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Vor 75 Jahren erschien der 'Ulysses' von James Joyce. Im Zentrum des berühmten Dubliner Romans sthen der Anzeigenaquisiteur Leopold Bloom und die Geschehnisse, die ihm an einem einzigen Tag, dem 16. Juni 1904, von acht Uhr morgens bis drei Uhr nachts widerfahren. Bei diesem vielschichtigen Werk handelt es sich um nichts Geringeres als die Beschreibung des "Welt-Alltags der Epoche" (Hermann Bloch). Damit ist auch die Absicht Walter Kempowskis umschrieben. Sein Intersse gilt einem einzigen Tag unserer unmittelbaren Gegenwart, ihrer kulturellen, politischen, privaten und öffentlichen…mehr

Produktbeschreibung
Vor 75 Jahren erschien der 'Ulysses' von James Joyce. Im Zentrum des berühmten Dubliner Romans sthen der Anzeigenaquisiteur Leopold Bloom und die Geschehnisse, die ihm an einem einzigen Tag, dem 16. Juni 1904, von acht Uhr morgens bis drei Uhr nachts widerfahren. Bei diesem vielschichtigen Werk handelt es sich um nichts Geringeres als die Beschreibung des "Welt-Alltags der Epoche" (Hermann Bloch). Damit ist auch die Absicht Walter Kempowskis umschrieben. Sein Intersse gilt einem einzigen Tag unserer unmittelbaren Gegenwart, ihrer kulturellen, politischen, privaten und öffentlichen Befindlichkeit - nämlich dem 16. Juni 1997. Die Flut von Informationen und Bildern, die sich Tag für Tag (per Fernsehen) pausenlos über uns ergießt, wird von Kempowski in einer scharfen Momentaufnahme festgehalten, als "Schnee von gestern" unter dem Mikroskop besichtigt. Hierfür hat er sich die Gewohnheit unzähliger Fernsehzuschauer zunutze gemacht, das 'Zappen'. Walter Kempowski surft durch die 37 Kanäle seines TV-Geräts und verzeichnet das, was er mit seiner Fernbedienung einfängt, in einem genauen Protokoll. Ein Medium, dessen Hauptcharakteristikum ungehemmtes Fluten und Rauschen ist, wird plötzlich fixiert. Die flüchtigen Erscheinungen des Alltags blicken dem Leser aus dem klassischen Medium des Buches fremd und befremdlich entgegen. Kempowskis 'Bloomsday '97', konfrontiert den Leser erneut und auf irritierende Weise mit dem bis zum Überdruß Bekannten. Er bricht mit ästhetisch-literarischen Mitteln die kollektive Bewußtseinstrübung und objektiviert die Vergeblichkeit kulturpessimistischer Reden und pädagogischer Bemühungen. 'Bloomsday '97' wird zum hellen Spiegel, der uns den Aberwitz und die Infamie, das Infantile und zugleich Terroristische unserer Medienwelt schlagend und beweiskräftig vor Augen.
Autorenporträt
Walter Kempowski wurde am 29. April 1929 als Sohn eines Reeders in Rostock geboren. Er besuchte dort die Oberschule und wurde gegen Ende des Krieges noch eingezogen. 1948 wurde er aus politischen Gründen von einem sowjetischen Militärtribunal zu 25 Jahren Zwangsarbeit verurteilt. Nach acht Jahren im Zuchthaus Bautzen wurde Walter Kempowski entlassen. Er studierte in Göttingen Pädagogik und ging als Lehrer aufs Land.

Seit Mitte der sechziger Jahre arbeitete Walter Kempowski planmäßig an der auf neun Bände angelegten "Deutschen Chronik", deren Erscheinen er 1971 mit dem Roman "Tadellöser & Wolff" eröffnete und 1984 mit "Herzlich Willkommen" beschloss. Kempowskis "Deutsche Chronik" ist ein in der deutschen Literatur beispielloses Unternehmen, dem der Autor das mit der "Chronik" korrespondierende zehnbändige "Echolot", für das er höchste internationale Anerkennung erntete, folgen ließ. Zuletzt erschien im Knaus Verlag der Roman "Alles umsonst".Walter Kempowski verstarb am 5. Oktober 2007 im Kreise seiner Familie.
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 02.12.1997

Das Zappen nach der verlorenen Zeit
Walter Kempowski guckt in die Röhre / Von Patrick Bahners

Am Morgen des 16. Juni 1904 trat Leopold Bloom auf die Straße. Am Morgen des 16. Juni 1997 setzte sich Walter Kempowski vor den Fernseher. Damit ist eigentlich alles gesagt. Jeder Unterschied zwischen dem von James Joyce im "Ulysses" geschilderten Tag und jenen neunzehn Stunden im Leben des Walter Kempowski, deren Protokoll er unter dem Titel "Bloomsday '97" vorlegt, erklärt sich aus diesem doppelten Anfang. Leopold Bloom erlebte alles mögliche, Walter Kempowski überhaupt nichts. Denn Bloom ging in die Kneipe und in die Kirche, auf die Post und auf den Friedhof, ins Krankenhaus und ins Bordell. Kempowski aber starrte in die Glotze. Er schaltete unentwegt hin und her und ließ Videorecorder und Tonbandgerät mitlaufen. Das Resultat sollen wir lesen. Aber warum? Dem Leser brummt schon nach wenigen Seiten der Schädel. Wer - außer vielleicht Norbert Bolz - hätte je behauptet, daß wahlloses Dauerfernsehen die Geisteskräfte schärft?

Alle Medien waren einmal neu, und allen trat der Verdacht entgegen, in der willkürlichen Ordnung ihrer äußerlichen Zeichen ginge der Sinn verloren, sie stifteten nicht Orientierung, sondern Verwirrung. Das gilt für den Buchdruck wie für die Schrift, und man kann sich ausmalen, daß der Erfinder der Sprache seine stummen Stammesbrüder zu gestenreichen Protesten reizte. Doch selten dürfte es sich ein Medienkritiker so leicht gemacht haben wie Kempowski. Zwar gaben Gutenbergs Gegner zu bedenken, Bücher gebe es immer in der Mehrzahl, die Wahrheit könne nur eine sein und daher in keinem Buch stehen. Doch ist noch niemand auf die Idee gekommen, sich vor ein Bücherregal zu stellen, einen Band nach dem anderen herauszuziehen, einzelne Sätze vorzulesen und sich dann zu beklagen, daß kein Zusammenhang zu erkennen sei.

Der 16. Juni dieses Jahres kann nur dann ein Bloomsday im Sinne des Welt-Alltags der Epoche gewesen sein, wenn der heutige Jedermann an einem gewöhnlichen Tag nicht mehr auf die Straße träte. Wer aber außer Frührentnern und Schriftstellern kann es sich leisten, den ganzen Tag in die Röhre zu gucken? Und wird, wer stundenlang stillsitzen kann, wirklich so unruhig sein, daß er alle paar Minuten umschalten muß? Von allen strategischen Elementen im Zapping wie der Absicht, Werbeprogrammen zu entgehen, müßte Kempowski abstrahieren, um sein mechanisches Weiterknipsen als normal auszugeben. Nimmt man zu seinen Gunsten an, daß die meisten Zuschauer in der Tat keine fünf Minuten auf demselben Kanal bleiben, so ist Kempowskis Leser doch keineswegs in der Lage des angeblich typischen Zappers. Die Niederschrift reduziert die Sendungen nämlich auf die Tonspur oder, noch genauer, auf die mündliche Rede: Alle Beteiligten werden unter den Abkürzungen "m. S." und "w. S." für "männliche Stimme" und "weibliche Stimme" geführt. Nun heißt das Medium nicht umsonst Fernsehen; das Fernhören gibt es schon länger, man nennt es auch Radio. Während der Leser zunächst nicht weiß, ob "m. S." und "w. S." in einer Studioküche plaudern oder auf der Brücke eines Raumschiffs, sieht der Zuschauer auf den ersten Blick, daß der Jogginganzug bei Bärbel Schäfer sitzt und der Zweireiher in der Bonner Runde.

Man könnte die Anonymität als Kunstgriff der Abstraktion rechtfertigen, der die Austauschbarkeit der Figuren hinter den Charaktermasken enthüllt. Es gibt indes einige männliche Stimmen, die offenbar auch im allgemeinen Gerede unverwechselbar bleiben und von Kempowski identifiziert werden: Heiner Müller, Helmut Kohl, Theo Waigel und Klaus Kinkel. Diese Inkonsequenz ist charakteristisch für ein Buch, das handwerklich so schlecht gemacht ist, wie es sich keine Fernsehproduktion erlauben dürfte. Das Register wäre entbehrlich, wenn demonstriert werden sollte, daß schlechthin beliebig ist, was im Fernsehen zur Sprache kommt. Wenn aber dokumentiert werden soll, worüber am 16. Juni tatsächlich gesprochen wurde, ist es in grotesker Weise unvollständig. Nicht einmal Eigennamen sind annähernd vollständig erfaßt. Bizarr war die Idee, auch den Rundfunk anzuzapfen und regelmäßig die Wettervorhersage und die Verkehrshinweise des Deutschlandfunks abzurufen.

Wenn die monotonen Meldungen vom Westhofener Kreuz eine dichte Wolkendecke vor das geistige Auge des Lesers treiben, dann hat allein Walter Kempowski diese niederdrückende Langeweile erzeugt. Freilich war er gar nicht allein. Die knappen Angaben über die Herstellung nennen elf Assistenten. Der Apparat ist da, also muß man ihn ausnutzen: Nach dieser Logik hat Kempowski alle erreichbaren Stationen angewählt, auch fremdsprachliche. Wenn solche Eklektik Mischmasch hervorbringt, hat das wenig mit "unserer unmittelbaren Gegenwart, ihrer kulturellen, politischen, privaten und öffentlichen Befindlichkeit" zu tun, der laut Klappentext Kempowskis Interesse gilt: Seit dem Turmbau zu Babel hätte man sich denken können, daß ein italienischer Sender auf italienisch senden würde. Der Aufwand für die Aufzeichnung des Gesendeten muß fast so groß gewesen sein wie der für seine Produktion. Selbstlos hat der Bertelsmann-Konzern Kempowski das Werkzeug für die Entlarvung des Massenmediums zur Verfügung gestellt.

Die sprachliche Gestalt des Endprodukts muß man dem Autor zurechnen, der auf der Titelseite erscheint und mit dem Werk sogar auf Lesereise unterwegs ist. (Wie mag er wohl als w. S. klingen - und erst als Klaus Kinkel?) Die englischen Passagen strotzen vor Fehlern. Was muß Kempowski sich gewundert haben, daß schon um neun Uhr fünfunddreißig weibliche Stimmen im englischen Fernsehen nach Gesetzen gegen Heizer riefen! Bei den vermeintlichen "stokers" handelt es sich freilich um "stalkers", Männer, die Frauen ihre Gegenwart aufdrängen. Man darf bezweifeln, daß der liberale Umgang mit dem sächsischen Genitiv als Tribut an die eigenwillige Orthographie von Joyce zu verstehen ist. Die Angaben über das Paralelgeschehen im "Ulysses", die Kempowski jeweils zur vollen Stunde einrückt, verdanken sich jedenfalls nicht eigener Lektüre, sondern "sind dem Internet entnommen". Wenig Aussicht auf Übernahme durch die Joyce-Forschung hat Kempowskis Vorschlag, Bloom um elf Uhr morgens nicht nur zu Paddy Dignams Beerdigung, sondern gleichzeitig auch in die Redaktion des "Freeman's Journal" zu schicken - wenn diese Verdoppelung des Körpers auch ein reizvoller Kontrapunkt zum Leitmotiv der Seelenwanderung wäre.

Die Episode im Redaktionsbüro beherrscht das Thema der Formung von Sprache und Erfahrung durch die Medien. Der Erzähler schafft Ordnung, indem er Schlagzeilen einschiebt. Unter der Überschrift "Wie ein großes Tagesorgan entsteht" gibt er Gedanken Blooms über die Reize einer Rubrik wieder, die man als gedrucktes Fernsehen betrachten könnte. "Personalnachrichten A. I. B. Alles in Bildern. Wohlgestaltete Badende an goldenem Strand. Der größte Ballon der Welt. Schwestern feiern Doppelhochzeit. Zwei Bräutigame, einander herzlich anlachend." Illustriertenfotos, Trivialromane, Schlager: Da ist der Stoff, aus dem Blooms Träume sind. Kempowskis Projekt liegt die unausgesprochene Prämisse zugrunde, daß 1904 das wahre Leben erfahren wurde, um das das Fernsehen die Menschen von 1997 betrügt. Er beklagt einen Verlust der Unschuld und hat sein Werk deshalb mit "Kinderporträts aus der Zeit um 1904" illustriert. Aber der Listenreichtum des modernen Odysseus bewährte sich in Blooms Fähigkeit, den Lügen der populären Kultur seine persönliche Wahrheit abzugewinnen.

Leopold Bloom ging aus dem Haus und holte auf der Post den Liebesbrief einer Dame ab, von der er weder Stimme noch Aussehen kannte, weil man sich unter Pseudonymen schrieb. Walter Kempowski hockte sich vor die Kiste und legte die Beine hoch; zwischen elf und zwölf Uhr morgens schaltete er sich immer wieder in eine Talkshow ein, wo Betroffene das Für und Wider von Brustvergrößerungen debattierten. Bloom kam abends an den Strand von Sandymount, wo er Gerty MacDowell beobachtete, die ihn beobachtete, wie er sie beobachtete. Beide waren einsam, beide träumten von der Liebe; sie verschmolzen, ohne sich zu berühren. Kempowski saß auch dann noch vor dem Fernseher, als auf fast allen Kanälen nur noch eine Nachricht gesendet wurde: "Hast du Lust auf ein ganz besonderes Erlebnis? Wähle Null-hundertneunzig-neunzig-siebzig-neunzig. Ruf jetzt an!"

Wie ein vom Verlag verbreiteter Tagebuchauszug verrät, hat zwar der Kapitän dem Sirenenruf widerstanden, nicht aber seine Leute. "Eigentlich schade, daß Krüger und Wagner das erotische Telefonat nicht fortgesetzt haben. Als Hinweis auf Molly wär's ganz nützlich gewesen. ,Ja bist du denn blöd? Fällt dir nichts ein?' sagte die Dame, und da legten sie rasch auf." Mehr als den sprachlosen Stenographen ist Walter Kempowski auch nicht eingefallen.

Walter Kempowski: "Bloomsday '97". Albrecht Knaus Verlag, München 1997. 396 S., geb., 59,90 DM.

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