Ist Robert Neumanns Die Kinder von Wien heute berühmt und zählt (obschon auf Englisch verfaßt) zum Kanon österreichischer Literatur, so wurde ein anderes Hauptwerk jahrzehntelang übersehen: Die Originalausgabe von Blind Man´s Buff, 1949 in London erschienen, kursiert in nur noch wenigen Exemplaren. Der Roman beginnt mit einem angekündigten Selbstmord. Doch der Salzburger Devotionalienhändler Marx findet - kaum hat er sich, kurz vorm Ruin, brieflich vom Leben (und der Ehefrau) verabschiedet - dann doch Gefallen daran, weiterzuleben. Als er in Wien zum Zeugen wird, wie SA einen windigen Geschäftspartner totschlägt, nimmt er die Identität des jüdischen Opfers an, das die Donau stromabwärts treibt. »Katz«, vormals Marx, entdeckt Drohbriefe eines Erpressers an den Ermordeten, die diesem ein uneheliches Kind andichten. Abenteuerlust läßt den falschen Katz die Fährte aufnehmen, die ihn in ein zwielichtes Hotel am Budapester Bahnhof Keleti führt. Da sieht er sich dem Mädchen gegenüber, das er fortan als seine Schutzbefohlene wie eine Tochter annimmt. Derweil wittert ein kleiner Angestellter seine Chance, dem vermeintlich toten Chef, den er als den »Juden Katz« aufspürt, nun - nach dem »Anschluß« Österreichs vom März 1938 - das Unternehmen abzuluchsen. Das Mädchen, an dem dieser in närrischer Liebe hängt, soll zum Lockvogel werden. Als Marx-Katz jene Marika durch die Intrige verliert, beginnt eine albtraumhafte Suche vor gespenstischer Kulisse: das Ghetto von Eisenstadt und ein jüdisches Sammellager in der Wiener Leopoldstadt sind erste Stationen seiner Irrfahrt, in blinder Ohnmacht der Spur des Mädchens nachjagend ... Neumanns Blind Man´s Buff, teils schwarze Groteske, mit Anklängen an Lolita und mit der sinistren Düsterkeit von David-Lynch-Filmen oder Carol Reeds Der dritte Mann, erweist sich als komplexer Roman um Täuschung, Selbsttäuschung und Getäuschtwerden, teils im Gewand eines Trivialromans.