Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 25.11.201810. Sex mit dir und die Farbe Blau
Als ich dieses Buch zum ersten Mal gelesen habe, musste ich es plötzlich zuklappen. Das war mir noch nie passiert. Oder jedenfalls nicht aus demselben Grund. Man hört auf, Bücher zu lesen, weil sie langweilig oder doof sind. Maggie Nelsons Sätze aber fand ich zu schön, um sie einfach alle auf einmal wegzulesen. Ich war im Schwimmbad und stellte mir vor, wie mich diese Sätze abends im Bett glücklich machen könnten. Oder in einem verspäteten Zug. Oder sogar beim Vorlesen, mit jemandem zusammen. In den folgenden Tagen habe ich tatsächlich die Seiten streng rationiert. Es sind leider nicht besonders viele, nur 112. Was an ihnen so toll ist?
Sie handeln von einer gescheiterten Liebe und von der Farbe Blau. "Würde ich heute auf meinem Sterbebett liegen", schreibt die amerikanische Autorin Maggie Nelson, "würde ich meine Liebe für die Farbe Blau und Sex mit dir die zwei süßesten Sinneserfahrungen nennen, die ich auf der Erde gekannt habe." Damit wären wir bei Nelsons besonderer Art zu schreiben. Es heißt "Sex mit dir", wie in einem Brief oder einer Beichte an die geliebte Person. Jedes Geständnis ist im Buch ein Abschnitt, der eine Nummer trägt. Wer manchmal religiöse Literatur liest, kennt diese Form. Im Katechismus sind Fragen und Antworten oft durchnumeriert. Bei Maggie Nelson gibt es 240 Antworten auf eine Frage. Sie lautet: Warum lieben wir, was wir lieben?
Maggie Nelson lässt viele zu Wort kommen, wie bereits in ihrem großartigen Buch "Die Argonauten", das zuletzt auf Deutsch erschien. Sie erzählt Trauriges, Lustiges, Schönes und Abseitiges. Goethe und seine Farbenlehre sind natürlich dabei, die Philosophin Simone Weil oder die Malerin Joan Mitchell. Es geht um die Stimmung, die im Englischen "feeling blue" heißt, oder um Biologen, mit denen sie sich über Tiere unterhält, die der Farbe Blau komplett verfallen sind, wie etwa der Laubenvogel. Er schmückt sein Nest mit blauen Fundstücken. Nelson schreibt: "Wenn ich Fotos von diesen blauen Laubenvögeln sehe, fühle ich so viel Verlangen, dass ich mich frage, ob ich vielleicht in die falsche Spezies hineingeboren wurde."
Jetzt aber zum großen Kunststück dieses Buchs: Maggie Nelson schreibt Sätze, die auch dann wahr bleiben, wenn man selbst nicht von Blau besessen ist. Über den Ozean hält sie fest, dass sein Blau "mein Leben außergewöhnlich macht, einfach nur weil ich es gesehen habe. Solche schönen Dinge gesehen zu haben. Sich in ihrer Mitte zu befinden. Ohne jede Wahl." Dinge, die das Leben außergewöhnlich machen, nur weil man sie gesehen hat. Das Glücksgefühl kenne ich, ohne einen Satz dafür gehabt zu haben. Jetzt gibt es ihn. Danke, Maggie Nelson, das Buch werde ich Weihnachten sehr häufig verschenken.
Julia Voss
Maggie Nelson: "Bluets". Aus dem Englischen von Jan Wilm. Hanser Berlin, 112 Seiten, 17 Euro
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Als ich dieses Buch zum ersten Mal gelesen habe, musste ich es plötzlich zuklappen. Das war mir noch nie passiert. Oder jedenfalls nicht aus demselben Grund. Man hört auf, Bücher zu lesen, weil sie langweilig oder doof sind. Maggie Nelsons Sätze aber fand ich zu schön, um sie einfach alle auf einmal wegzulesen. Ich war im Schwimmbad und stellte mir vor, wie mich diese Sätze abends im Bett glücklich machen könnten. Oder in einem verspäteten Zug. Oder sogar beim Vorlesen, mit jemandem zusammen. In den folgenden Tagen habe ich tatsächlich die Seiten streng rationiert. Es sind leider nicht besonders viele, nur 112. Was an ihnen so toll ist?
Sie handeln von einer gescheiterten Liebe und von der Farbe Blau. "Würde ich heute auf meinem Sterbebett liegen", schreibt die amerikanische Autorin Maggie Nelson, "würde ich meine Liebe für die Farbe Blau und Sex mit dir die zwei süßesten Sinneserfahrungen nennen, die ich auf der Erde gekannt habe." Damit wären wir bei Nelsons besonderer Art zu schreiben. Es heißt "Sex mit dir", wie in einem Brief oder einer Beichte an die geliebte Person. Jedes Geständnis ist im Buch ein Abschnitt, der eine Nummer trägt. Wer manchmal religiöse Literatur liest, kennt diese Form. Im Katechismus sind Fragen und Antworten oft durchnumeriert. Bei Maggie Nelson gibt es 240 Antworten auf eine Frage. Sie lautet: Warum lieben wir, was wir lieben?
Maggie Nelson lässt viele zu Wort kommen, wie bereits in ihrem großartigen Buch "Die Argonauten", das zuletzt auf Deutsch erschien. Sie erzählt Trauriges, Lustiges, Schönes und Abseitiges. Goethe und seine Farbenlehre sind natürlich dabei, die Philosophin Simone Weil oder die Malerin Joan Mitchell. Es geht um die Stimmung, die im Englischen "feeling blue" heißt, oder um Biologen, mit denen sie sich über Tiere unterhält, die der Farbe Blau komplett verfallen sind, wie etwa der Laubenvogel. Er schmückt sein Nest mit blauen Fundstücken. Nelson schreibt: "Wenn ich Fotos von diesen blauen Laubenvögeln sehe, fühle ich so viel Verlangen, dass ich mich frage, ob ich vielleicht in die falsche Spezies hineingeboren wurde."
Jetzt aber zum großen Kunststück dieses Buchs: Maggie Nelson schreibt Sätze, die auch dann wahr bleiben, wenn man selbst nicht von Blau besessen ist. Über den Ozean hält sie fest, dass sein Blau "mein Leben außergewöhnlich macht, einfach nur weil ich es gesehen habe. Solche schönen Dinge gesehen zu haben. Sich in ihrer Mitte zu befinden. Ohne jede Wahl." Dinge, die das Leben außergewöhnlich machen, nur weil man sie gesehen hat. Das Glücksgefühl kenne ich, ohne einen Satz dafür gehabt zu haben. Jetzt gibt es ihn. Danke, Maggie Nelson, das Buch werde ich Weihnachten sehr häufig verschenken.
Julia Voss
Maggie Nelson: "Bluets". Aus dem Englischen von Jan Wilm. Hanser Berlin, 112 Seiten, 17 Euro
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main