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In der großen »Gastl Welt«, der weit über Tübingen hinaus, gar weltweit (!) bekannten Buchhandlung, trifft sich anfangs der 70er Jahre (»denkmöglich«) eine gelehrte Dreifaltigkeit zum regelmäßigen Abendgespräch: der Philosoph Ernst Bloch, der Rhetoriker, Kritiker und Schriftsteller Walter Jens sowie der wohl bedeutendste, wirkmächtigste deutsche Germanist Hans Mayer - und zwar gleichsam unterm Patronat der Buchhändlerin und femme des lettres Julie Gastl. Gelegentlich kommen noch Freunde und Gäste von außerhalb dazu: Marcel Reich-Ranicki, der große Kunsthistoriker Hans Holländer, Rolf Hochhuth,…mehr

Produktbeschreibung
In der großen »Gastl Welt«, der weit über Tübingen hinaus, gar weltweit (!) bekannten Buchhandlung, trifft sich anfangs der 70er Jahre (»denkmöglich«) eine gelehrte Dreifaltigkeit zum regelmäßigen Abendgespräch: der Philosoph Ernst Bloch, der Rhetoriker, Kritiker und Schriftsteller Walter Jens sowie der wohl bedeutendste, wirkmächtigste deutsche Germanist Hans Mayer - und zwar gleichsam unterm Patronat der Buchhändlerin und femme des lettres Julie Gastl. Gelegentlich kommen noch Freunde und Gäste von außerhalb dazu: Marcel Reich-Ranicki, der große Kunsthistoriker Hans Holländer, Rolf Hochhuth, Friedrich Dürrenmatt. Und sie disputieren, ereifern, ergänzen, verbessern, verrennen und widerlegen sich heftig - über wahrlich: Gott & die Welt, auch über alles, was da gerade ansteht »in der kleinen großen Stadt - wo der Neckar promoviert.« Das alles geschieht spielerisch leicht, mit Freude an waghalsigen Gedankenexpeditionen, die auch Leiden, Missgeschick, Unglück, Verwerfung nicht etwa vergessen lassen, aber sich mit dem Optimismus des Nach- und Weiterlebens zum großen Lesegenuss verbinden. Gewissermaßen macht das einen andren Blick auf die »Erbschaft dieser Zeit«, eine Art Seminar »Prinzip Hoffnung« auch ...Post scriptum: Gert Ueding war mit allen Personen des Buches eng verbunden, erlebte sie seit seinem Studium als Mentoren und Freunde. Er war Assistent bei Ernst Bloch, wurde bei Walter Jens promoviert, hat sich bei Hans Mayer habilitiert und war befreundet mit Rolf Hochhuth und Marcel Reich-Ranicki, der ihn als Kritiker an die FAZ holte - und am liebsten als seinen Nachfolger gesehen hätte. Stattdessen aber blieb er guter Kunde Julie Gastls - und folgte dem Ruf auf die Nachfolge Walter Jens' am Seminar für Allgemeine Rhetorik.
Autorenporträt
Gert Ueding, 1942 geboren, lebt bei Heidelberg, bis 2009 Ordinarius für Allgemeine Rhetorik an der Universität Tübingen, bis 2012 Gastprofessor an der Universität St. Gallen. Essayist, Literaturkritiker verschiedener großer Zeitungen, u. a. der FAZ und der Welt. Mitglied zahlreicher literarischer Jurys, u. a. der Jury zum Friedenspreis des Deutschen Buchhandels sowie zur Bücherbestenliste des SWR. Bei Klöpfer & Meyer hat er über viele Jahre die renommierte Essayreihe 'Promenade' herausgegeben. 2016 erschien, hoch gelobt, in drei Auflagen: 'Wo noch niemand war. Erinnerungen an Ernst Bloch'.
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 07.05.2024

Was der abwesende Autor so alles weiß
Buchhandlungsgeflüster bei Gastl: Gert Ueding protokolliert imaginäre Gespräche unter berühmten Protagonisten der Tübinger Gelehrtenrepublik

Julie Gastl dekorierte die Bücher so beziehungsreich, dass sie die Lage der Geisteswissenschaften in Tübingen aufzeigten. Die Buchhandlung Gastl in der Altstadt war quasi eine Einrichtung der Universität. Täglich kamen Professoren zum Plaudern. Die einflussreiche Gastl sorgte dafür, dass Ernst Bloch, als er, beschuldigt der Verführung der Jugend wie einst Sokrates, die DDR verließ, eine ständige Gastprofessur in Tübingen erhielt. Dort wurde er für die Studenten von '68 zur Reinkarnation Hegels.

Der obere Raum des Ladens hieß nach der dortigen Literatur "die Theologie". Hier nahm Bloch, unter den Marxisten der religiös-musikalische, gerne auf dem Klubsessel Platz und empfing zum Gespräch. Außer Gastl kamen weitere Freunde hinauf. So der viel gelehrte Literaturhistoriker Hans Mayer, der wie sein Mentor Bloch aus Leipzig vertrieben worden war und sich 1973 endgültig in Tübingen niederließ. Sowie Walter Jens mit seiner Eloquenz, seinen vielfältigen Ausdrucksformen, seiner Bildungsspannweite von Antike bis Moderne, seinem christlichen Radikalrepublikanismus, omnipräsent auf den Podien und in den Medien der Zeit, Inhaber des hierzulande einzigen, für diesen Vielbegabten eigens aus der historischen Versenkung hervorgeholten Lehrstuhls für Rhetorik.

Gert Ueding war Nachfolger von Jens auf diesem Lehrstuhl. Er durfte als Student mit seinen Kommilitonen in der "Theologie" abendliche Kolloquien abhalten. Sie bekamen sogar Brezeln und Getränke. Für sein neues Buch malt er sich aus, dass Gastl in der "Theologie" für Bloch, Jens und Mayer regelmäßig eine "Tischgesellschaft" gegeben hätte. Delikatessen und edle Weine wären aufgetragen worden. Worüber die vier debattiert hätten, wer welche Argumente vorgebracht hätte, hat Ueding aus seinen Erinnerungen und Lektüren zusammengesetzt. Im Alter gedenkt er der Gedanken seiner Lehrer. Er assistierte von 1968 an Bloch, wurde 1970 bei Jens promoviert, habilitierte sich 1973 bei Mayer. Etwa ein Dutzend Mal taucht im Buch ein "ich" oder "wir" auf, womit einfach Ueding (mit) gemeint ist, jeweils eine Begebenheit beglaubigend. Doch das ist unstimmig. Er spielt in den nacherfundenen Dialogen keine Rolle. Ueding weilte in den Siebzigern, als sie hätten stattfinden können, in Hannover und Oldenburg.

Sein Buch ist gut für unterhaltsame Abkürzungen zum Bildungsgut. "Don Quijote" ist wichtig für Blochs Denken. Die Dichter seien mit ihrer konkreten Phantasie für ein "Vor-Bild des Ganzen" zuständig. Das Neue in der Kunst brauche eine Entsprechung im Sozialen. Jens erwidert Bloch, dass Travestie, Satire und Parodie die angemessenen Ausdrucksformen einer von "Wertezerfall, Anonymität, Unüberschaubarkeit und Vereinzelung" geprägten Welt seien.

An anderer Stelle mahnt er überraschend: "Die Literatur dürfe sich nicht überschätzen, sie könne der Politik nichts anhaben, sei kein Basisphänomen, sie vertrete die Politik, ohne an ihre Stelle zu treten." Erörtert werden auch Hauptgedanken des Hauptwerks von Mayer von 1975. Um "Außenseiter" geht es, vor allem um die in leidvolle Ausweglosigkeit Geborenen: um Frauen, Homosexuelle und Juden. Um den Ernstfall der Humanität, bei dem die Aufklärung mit ihrem Gleichheitsversprechen scheiterte.

Zur Runde stoßen Gäste. Der Kunsthistoriker Hans Holländer bespricht mit ihr die Geschichte vom Maler, der in seinem eigenen Bild verschwindet. Mit Rolf Hochhuth und Friedrich Dürrenmatt wird Theaterverständnis diskutiert. Marcel Reich-Ranicki kommt zweimal zu Besuch: Er habe Thomas Mann zur Leitfigur des Literaturteils der F.A.Z. erkoren, weil dieser für die "Idee der Humanität, des gesitteten Lebens" stehe. Auch Bloch schätzt Manns "Bürgerlichkeit", denn in ihr würden "wertvolle humane Güter, vergessene Ideale gerettet, auch in einer Sprache gerettet, die nicht untergehen darf".

Dieses Gespräch soll kurz vor Reich-Ranickis Wechsel zu dieser Zeitung stattgefunden haben. Also 1973. Aber die vorherigen Kapitel - erwähnt wird etwa Blochs neunzigster Geburtstag - spielen im Jahr 1975. In dieser linearen Erzählung ein unmotivierter, fehlerhafter Sprung zurück in der Zeit. Wenn dann einige Kapitel weiter Hochhuth sich selbst einlädt, scheint man 1974 zu schreiben: Es wird beispielsweise von seiner "Lysistrate" als einem aktuellen Stück gesprochen. Andererseits beschäftigt sich Hochhuth schon länger mit den NS-Juristen und deutet an, dass er gerade an seiner ersten Erzählung arbeitet. In "Eine Liebe in Deutschland" warf er Ministerpräsident Filbinger 1978 vor, ein "furchtbarer Jurist" gewesen zu sein. Also ist man im Vorjahr dieses wichtigen Skandals angekommen? Aber im Folgenden moniert Hochhuth den Geschäftssinn Dieter Dorns bei dessen Inszenierung von Goethes "Tasso". Die ging erstmals im August 1982 über die Bühne. Filbinger war da schon längst zurückgetreten. In einem anderen Kapitel schildert Gastl einen Restaurantbesuch des reizbaren Mayer "mit einem jüngeren [...] Tübinger Professor". Es meldet sich der Autor beiseite: "ich war der Essensgast am Tisch". Ueding wurde 1983 Professor in Tübingen. Doch Julie Gastl hatte ihre Buchhandlung 1982 abgegeben, und Bloch war 1977 gestorben.

Anfangs erklärt der Autor, dass seine Geschichten eine "wahrhafte Möglichkeit" und darum "in der Realität verankert" seien. Doch die zahlreichen Anachronismen machen diesen Anspruch zunichte. Hätte er die imaginären Gespräche illustrer Geister so entworfen, wie es sein Lehrer Jens bevorzugte und vermittelte, gemäß antiker Tradition als Totengespräche, Ueding wäre nicht fehlgegangen.

Der Autor hat für seine Figuren auch Nebenhandlungen und innere Monologe geschrieben. Darin geht es meist um seinen Amtsvorgänger - ein Walter-Jens-Roman in nuce. Julie Gastl sinniert, der brillante Jens sei eigentlich ein "angsterfüllter Mann, gebannt von den Schrecken der Wirklichkeit". Mayer geht durch den Kopf, dass Jens nie die Maske ablege, nie die Bühne verlasse, daher nie zur "vita activa" gelange. Reich-Ranicki ertappt sich dabei, über seinen Freund schlecht zu denken, nämlich dass es ihm nur um die eigene Größe gehe. Jens führt seinerseits mehrere Selbstgespräche. Er hat mit seinem Abschied vom Erzählen und dem Ausbleiben eines "Opus magnum" zu hadern.

Der Autor lässt Jens daran scheitern, einen Vortrag über Heine zu verfassen. Er schickt ihn in einen Albtraum, in dem er vor großem Publikum durchfällt. So verfällt Jens der Depression. Die Tischgesellschaften bei Gastl werden abgesagt. Womit "diese Geschichte belebend zu Ende geht". "Belebend"? Wohl für den Autor. Es war schwer, Jens nachzufolgen und nie aus seinem Schatten heraustreten zu können.

Jens zog nach "Herr Meister", seinem postmodernen Roman von 1963, der ästhetischen Selbstbezüglichkeit die rhetorische Publikumswirkung vor, um nicht zuletzt politisch zu bilden. Seine Reden, jede ein funkelnder Essay, kumulieren sich zu einem "Opus magnum". Er hat durchaus einen Heine-Vortrag verfasst. Die Depression wurde 1986 manifest. Trotz Schwermut sagte er seine Seminare nicht ab. Er wurde geheilt. Er lernte sogar noch mit fünfundsechzig, seine Scheu im persönlichen Umgang abzulegen. So gelang ihm nach 1989 die gleichberechtigte Vereinigung der Akademien der Künste von Ost und West. 2004 wurde bei ihm Demenz diagnostiziert. Indem Ueding in chronologischer Nonchalance Jens sich schon dreißig Jahre früher davor ängstigen und um 1974 der Depression anheimfallen lässt, verdüstert er absichtsvoll dessen Glanzzeit. Als Jens für einen öffentlichen Intellektuellen der Bundesrepublik das Maß der Dinge war.

Julie Gastl hätte womöglich dieser Tage statt des hier besprochenen Bandes Gert Uedings schönes Erinnerungsbuch an Ernst Bloch von 2016 wieder ins Schaufenster gestellt. Unsere Zeit hat Bedarf für einen Denker, der die Hoffnung zum Prinzip erhebt. In "Wo noch niemand war" findet sich eine große Lehrerpersönlichkeit gewürdigt. FRANCESCO MAMMONE

Gert Ueding: "Bloch, Jens und Mayer". Die Tischgesellschaft der Julie Gastl.

Edition Klöpfer,

Stuttgart 2024.

255 S., geb., 25,- Euro.

Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
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Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension

Rezensent Francesco Mammone wünscht sich Ernst Bloch und sein Prinzip Hoffnung zurück beim Lesen von Gert Uedings Erinnerungsbuch. Wie Ueding seine Heroen Bloch, Jens und Mayer in mit Anachronismen gespickten Episoden einer Tübinger Tischgesellschaft wiederauferstehen lässt, scheint ihm so legitim wie mitunter holperig. Als "unterhaltsame Abkürzungen" zum Bildungsbürgergut taugen Uedings Erinnerungen und Lektüren aber doch, findet er. Überzeugender wäre es allerdings gewesen, Ueding hätte sein Buch als Totengespräche a la WalterJens entworfen, meint er.

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