Aus dem Buch: "Fünf Jahre waren vergangen. In dem Städtchen hatte sich wenig verändert. Zwei neue Häuser waren gebaut oder noch im Bau, einige andere abgeputzt. Dem längst schadhaft gewordenen rostbraunen Spitzdach der alten Kirche waren frischrothe Ziegelreihen eingeflickt, worüber die ästhetisch Gebildeten sich entrüsteten, die Uhr am Rathhause hatte noch immer die Gewohnheit, falsch zu gehen, einige Kaufmannsschilder glänzten in neuer Aufschrift, einige Schaufenster zeigten sich den Anforderungen der Zeit gemäß vergrößert, der Apotheker ließ die ganze Nacht durch über seiner Thür eine rothe Laterne brennen, und im Gymnasium waren während der letzten Sommerferien sämmtliche Schulzimmer geweißt; die üblichen Todesfälle, Hochzeiten und Kindtaufen in den Honoratiorenfamilien hatten vorübergehend von sich reden gemacht. Sonst hatte das Intelligenzblättchen nicht viel zu melden gehabt." Ernst Wichert (1831-1902) war ein deutscher Schriftsteller und Jurist. In seinen Bühnenstücken und Prosaarbeiten entsprach er dem Bedürfnis des wilhelminischen Bürgertums nach Bestätigung seiner Werte und des Glaubens an die Zukunft des Bismarck-Reiches. Sie bilden ein kulturhistorisch authentisches Bild des 19. Jahrhunderts.