Warum gibt es immer mehr junge Erwachsene, die ihr Elternhaus nicht verlassen und bis ins mittlere Lebensalter bei Vater und Mutter wohnen wollen? Warum sind Eltern-Kind-Bindungen unauflöslich? Warum bestimmen sie unser Schicksal von der Geburt bis zum Tod? Der Autor geht Fragen nach, die Jeden im innersten bewegen. Er verfolgt das faszinierende Panorama der menschlichen Urbeziehung über ihre verschiedenen Entwicklungsstufen und wechselt dabei die jeweilige Perspektive der Eltern und der heranwachsenden Kinder. Petri schildert die geglückten Verläufe und die Klippen, die sich bei der Lösung des Konflikts zwischen Bindung und Freiheit auftun. Dabei geht er ausführlich der Frage nach, wie sich Schwierigkeiten im Eltern-Kind-Verhältnis bewältigen lassen. Ein psychologisch wichtiges Buch zum Verständnis der elementarsten Beziehung unseres Lebens.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 11.07.2007Gluckenmütter, lasst los!
Horst Petri warnt: "Bloß nicht zu viel Liebe", sonst leidet Ihr Kind
Ziel der Erziehung sei es, ein Individuum mit der Menge an Neurosen zu beladen, die es gerade ertragen kann, ohne zusammenzubrechen. Der Dichter W.H. Auden soll diese bitterbösen Worte Mitte des vergangenen Jahrhunderts aufgeschrieben haben. Jahre später stapelten sich meist fragwürdige Pädagogik-Ratgeber auf den Nachttischen besorgter Eltern, um dem Nachwuchs dieses Schicksal zu ersparen. Das Buch des Kinder- und Jugendpsychiaters Horst Petri, provokant "Bloß nicht zu viel Liebe" genannt, soll nicht als einer dieser Ratgeber dienen, betont der Autor auf den ersten Seiten, und doch finden sich in seinem Werk jede Menge Empfehlungen. Eine Anleitung zu liebloser Kindererziehung, wie es der Titel des Buches andeutet, dazu noch wissenschaftlich abgesegnet, ist es allerdings nicht. Der Untertitel verrät weitaus mehr über den Inhalt: "Eltern und Kinder zwischen Bindung und Freiheit".
Mit der Geburt des Kindes beginnend und dem Tod der Eltern schließend widmet sich Petri Entwicklungsstufe um Entwicklungsstufe dem Gleichgewicht, das Eltern beim Umgang mit ihren Kindern finden müssen. Petri argumentiert dabei mit entwicklungspsychologischen Daten der Bindungsforschung. Diese zeigten, dass die Gestaltung des Selbstkonzepts der Heranwachsenden trotz des ihnen angeborenen Potentials an Temperament, Aussehen, Intelligenz, Begabung und Talenten und trotz ihres verzweigten Netzwerks von Freunden, Erwachsenen und Partnern stark abhängig ist von der Qualität der frühen Elternbindung. Demnach "scheinen die Korrekturmöglichkeiten durch elternunabhängige Erfahrungen sehr eingeschränkt zu sein". Die bekannte Gefahr ist, es mit der familiären Geborgenheit zu übertreiben. Eltern müssten ihr Kind "zu seiner Welteroberung und seiner Selbstvergewisserung über seine gewachsenen Fähigkeiten freigeben können, aber es auch bei seinem glücklichen Zurückkommen wieder freundlich auffangen".
Die Aufgaben der Eltern teilt Petri in klassische Geschlechterrollen auf. Die Mütter bevorzugen "ruhige Spiele mit Puppen oder Stofftieren", die Väter balgen sich mit ihren Kindern. Wenn der Nachwuchs ein Muttersöhnchen wird, sind die Väter unschuldig, denn sie "ermöglichen ihren Kindern die Eroberung der Welt". Somit dürfte in erster Linie den klammernden Frauen die Mahnung im Buchtitel gelten.
Zu viel des Guten könne auch auf ganz andere Weise ins erzieherische Unglück führen, schreibt Petri. Ein Phänomen, das er als Zeichen der Zeit versteht. Er schildert den Fall einer Mutter, die all ihre Liebe auf den Sohn projizierte. Auf seine frühe Selbständigkeit reagierte sie gekränkt. Sie stempelte ihren Sohn als missraten ab und grenzte ihn aus der Familie aus. Diese Art des Abwehrmechanismus käme häufiger vor, als man vermute, schreibt Petri, "sie dürfte mit den strukturellen Veränderungen der Familie, die eine starke emotionale Angewiesenheit vieler Eltern auf ihre Kinder gefördert haben, eng zusammenhängen".
Mit unspektakulären Erkenntnissen wie diesen revolutioniert Petri die Pädagogik nicht. Ein eigenwilliger Unterhaltungswert kann dem Buch am Ende jedoch nicht abgesprochen werden. Denn der Autor ergänzt die theoretische Analyse der Eltern-Kind-Beziehung mit Beispielen aus seiner Lebenswelt: Der Psychiater gewährt dem Leser einen Blick durch das Schlüsselloch seines Behandlungszimmers. Die anschaulichen Schilderungen und der Duktus, in dem sie verfasst sind, verraten dabei oft mehr über die Eitelkeiten des Autors als über die Anliegen seiner Patienten. So berichtet er etwa von einem Gespräch mit einer Mutter, deren achtzehn Jahre alte Tochter sich nach einem längeren Auslandsaufenthalt merklich gehenlässt, ungewohnt rebellisch ist - dafür aber zufrieden. "Sicher möchte sie nach dem Abitur Schauspielerin werden", diagnostiziert Petri. Die Mutter reagiert mit den Worten: "Oh, bin ich hier beim Hellseher gelandet?" Die Frau erzählt, dass sie in den Tagebüchern ihrer Tochter gelesen habe, und erfuhr, dass die hohen Ansprüche der Eltern sie überfordert hätten. Ob dieser Zustand der Tochter denn besorgniserregend sei, fragt die Mutter. ",Oder', fügt sie zögernd hinzu, ,bin ich eventuell das Problem?' ,Ich glaube Letzteres', sage ich mit einem bedauernden Lächeln."
W.H. Auden blieben solch unangenehme Besuche bei Elternberatern erspart: Seinem möglichen Scheitern bei der Kindeserziehung entzog sich der Dichter durch Kinderlosigkeit.
MARTIN WITTMANN
Horst Petri: "Bloß nicht zu viel Liebe". Eltern und Kinder zwischen Bindung und Freiheit. Kreuz-Verlag, Stuttgart 2007. 240 S., geb., 19,95 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Horst Petri warnt: "Bloß nicht zu viel Liebe", sonst leidet Ihr Kind
Ziel der Erziehung sei es, ein Individuum mit der Menge an Neurosen zu beladen, die es gerade ertragen kann, ohne zusammenzubrechen. Der Dichter W.H. Auden soll diese bitterbösen Worte Mitte des vergangenen Jahrhunderts aufgeschrieben haben. Jahre später stapelten sich meist fragwürdige Pädagogik-Ratgeber auf den Nachttischen besorgter Eltern, um dem Nachwuchs dieses Schicksal zu ersparen. Das Buch des Kinder- und Jugendpsychiaters Horst Petri, provokant "Bloß nicht zu viel Liebe" genannt, soll nicht als einer dieser Ratgeber dienen, betont der Autor auf den ersten Seiten, und doch finden sich in seinem Werk jede Menge Empfehlungen. Eine Anleitung zu liebloser Kindererziehung, wie es der Titel des Buches andeutet, dazu noch wissenschaftlich abgesegnet, ist es allerdings nicht. Der Untertitel verrät weitaus mehr über den Inhalt: "Eltern und Kinder zwischen Bindung und Freiheit".
Mit der Geburt des Kindes beginnend und dem Tod der Eltern schließend widmet sich Petri Entwicklungsstufe um Entwicklungsstufe dem Gleichgewicht, das Eltern beim Umgang mit ihren Kindern finden müssen. Petri argumentiert dabei mit entwicklungspsychologischen Daten der Bindungsforschung. Diese zeigten, dass die Gestaltung des Selbstkonzepts der Heranwachsenden trotz des ihnen angeborenen Potentials an Temperament, Aussehen, Intelligenz, Begabung und Talenten und trotz ihres verzweigten Netzwerks von Freunden, Erwachsenen und Partnern stark abhängig ist von der Qualität der frühen Elternbindung. Demnach "scheinen die Korrekturmöglichkeiten durch elternunabhängige Erfahrungen sehr eingeschränkt zu sein". Die bekannte Gefahr ist, es mit der familiären Geborgenheit zu übertreiben. Eltern müssten ihr Kind "zu seiner Welteroberung und seiner Selbstvergewisserung über seine gewachsenen Fähigkeiten freigeben können, aber es auch bei seinem glücklichen Zurückkommen wieder freundlich auffangen".
Die Aufgaben der Eltern teilt Petri in klassische Geschlechterrollen auf. Die Mütter bevorzugen "ruhige Spiele mit Puppen oder Stofftieren", die Väter balgen sich mit ihren Kindern. Wenn der Nachwuchs ein Muttersöhnchen wird, sind die Väter unschuldig, denn sie "ermöglichen ihren Kindern die Eroberung der Welt". Somit dürfte in erster Linie den klammernden Frauen die Mahnung im Buchtitel gelten.
Zu viel des Guten könne auch auf ganz andere Weise ins erzieherische Unglück führen, schreibt Petri. Ein Phänomen, das er als Zeichen der Zeit versteht. Er schildert den Fall einer Mutter, die all ihre Liebe auf den Sohn projizierte. Auf seine frühe Selbständigkeit reagierte sie gekränkt. Sie stempelte ihren Sohn als missraten ab und grenzte ihn aus der Familie aus. Diese Art des Abwehrmechanismus käme häufiger vor, als man vermute, schreibt Petri, "sie dürfte mit den strukturellen Veränderungen der Familie, die eine starke emotionale Angewiesenheit vieler Eltern auf ihre Kinder gefördert haben, eng zusammenhängen".
Mit unspektakulären Erkenntnissen wie diesen revolutioniert Petri die Pädagogik nicht. Ein eigenwilliger Unterhaltungswert kann dem Buch am Ende jedoch nicht abgesprochen werden. Denn der Autor ergänzt die theoretische Analyse der Eltern-Kind-Beziehung mit Beispielen aus seiner Lebenswelt: Der Psychiater gewährt dem Leser einen Blick durch das Schlüsselloch seines Behandlungszimmers. Die anschaulichen Schilderungen und der Duktus, in dem sie verfasst sind, verraten dabei oft mehr über die Eitelkeiten des Autors als über die Anliegen seiner Patienten. So berichtet er etwa von einem Gespräch mit einer Mutter, deren achtzehn Jahre alte Tochter sich nach einem längeren Auslandsaufenthalt merklich gehenlässt, ungewohnt rebellisch ist - dafür aber zufrieden. "Sicher möchte sie nach dem Abitur Schauspielerin werden", diagnostiziert Petri. Die Mutter reagiert mit den Worten: "Oh, bin ich hier beim Hellseher gelandet?" Die Frau erzählt, dass sie in den Tagebüchern ihrer Tochter gelesen habe, und erfuhr, dass die hohen Ansprüche der Eltern sie überfordert hätten. Ob dieser Zustand der Tochter denn besorgniserregend sei, fragt die Mutter. ",Oder', fügt sie zögernd hinzu, ,bin ich eventuell das Problem?' ,Ich glaube Letzteres', sage ich mit einem bedauernden Lächeln."
W.H. Auden blieben solch unangenehme Besuche bei Elternberatern erspart: Seinem möglichen Scheitern bei der Kindeserziehung entzog sich der Dichter durch Kinderlosigkeit.
MARTIN WITTMANN
Horst Petri: "Bloß nicht zu viel Liebe". Eltern und Kinder zwischen Bindung und Freiheit. Kreuz-Verlag, Stuttgart 2007. 240 S., geb., 19,95 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
Wenn Horst Petri sein Buch auch nicht als Eltern-Ratgeber verstanden sehen will, geizt er darin doch nicht mit Anregungen für eine gelungene Eltern-Kind-Beziehung, stellt Rezensent Martin Wittmann fest. Während er den Titel als pure Provokation abtut, hält er sich an den Untertitel, der verspricht, die Beziehung zwischen Eltern und ihren Kindern zwischen "Bindung" und "Freiheit" auszuloten. Dem Rezensenten fällt auf, dass sich der Kinder- und Jugendpsychiater an der traditionellen Rollenverteilung von Eltern orientiert, in der die Kinder mit dem Vater toben und die Mutter überwiegend als Glucke auftritt, was Wittmann nicht weiter kommentiert. Besonders unterhaltsam fand er die Schilderungen, die Petri neben seinen theoretischen Darlegungen aus seinem Praxisalltag mitteilt und die mehr über den Autor und dessen "Eitelkeiten" verraten als über den eigentlichen Gegenstand seines Buches, wie Wittmann amüsiert meint.
© Perlentaucher Medien GmbH
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