Der Aphorismus als literarische Kunstform hat in Eschker einen geistreichen und eigenständigen Neuschöpfer gefunden. Was er scheinbar leichthin zu Papier bringt, ist Tiefsinn und Lebensweisheit. Was wie müheloses Hervorsprudeln von Gedanken aussieht, erweist sich bei näherer Betrachtung als Genialität. "Eschkers Einfälle sind vielem überlegen, was derzeit auf diesem Gebiet auf dem Buchmarkt erscheint. Nur muß man eben, wie bei allen Arten von Spruchsammlungen, die Rosinen finden. >Rosinen? Ein absolut unpassendes Wort, denn die von Eschker sind nicht süß, sie sind höchstens bittersüß und deshalb keine Rosinen. Was wir hier finden, steht in der Tradition des aufklärerisch-entlarvenden Angriffs auf Menschen und Institutionen, deren angemaßte Autorität in ein für sie peinlich-helles Licht getaucht und dem öffentlichen Urteil überantwortet wird." (KAY BOROWSKY)
Doppeldeutig: Wolfgang Eschkers Aphorismen
Vor mittlerweile vierzig Jahren schickte Wolfgang Eschker einige Aphorismen an diese Zeitung. Ihm antwortete der damalige Literaturchef Marcel Reich-Ranicki, mit einer Publikation brauche er nicht zu rechnen. Doch sie kam. Am 5. Februar 1976 setzte Reich-Ranicki statt eines Gedichts gleich drei Eschker-Aphorismen auf die erste Feuilletonseite. Sie hatten dem kritischen Geist nicht nur standgehalten, sondern ihn überzeugt, von seinen Prinzipien einmal abzuweichen. Eschker war damals vierunddreißig, und bis heute ist er Aphoristiker geblieben. Zum Hauptberuf aber reicht das nicht, das war nicht einmal bei den Großmeistern der Gattung so. Eschker war danach für das Goethe-Institut tätig und schrieb immer wieder Lyrik und Prosa. Doch den Schwung von Reich-Ranickis Gunst hatte er 1977 zu einem ersten Aphorismenbuch genutzt, "Gift und Gegengift". 1995 folgte dann das zweite: "Mitgift mit Gift".
Und nun, 21 Jahre später, das dritte. Es heißt "Blitze und Blitzableiter". Darin finden sich 288 Aphorismen. Zu den wunderbaren gehört: "Zu meinem Freund sagte ich: Sei aufrichtig! Da richtete sich mein Feind auf." Daran wird schon ein Prinzip der Eschkerschen Aphoristik klar: Er nimmt die Sprache wörtlich und macht sie gerade damit doppeldeutig. Etwa so: "Würde steht bei uns an erster Stelle allenfalls, um einen Konditionalsatz einzuleiten." Das bestätigt einen Eschker-Aphorismus über Aphorismen: "Aphorismen suchen nach Wahrheit. Deshalb sind sie so widersprüchlich." Leider lässt sich Eschker aber auch zu aktuellen und deshalb eindeutigen Aphorismen verleiten, etwa zur NSA-Abhöraffäre. Das klingt dann so: "Die Würde des Menschen ist vielleicht unantastbar, auf jeden Fall aber abhörbar." Schon der Rhythmus sperrt sich hier, und bei "Der meist bestiegene Berg der Welt: der Venusberg" ist der Autor auch noch geistverlassen. So weckt dieses Büchlein nur halbherzige Begeisterung. Aber halbe-halbe ist ja auch nicht schlecht, 144 kluge Bemerkungen zu Gott und der Welt wollen erst einmal gemacht sein. Dafür sind 21 Jahre Bedenkzeit nicht zu viel.
apl.
Wolfgang Eschker: "Blitze und Blitzableiter". Aphorismen.
Leipziger Literaturverlag, Leipzig 2016. 83 S., br., 12,95 [Euro].
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