befassen sich unter sozial- und mentalitätsgeschichtlichen Fragestellungen mit dem Irak und Syrien. Der Nationalismus und die Führersehnsucht einer jüngeren Generation im Irak der Vorkriegszeit habe sich weniger an Deutschland oder Italien orientiert, sondern an der Türkei. In Syrien war es die "Generation der jungen Intellektuellen", die sich in einer "Kombination von Nationalismus und Säkularismus" gegen das Establishment wandte und in der 1932 gegründeten Syrisch Sozial-Nationalen Partei organisierte. Im Unterschied zum Nationalsozialismus kam es nicht zu einer rassenideologischen Fixierung. Im Mittelpunkt stand das Verlangen nach der Errichtung eines Nationalstaats. Das parallele zionistische Bestreben nach einer "nationalen Heimstätte" der Juden in Palästina konnte nur als Bedrohung wahrgenommen werden.
Nachdem der Staat Israel gegründet worden war, kam es in der arabischen Welt zu einer bis heute sich hinziehenden "Begegnung" mit dem Nationalsozialismus. Dabei steht nicht der realhistorische Gegenstand im Zentrum, sondern seine geschichtspolitische Instrumentalisierung, die gleichermaßen der Selbstvergewisserung und der Feindbildstilisierung diente und die noch dadurch verstärkt wurde, daß sie Entsprechungen auf israelischer Seite hatte - ein Modellfall für Konflikteskalation durch Ideologiebildung. Die beiden Beiträge, die sich diesem Komplex zuwenden, sind aufschlußreich und befassen sich auch mit der herrschenden Erinnerungskultur in Israel, gehen aber über das engere Thema des Bandes hinaus, ohne es erschöpfend behandeln zu können. Im Kern geht es um die Analogie von Schoa in Israel und Nakba in Palästina. Beide Begriffe meinen die jeweiligen "großen Katastrophen" - die Vernichtung von sechs Millionen Juden im Zweiten Weltkrieg und die Vertreibung und Flucht von ungefähr 700 000 Palästinensern infolge des ersten arabisch-israelischen Krieges 1948.
Hannah Arendt sprach 1948 davon, "daß ein Volk ohne Land ein Land ohne Volk brauchte". Dieses Land gab es nicht, und die "zionistischen Führer" hätten im Zuge der Staatsgründung die "einheimische Bevölkerung" schlicht übersehen. Zudem fand die Gründung Israels keine Parallele in einer palästinensischen Staatsgründung. In Israel stand zunächst nicht die Schoa im Mittelpunkt, sondern die Erinnerung an die 2000jährige Exilgeschichte der Juden. Daraus leitete sich das Postulat nach Unverwundbarkeit, Mut und Stärke ab. Erst im Zusammenhang mit den Kriegen 1967 und 1973 wurde die Schoa zur Legitimationsbasis für die israelische Politik: "Die arabische Welt und insbesondere die Palästinenser wurden zur Analogie der Nazis." Auf palästinensischer Seite prägte die Nakba das kollektive Bewußtsein und führte zur Darstellung der Israelis als Täter, die zu NS-Methoden griffen. Gleichzeitig wurde in arabischen Medien die Tatsache der Schoa geleugnet.
Erst im Laufe der neunziger Jahre erhoben sich hüben wie drüben vereinzelte Stimmen, die zu einer differenzierteren Sicht der historischen und damit auch der gegenwärtigen politischen Realität aufriefen. Aus dem Schatten der von Gewalt geprägten Geschichte könne man nur heraustreten, wenn beiderseits das Monopol auf die Beanspruchung der Opferrolle aufgegeben wird. Die Deeskalation des israelisch-palästinensischen Konflikts in der Zukunft hänge auch davon ab, ob Empathie für die jeweils andere Seite entwickelt werden kann. Dazu gehöre nicht zuletzt der Dialog über die entsetzliche gemeinsame Geschichte.
GOTTFRIED NIEDHART
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Wie sich die arabische Welt vor und nach 1945 mit dem Nationalsozialismus beschäftigte
Gerhard Höpp/Peter Wien/René Wildangel (Herausgeber): Blind für die Geschichte? Arabische Begegnungen mit dem Nationalsozialismus. Klaus Schwarz Verlag, Berlin 2004. 378 Seiten, 26,- [Euro].
Der Buchumschlag zeigt eine niedergeschlagen dreinblickende Gruppe marokkanischer Soldaten, die als Teil der französischen Armee 1940 in deutsche Gefangenschaft gerieten. Auch im weiteren Verlauf des Krieges waren Marokkaner als französische Kolonialsoldaten in Nordafrika, Italien und schließlich bei der Befreiung Frankreichs im Einsatz. Solchen und anderen Formen der "Begegnung" von Arabern mit dem Nationalsozialismus wird in diesem Sammelband nachgegangen, den das " Zentrum Moderner Orient" in Berlin herausgibt.
Die Autoren wollen einem doppelten Klischee entgegentreten: Zum einen der Vorstellung, die Araber seien vor dem Zweiten Weltkrieg aufgrund ihrer Gegnerschaft zur britischen beziehungsweise französischen Kolonialherrschaft und angesichts der zionistischen Ansiedlung in Palästina natürliche Verbündete des italienischen Faschismus und deutschen Nationalsozialismus gewesen; zum anderen der Auffassung, man sei heute in der arabischen Welt "blind für die Geschichte", wie es vor einigen Jahren der britische Journalist Robert Fisk in einem Artikel ausdrückte, der die fortgesetzte Leugnung des millionenfachen Mordes an den europäischen Juden in arabischen Medien kritisierte.
Weder sei es gerechtfertigt, den "Mythos der ,profaschistischen Araber'" unbesehen zu tradieren, noch sei es angebracht, von einem einheitlichen arabischen Geschichtsbild zu sprechen. Der Blick dürfe nicht nur auf solche arabischen Führergestalten fallen, die tatsächlich ein Bündnis mit dem Nationalsozialismus anstrebten. Dem Großmufti von Jerusalem, Amin al-Husaini, der sich seit 1937 zunächst im italienischen und später im deutschen Exil aufhielt und die deutsche Unterstützung in seinem Kampf gegen Engländer und Juden suchte, müsse man diejenigen Stimmen in der palästinensischen Öffentlichkeit gegenüberstellen, die sich durch eine eher kritische Haltung gegenüber dem Nationalsozialismus auszeichneten. Es sei nicht nur auf die Kollaborateure zu verweisen, sondern auch auf die arabischen Opfer des Nationalsozialismus: "Es gibt zwar einen Diskurs der arabischen Täter, doch keinen der arabischen Opfer." Zu ihnen gehören auch zirka 450 Personen, die als Insassen deutscher Konzentrationslager ausfindig gemacht werden konnten.
In der Regel erfolgten die Begegnungen mit dem Nationalsozialismus aus der Ferne und spielten sich in der Publizistik ab. Aus der Perspektive marokkanischer Nationalisten interessierte das "Dritte Reich" weniger aus ideologischen Gründen "denn als eine europäische Kraft", die der Kolonialmacht Frankreich "feindlich gesinnt" war. Ausgesprochen ablehnend auf die NS-Rassenideologie reagierte die liberale ägyptische Monatszeitschrift al-Hilal. Schon 1933 beschwor sie die Gefahr des Völkermords. Der bisher "schrecklichste und verabscheuungswürdigste Mord in der Geschichte der modernen Zivilisation", wie die Zeitschrift die Vertreibung und Vernichtung der Armenier im Osmanischen Reich während des Ersten Weltkriegs bezeichnete, werde sich möglicherweise als Konsequenz des deutschen Antisemitismus wiederholen.
Auch für die arabisch-palästinensische Öffentlichkeit werden für die dreißiger Jahre und die Zeit des Zweiten Weltkriegs "kritische Stimmen" moderater Politiker und Journalisten nachgewiesen, die sich den ebenfalls in Palästina anzutreffenden "begeisterten Reaktionen auf Hitler und den Nationalsozialismus" entgegenstellten. Man fragt sich jedoch bei der Lektüre verwundert, warum die Autoren bei ihrer gelegentlich allzu entschlossen wirkenden Suche nach NS-Kritik darauf verzichten, deren Stellenwert in der kontroversen arabischen Meinungsbildung genauer zu bestimmen. War das "jähe Ende" der moderaten Kräfte nach 1945 nur auf die "enorm radikalisierte Nachkriegsatmosphäre" und das Versagen der britischen Politik zurückzuführen?
Zwei Beiträge befassen sich unter sozial- und mentalitätsgeschichtlichen Fragestellungen mit dem Irak und Syrien. Der Nationalismus und die Führersehnsucht einer jüngeren Generation im Irak der Vorkriegszeit habe sich weniger an Deutschland oder Italien orientiert, sondern an der Türkei. In Syrien war es die "Generation der jungen Intellektuellen", die sich in einer "Kombination von Nationalismus und Säkularismus" gegen das Establishment wandte und in der 1932 gegründeten Syrisch Sozial-Nationalen Partei organisierte. Im Unterschied zum Nationalsozialismus kam es nicht zu einer rassenideologischen Fixierung. Im Mittelpunkt stand das Verlangen nach der Errichtung eines Nationalstaats. Das parallele zionistische Bestreben nach einer "nationalen Heimstätte" der Juden in Palästina konnte nur als Bedrohung wahrgenommen werden.
Nachdem der Staat Israel gegründet worden war, kam es in der arabischen Welt zu einer bis heute sich hinziehenden "Begegnung" mit dem Nationalsozialismus. Dabei steht nicht der realhistorische Gegenstand im Zentrum, sondern seine geschichtspolitische Instrumentalisierung, die gleichermaßen der Selbstvergewisserung und der Feindbildstilisierung diente und die noch dadurch verstärkt wurde, daß sie Entsprechungen auf israelischer Seite hatte - ein Modellfall für Konflikteskalation durch Ideologiebildung. Die beiden Beiträge, die sich diesem Komplex zuwenden, sind aufschlußreich und befassen sich auch mit der herrschenden Erinnerungskultur in Israel, gehen aber über das engere Thema des Bandes hinaus, ohne es erschöpfend behandeln zu können. Im Kern geht es um die Analogie von Schoa in Israel und Nakba in Palästina. Beide Begriffe meinen die jeweiligen "großen Katastrophen" - die Vernichtung von sechs Millionen Juden im Zweiten Weltkrieg und die Vertreibung und Flucht von ungefähr 700 000 Palästinensern infolge des ersten arabisch-israelischen Krieges 1948.
Hannah Arendt sprach 1948 davon, "daß ein Volk ohne Land ein Land ohne Volk brauchte". Dieses Land gab es nicht, und die "zionistischen Führer" hätten im Zuge der Staatsgründung die "einheimische Bevölkerung" schlicht übersehen. Zudem fand die Gründung Israels keine Parallele in einer palästinensischen Staatsgründung. In Israel stand zunächst nicht die Schoa im Mittelpunkt, sondern die Erinnerung an die 2000jährige Exilgeschichte der Juden. Daraus leitete sich das Postulat nach Unverwundbarkeit, Mut und Stärke ab. Erst im Zusammenhang mit den Kriegen 1967 und 1973 wurde die Schoa zur Legitimationsbasis für die israelische Politik: "Die arabische Welt und insbesondere die Palästinenser wurden zur Analogie der Nazis." Auf palästinensischer Seite prägte die Nakba das kollektive Bewußtsein und führte zur Darstellung der Israelis als Täter, die zu NS-Methoden griffen. Gleichzeitig wurde in arabischen Medien die Tatsache der Schoa geleugnet.
Erst im Laufe der neunziger Jahre erhoben sich hüben wie drüben vereinzelte Stimmen, die zu einer differenzierteren Sicht der historischen und damit auch der gegenwärtigen politischen Realität aufriefen. Aus dem Schatten der von Gewalt geprägten Geschichte könne man nur heraustreten, wenn beiderseits das Monopol auf die Beanspruchung der Opferrolle aufgegeben wird. Die Deeskalation des israelisch-palästinensischen Konflikts in der Zukunft hänge auch davon ab, ob Empathie für die jeweils andere Seite entwickelt werden kann. Dazu gehöre nicht zuletzt der Dialog über die entsetzliche gemeinsame Geschichte.
GOTTFRIED NIEDHART
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Perlentaucher-Notiz zur Süddeutsche Zeitung-Rezension
Dieser Sammelband, der die arabischen Erfahrungen mit dem Nationalsozialismus zum Thema hat, wird "mit Sicherheit einen Historikerstreit auslösen", prognostiziert Sonja Hegasy. Untersucht wird in den Beiträgen die Zeit von den 30er Jahren bis zu "Debatten um Antisemitismus und Holocaust-Leugnung" der Gegenwart, wobei die meisten Aufsätze die Vorstellung vom schon immer virulenten Antisemitismus der Araber "widerlegen", so die Rezensentin überzeugt. Daneben werde in einem Beitrag des bereits verstorbenen Gerhard Höpp, der jahrelang die Datenbanken und Archive der Konzentrationslager durchforschte, auf die arabischen Opfer des Nationalsozialismus hingewiesen, wodurch sie dem "Vergessen entrissen" würden, lobt Hegasy. Zumeist gelingt dem Band eine "objektive Betrachtung", betont die Rezensentin, wenn sie auch am Beitrag von Götz Nordbruch die zu dünne Quellengrundlage kritisiert. Positiv registriert sie, dass der arabische Fernsehsender Al-Dschasira die Debatte um den Nationalsozialismus, die bisher in der arabischen Welt gefehlt hat, aufgegriffen hat und zudem dieser Band wohl in Kürze ins Arabische übersetzt werden soll.
© Perlentaucher Medien GmbH
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