Im London der Neunzigerjahre war Jay einer der vielversprechendsten jungen Künstler. Heute hat er keinen festen Wohnsitz, er schläft in seinem Auto und liefert Lebensmittel in Upstate New York aus. Die Pandemie ist in ihrer Hochphase, jeder ist verunsichert und hat Angst. Jay muss eine Lieferung zu einem riesigen, mit einem ausgeklügelten Alarmsystem gesicherten Anwesen bringen, das mitten im Wald liegt. Als man ihm die Tür öffnet, sieht er sich der einen Person gegenüber, mit der er am wenigsten gerechnet hätte ... Vor über zwanzig Jahren hatten Jay und Alicia eine stürmische, selbstzerstörerische Beziehung, bis Alicia mit seinem besten Freund Rob durchbrannte, der später in New York zum gefeierten Kunststar aufsteigt. Trotz Schutzmaske und seines desolaten Zustands erkennt Alicia Jay sofort und lädt ihn ein, eine Zeit lang auf dem Anwesen Zuflucht zu suchen, zusammen mit Rob und einem befreundeten Paar. Eine schmerzhafte Vergangenheitsbewältigung wird in Gang gesetzt, bei der langsam, aber sicher alles aus dem Ruder läuft ... Mit »Blue Ruin« schafft Hari Kunzru ein groteskes Porträt der Kunstwelt und zugleich ein hochaktuelles Gesellschaftspanorama, das unter die Haut geht.
»Hari Kunzru ist ein begnadeter Geschichtenerzähler.« THE NEW YORK TIMES
Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
"Einen extraordinären Künstlerroman" hat Hari Kunzru geschrieben, bekundet Rezensentin Rose-Maria Gropp: Im Zentrum steht der Protagonist Jay, der nach einer Corona-Infektion Job und Bleibe verloren hat und nun für einen Lieferdienst arbeitet. Eigentlich ist er aber Künstler und als er ein Anwesen beliefert, trifft er auf seine Verflossene und alte Bekannte aus der Kunstszene. Anlass für Jay, sich an vergangene Zeiten und Konflikte zu erinnern, so Gropp. Eine besondere Volte ist für sie die Behauptung des Protagonisten, gerade diese zwanzig Jahre außerhalb der Kunstszene seien sein größter künstlerischer Triumph gewesen. Eine aufschlussreiche und spannende Parabel auf den Kunstbetrieb, schließt die Kritikerin.
© Perlentaucher Medien GmbH
© Perlentaucher Medien GmbH
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 27.06.2024Sein Verschwinden war die Performance seines Lebens
Was nicht real ist, kann doch wahrhaftig sein: Mit "Blue Ruin" hat Hari Kunzru einen extraordinären Künstlerroman geschrieben.
Der Roman ist auch in den Vereinigten Staaten und Großbritannien erst in diesem Jahr erschienen, seine Rahmenhandlung ist in die Zeit des Corona-Lockdowns zurückverlegt. Hari Kunzru hat, wie er in einem Interview sagt, einen Covid-Roman geschrieben, die eingreifenden sozialen Wirkungen der Pandemie gehören zur aktuellen Folie von "Blue Ruin". Entscheidend aber ist die Frage danach, was Künstlersein meinen kann.
Alles beginnt damit, dass Jay, der Protagonist und Icherzähler, an Long Covid leidend, seit Wochen in seinem Auto schläft und am Rand des physischen Ruins über eine App bestellte Lebensmittel ausfährt. Das führt ihn zu einem Anwesen in Upstate New York, jetzt Rückzugsort für vier Menschen. Zufällig und völlig unerwartet begegnet Jay so Alice wieder, mit der er zwanzig Jahre zuvor eine heftige, dann für beide selbstzerstörerische Beziehung in London führte. Nun steht Alice vor ihm und "strahlte eine Gesundheit aus, die durch Yoga, Massagen, frisch gepresste Säfte und Geld entstand". Sie erkennt ihn, trotz der Gesichtsmaske und seines miserablen Zustands, und lädt ihn ein, in einer Scheune zu bleiben, obwohl das vom Besitzer des Grundstücks streng untersagt ist.
Mit ihr im Haus sind Rob, in London einst Jays bester Freund, mit dem Alice ihn betrogen hatte, bevor sie ihn wortlos verließ - Rob ist inzwischen längst ihr Ehemann. Außerdem wohnen hier Robs Galerist Marshal, der sich, auch mit Waffen versehen, als extremer Prepper geriert, und seine junge Freundin Nicole. Das Line-up für eine Katastrophe ist programmiert, die alten Konflikte brechen auf wie schwärende Wunden.
Die aufregendsten Passagen des Romans verdanken sich allerdings dem Flashback, in den Jay sein Aufenthalt in diesem ländlichen Paradies führt. Er und Rob waren im London der Neunzigerjahre zwei aufstrebende junge Künstler, jeder auf seine Weise. Es war die Zeit, in der die Young British Artists und deren Filiationen triumphierten, bis in ihre Rückzugsgebiete folgte ihnen eine gierige Kohorte neuer Sammler, die nicht nur deren Kunst, sondern gleich die Künstler selbst zur Ware degradierten. Die Subkultur, gezeichnet von Drogenkonsum und Aufsässigkeit, droht zum Affentheater für eine reiche Klientel zu verkommen. Hari Kunzru schildert diese Atmosphäre bis an die Grenze der Satire so illusionslos wie bestechend. Während Rob sich mit seiner Malerei dem kommerziellen Erfolg andiente, empfand Jay diese Attitude für sich als Selbsttäuschung und Betrug, er wich aus in komplexe Diagramme, dann in auch körperlich gefährliche Performances, die indessen im herrschenden Milieu ebenfalls Beifall finden. Bis er endlich, übrigens mit Ankündigung, gänzlich aus der Kunstszene verschwand - und überhaupt von der Bildfläche in jedem Sinn des Worts.
In der Zwangsgemeinschaft der Covid-Geflüchteten begegnet Jay nun jäh seiner Vergangenheit wieder. Die verdrängten Erinnerungen an seine einstige Freundin, die ihn zunächst vor den anderen verbirgt, führen ihn zurück in die Zeiten seines künstlerischen Aufbruchs, in denen er und Alice als Paar regelrecht verklammert waren. Alice, die am Courtauld Institute studierte und Kuratorin werden wollte, entstammt einer traditionsverhafteten, wohlhabenden vietnamesisch-französischen Familie, ihre Ideale waren großräumig: "Kunst, behauptete sie, habe genauso viel mit sozialen Beziehungen wie mit Objekten zu tun, auf jeden Fall sehr viel mehr als mit (ein Ausdruck, den sie so verächtlich aussprach, dass er mir nicht mehr aus dem Kopf ging) visuellem Wohlgefallen." Jay wie auch Rob kommen aus der englischen Mittelschicht, deren Enge beide in der Kunstwelt entfliehen wollten. Während Rob schon allein optisch dieser Herkunft entspricht, empfindet Jay sich selbst, wie man nicht gleich zu Anfang erfährt, als "schwarz": "Mein biologischer Vater war schwarz. Aus Jamaika", wie seine Mutter glaubte, "wobei bei ihr tendenziell alle Schwarzen aus Jamaika kamen". Jay hat ihn nie gesehen, nicht einmal auf einem Foto. Kunzru, als Sohn einer Engländerin und eines Inders 1969 in London geboren, lässt diese unterschiedlichen Prägungen subkutan und effizient in seine Geschichte einfließen.
Die Dynamiken, die sich in der Scheinidylle entwickeln, folgen den ungeschriebenen Gesetzen einer geschlossenen Gesellschaft, nachdem Alice Jay bei den Mitbewohnern eingeführt hat. Kunzru geht dafür das Risiko ein, in den Dialogen Charaktere - außer seinen Icherzähler - auf (Kunst-)Figuren zurechtzustutzen. Rob, zwischenzeitlich zum Kunstmarktstar mit notorischem Gehabe avanciert, befindet sich in einer Schaffenskrise, die er mit Alkohol und Drogen kompensiert. Entsprechend alarmiert ist sein Galerist Marshal, den das Versagen seiner bisherigen Melkkuh in finanzielle Probleme zu stürzen droht.
Marshals aktuelle Gefährtin Nicole sehnt sich nach dem Ausbruch aus der unfreiwilligen Enklave. Und Alice, durchaus Nutznießerin der Ehe mit Rob, hat ihren Londoner Idealismus für humane Werte abgestreift. Sie handelt nur noch im ambivalenten Eigeninteresse, nicht zuletzt im Versuch, an die verwehten Intensitäten ihrer einstigen Beziehung zu Jay anzuknüpfen. Die scharfen entlarvenden Reden und Gegenreden im Haus evozieren die Anmutung eines Bühnenstücks. Das böse Gesellschaftsspiel inszeniert Kunzru gnadenlos.
Bleibt die ziemlich geniale Pointe: Die zwei Jahrzehnte seines Verschwindens waren Jays eigentliche, seine existenzielle Performance, die er als "Fugue" bezeichnet. Ihm sei bewusst geworden, "dass ich wie eine Maschine funktioniert hatte, die Leben in sich aufnahm und als Kunst wieder ausschied", begründet er vor den anderen eingangs seiner Erzählung über "Fugue" diese Passage in der Anonymität als Mensch, als Künstler zumal. Er will sich durchgeschlagen haben, abseits jeder (Kunst-)Öffentlichkeit, am Rand oder außerhalb geltender Gesetze. Er zog durch Asien, wie er berichtet, zunehmend mittellos, und heuerte auf einer Yacht an, lebte in Frankreich mit einer Gruppe von Autonomisten, schmuggelte Drogen von Nordafrika nach Spanien, um schließlich in Miami zu landen. Seither fristet er in den Vereinigten Staaten ein Leben in der Illegalität, mit übelsten Jobs, um schließlich in New York in seinem schrottigen Auto Fahrgäste zu transportieren. Der Covid-Infektion wegen verlor er seine letzte schäbige Unterkunft; der Essensbringdienst markiert Jays absoluten Tiefpunkt.
Ist diese negative Odyssee Hari Kunzrus schillerndem, zumindest in seinen Anfängen hypersensiblen Protagonisten zu glauben? Oder ist das ein kühl kalkulierter Kniff des Autors bei seiner Abrechnung mit der Verlogenheit respektive der fahrlässigen Leichtgläubigkeit einer sensationslüsternen Kunstszene? Entsprechend identifiziert der exaltierte Marshal Jay als Superstar der Stunde, der grade aufgrund seines jahrelangen Verschwindens zum fortdauernden Rumor im Internet avanciert ist.
Wahr oder falsch, diese Volte hat jedenfalls Klasse. Überhaupt wäre es ein Fehler, "Blue Ruin" als genuine Abbildung von Wirklichkeit zu lesen (was für gelungene Fiktion ohnehin blöde ist), wozu dieser Roman freilich in seiner Sprachmächtigkeit verleiten will, eingefangen in der deutschen Übersetzung von Nicolai von Schweder-Schreiner. Denn Kunzrus Held präsentiert - womöglich - keine im banalen Sinn reale, sondern vielmehr eine wahrhaftige Geschichte. Sie ist als extreme Parabel auf das lesbar, was zu Zeiten des Glaubens an intakte Subjektivität und mithin Identität noch Sinnsuche geheißen hätte. So sind endlich auch die Unterhaltungen im von der Außenwelt fast abgeschlossenen Bezirk der Covid-Gruppe in ihrer Plakativität, die ja ebenfalls Jay als Icherzähler reportiert, die konsequente Fortsetzung von "Fugue".
Dabei ist "Blue Ruin" kein zynischer Roman. Hari Kunzru liefert einen Beweis für die Möglichkeit fesselnden Erzählens, das sein Revier braucht und dieses lustvoll, bis hin zur bitteren Komik, abgrast. Dass "Blue Ruin" sich am Ende als Titel eines Gemäldes herausstellt, dessen Schöpfer uneindeutig ist, sei erwähnt: "Traurige Ruine" oder unerbittlich ruinöser Tribut für eine Anbiederung, die in einem grotesken Showdown zwischen Jay und Rob Gestalt gewinnt. Wohlfeile Antworten gibt es hier nicht. Und, doch ja, das auch - vielleicht: das Plädoyer für eine Kunst, die mehr kann, als Wände gefällig vollzumalen. "Der Ort, den ich gerade verlassen hatte", so das Resümee Jays, als er wegfährt, "erschien mir immer unwirklicher, eine Vision, eine Blase, und die Zeit, die ich dort verbracht hatte, gerade mal wie ein Traum". Seine "Fugue" darf als geschlossen betrachtet werden. Oder nicht? ROSE-MARIA GROPP
Hari Kunzru: "Blue Ruin". Roman.
Aus dem Englischen von Nicolai von Schweder-Schreiner. Verlagsbuchhandlung Liebeskind, München 2024. 344 S., geb. 24,- Euro.
Alle Rechte vorbehalten. © Frankfurter Allgemeine Zeitung GmbH, Frankfurt am Main.
Was nicht real ist, kann doch wahrhaftig sein: Mit "Blue Ruin" hat Hari Kunzru einen extraordinären Künstlerroman geschrieben.
Der Roman ist auch in den Vereinigten Staaten und Großbritannien erst in diesem Jahr erschienen, seine Rahmenhandlung ist in die Zeit des Corona-Lockdowns zurückverlegt. Hari Kunzru hat, wie er in einem Interview sagt, einen Covid-Roman geschrieben, die eingreifenden sozialen Wirkungen der Pandemie gehören zur aktuellen Folie von "Blue Ruin". Entscheidend aber ist die Frage danach, was Künstlersein meinen kann.
Alles beginnt damit, dass Jay, der Protagonist und Icherzähler, an Long Covid leidend, seit Wochen in seinem Auto schläft und am Rand des physischen Ruins über eine App bestellte Lebensmittel ausfährt. Das führt ihn zu einem Anwesen in Upstate New York, jetzt Rückzugsort für vier Menschen. Zufällig und völlig unerwartet begegnet Jay so Alice wieder, mit der er zwanzig Jahre zuvor eine heftige, dann für beide selbstzerstörerische Beziehung in London führte. Nun steht Alice vor ihm und "strahlte eine Gesundheit aus, die durch Yoga, Massagen, frisch gepresste Säfte und Geld entstand". Sie erkennt ihn, trotz der Gesichtsmaske und seines miserablen Zustands, und lädt ihn ein, in einer Scheune zu bleiben, obwohl das vom Besitzer des Grundstücks streng untersagt ist.
Mit ihr im Haus sind Rob, in London einst Jays bester Freund, mit dem Alice ihn betrogen hatte, bevor sie ihn wortlos verließ - Rob ist inzwischen längst ihr Ehemann. Außerdem wohnen hier Robs Galerist Marshal, der sich, auch mit Waffen versehen, als extremer Prepper geriert, und seine junge Freundin Nicole. Das Line-up für eine Katastrophe ist programmiert, die alten Konflikte brechen auf wie schwärende Wunden.
Die aufregendsten Passagen des Romans verdanken sich allerdings dem Flashback, in den Jay sein Aufenthalt in diesem ländlichen Paradies führt. Er und Rob waren im London der Neunzigerjahre zwei aufstrebende junge Künstler, jeder auf seine Weise. Es war die Zeit, in der die Young British Artists und deren Filiationen triumphierten, bis in ihre Rückzugsgebiete folgte ihnen eine gierige Kohorte neuer Sammler, die nicht nur deren Kunst, sondern gleich die Künstler selbst zur Ware degradierten. Die Subkultur, gezeichnet von Drogenkonsum und Aufsässigkeit, droht zum Affentheater für eine reiche Klientel zu verkommen. Hari Kunzru schildert diese Atmosphäre bis an die Grenze der Satire so illusionslos wie bestechend. Während Rob sich mit seiner Malerei dem kommerziellen Erfolg andiente, empfand Jay diese Attitude für sich als Selbsttäuschung und Betrug, er wich aus in komplexe Diagramme, dann in auch körperlich gefährliche Performances, die indessen im herrschenden Milieu ebenfalls Beifall finden. Bis er endlich, übrigens mit Ankündigung, gänzlich aus der Kunstszene verschwand - und überhaupt von der Bildfläche in jedem Sinn des Worts.
In der Zwangsgemeinschaft der Covid-Geflüchteten begegnet Jay nun jäh seiner Vergangenheit wieder. Die verdrängten Erinnerungen an seine einstige Freundin, die ihn zunächst vor den anderen verbirgt, führen ihn zurück in die Zeiten seines künstlerischen Aufbruchs, in denen er und Alice als Paar regelrecht verklammert waren. Alice, die am Courtauld Institute studierte und Kuratorin werden wollte, entstammt einer traditionsverhafteten, wohlhabenden vietnamesisch-französischen Familie, ihre Ideale waren großräumig: "Kunst, behauptete sie, habe genauso viel mit sozialen Beziehungen wie mit Objekten zu tun, auf jeden Fall sehr viel mehr als mit (ein Ausdruck, den sie so verächtlich aussprach, dass er mir nicht mehr aus dem Kopf ging) visuellem Wohlgefallen." Jay wie auch Rob kommen aus der englischen Mittelschicht, deren Enge beide in der Kunstwelt entfliehen wollten. Während Rob schon allein optisch dieser Herkunft entspricht, empfindet Jay sich selbst, wie man nicht gleich zu Anfang erfährt, als "schwarz": "Mein biologischer Vater war schwarz. Aus Jamaika", wie seine Mutter glaubte, "wobei bei ihr tendenziell alle Schwarzen aus Jamaika kamen". Jay hat ihn nie gesehen, nicht einmal auf einem Foto. Kunzru, als Sohn einer Engländerin und eines Inders 1969 in London geboren, lässt diese unterschiedlichen Prägungen subkutan und effizient in seine Geschichte einfließen.
Die Dynamiken, die sich in der Scheinidylle entwickeln, folgen den ungeschriebenen Gesetzen einer geschlossenen Gesellschaft, nachdem Alice Jay bei den Mitbewohnern eingeführt hat. Kunzru geht dafür das Risiko ein, in den Dialogen Charaktere - außer seinen Icherzähler - auf (Kunst-)Figuren zurechtzustutzen. Rob, zwischenzeitlich zum Kunstmarktstar mit notorischem Gehabe avanciert, befindet sich in einer Schaffenskrise, die er mit Alkohol und Drogen kompensiert. Entsprechend alarmiert ist sein Galerist Marshal, den das Versagen seiner bisherigen Melkkuh in finanzielle Probleme zu stürzen droht.
Marshals aktuelle Gefährtin Nicole sehnt sich nach dem Ausbruch aus der unfreiwilligen Enklave. Und Alice, durchaus Nutznießerin der Ehe mit Rob, hat ihren Londoner Idealismus für humane Werte abgestreift. Sie handelt nur noch im ambivalenten Eigeninteresse, nicht zuletzt im Versuch, an die verwehten Intensitäten ihrer einstigen Beziehung zu Jay anzuknüpfen. Die scharfen entlarvenden Reden und Gegenreden im Haus evozieren die Anmutung eines Bühnenstücks. Das böse Gesellschaftsspiel inszeniert Kunzru gnadenlos.
Bleibt die ziemlich geniale Pointe: Die zwei Jahrzehnte seines Verschwindens waren Jays eigentliche, seine existenzielle Performance, die er als "Fugue" bezeichnet. Ihm sei bewusst geworden, "dass ich wie eine Maschine funktioniert hatte, die Leben in sich aufnahm und als Kunst wieder ausschied", begründet er vor den anderen eingangs seiner Erzählung über "Fugue" diese Passage in der Anonymität als Mensch, als Künstler zumal. Er will sich durchgeschlagen haben, abseits jeder (Kunst-)Öffentlichkeit, am Rand oder außerhalb geltender Gesetze. Er zog durch Asien, wie er berichtet, zunehmend mittellos, und heuerte auf einer Yacht an, lebte in Frankreich mit einer Gruppe von Autonomisten, schmuggelte Drogen von Nordafrika nach Spanien, um schließlich in Miami zu landen. Seither fristet er in den Vereinigten Staaten ein Leben in der Illegalität, mit übelsten Jobs, um schließlich in New York in seinem schrottigen Auto Fahrgäste zu transportieren. Der Covid-Infektion wegen verlor er seine letzte schäbige Unterkunft; der Essensbringdienst markiert Jays absoluten Tiefpunkt.
Ist diese negative Odyssee Hari Kunzrus schillerndem, zumindest in seinen Anfängen hypersensiblen Protagonisten zu glauben? Oder ist das ein kühl kalkulierter Kniff des Autors bei seiner Abrechnung mit der Verlogenheit respektive der fahrlässigen Leichtgläubigkeit einer sensationslüsternen Kunstszene? Entsprechend identifiziert der exaltierte Marshal Jay als Superstar der Stunde, der grade aufgrund seines jahrelangen Verschwindens zum fortdauernden Rumor im Internet avanciert ist.
Wahr oder falsch, diese Volte hat jedenfalls Klasse. Überhaupt wäre es ein Fehler, "Blue Ruin" als genuine Abbildung von Wirklichkeit zu lesen (was für gelungene Fiktion ohnehin blöde ist), wozu dieser Roman freilich in seiner Sprachmächtigkeit verleiten will, eingefangen in der deutschen Übersetzung von Nicolai von Schweder-Schreiner. Denn Kunzrus Held präsentiert - womöglich - keine im banalen Sinn reale, sondern vielmehr eine wahrhaftige Geschichte. Sie ist als extreme Parabel auf das lesbar, was zu Zeiten des Glaubens an intakte Subjektivität und mithin Identität noch Sinnsuche geheißen hätte. So sind endlich auch die Unterhaltungen im von der Außenwelt fast abgeschlossenen Bezirk der Covid-Gruppe in ihrer Plakativität, die ja ebenfalls Jay als Icherzähler reportiert, die konsequente Fortsetzung von "Fugue".
Dabei ist "Blue Ruin" kein zynischer Roman. Hari Kunzru liefert einen Beweis für die Möglichkeit fesselnden Erzählens, das sein Revier braucht und dieses lustvoll, bis hin zur bitteren Komik, abgrast. Dass "Blue Ruin" sich am Ende als Titel eines Gemäldes herausstellt, dessen Schöpfer uneindeutig ist, sei erwähnt: "Traurige Ruine" oder unerbittlich ruinöser Tribut für eine Anbiederung, die in einem grotesken Showdown zwischen Jay und Rob Gestalt gewinnt. Wohlfeile Antworten gibt es hier nicht. Und, doch ja, das auch - vielleicht: das Plädoyer für eine Kunst, die mehr kann, als Wände gefällig vollzumalen. "Der Ort, den ich gerade verlassen hatte", so das Resümee Jays, als er wegfährt, "erschien mir immer unwirklicher, eine Vision, eine Blase, und die Zeit, die ich dort verbracht hatte, gerade mal wie ein Traum". Seine "Fugue" darf als geschlossen betrachtet werden. Oder nicht? ROSE-MARIA GROPP
Hari Kunzru: "Blue Ruin". Roman.
Aus dem Englischen von Nicolai von Schweder-Schreiner. Verlagsbuchhandlung Liebeskind, München 2024. 344 S., geb. 24,- Euro.
Alle Rechte vorbehalten. © Frankfurter Allgemeine Zeitung GmbH, Frankfurt am Main.