Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 25.11.201810. Sex mit dir und die Farbe Blau
Als ich dieses Buch zum ersten Mal gelesen habe, musste ich es plötzlich zuklappen. Das war mir noch nie passiert. Oder jedenfalls nicht aus demselben Grund. Man hört auf, Bücher zu lesen, weil sie langweilig oder doof sind. Maggie Nelsons Sätze aber fand ich zu schön, um sie einfach alle auf einmal wegzulesen. Ich war im Schwimmbad und stellte mir vor, wie mich diese Sätze abends im Bett glücklich machen könnten. Oder in einem verspäteten Zug. Oder sogar beim Vorlesen, mit jemandem zusammen. In den folgenden Tagen habe ich tatsächlich die Seiten streng rationiert. Es sind leider nicht besonders viele, nur 112. Was an ihnen so toll ist?
Sie handeln von einer gescheiterten Liebe und von der Farbe Blau. "Würde ich heute auf meinem Sterbebett liegen", schreibt die amerikanische Autorin Maggie Nelson, "würde ich meine Liebe für die Farbe Blau und Sex mit dir die zwei süßesten Sinneserfahrungen nennen, die ich auf der Erde gekannt habe." Damit wären wir bei Nelsons besonderer Art zu schreiben. Es heißt "Sex mit dir", wie in einem Brief oder einer Beichte an die geliebte Person. Jedes Geständnis ist im Buch ein Abschnitt, der eine Nummer trägt. Wer manchmal religiöse Literatur liest, kennt diese Form. Im Katechismus sind Fragen und Antworten oft durchnumeriert. Bei Maggie Nelson gibt es 240 Antworten auf eine Frage. Sie lautet: Warum lieben wir, was wir lieben?
Maggie Nelson lässt viele zu Wort kommen, wie bereits in ihrem großartigen Buch "Die Argonauten", das zuletzt auf Deutsch erschien. Sie erzählt Trauriges, Lustiges, Schönes und Abseitiges. Goethe und seine Farbenlehre sind natürlich dabei, die Philosophin Simone Weil oder die Malerin Joan Mitchell. Es geht um die Stimmung, die im Englischen "feeling blue" heißt, oder um Biologen, mit denen sie sich über Tiere unterhält, die der Farbe Blau komplett verfallen sind, wie etwa der Laubenvogel. Er schmückt sein Nest mit blauen Fundstücken. Nelson schreibt: "Wenn ich Fotos von diesen blauen Laubenvögeln sehe, fühle ich so viel Verlangen, dass ich mich frage, ob ich vielleicht in die falsche Spezies hineingeboren wurde."
Jetzt aber zum großen Kunststück dieses Buchs: Maggie Nelson schreibt Sätze, die auch dann wahr bleiben, wenn man selbst nicht von Blau besessen ist. Über den Ozean hält sie fest, dass sein Blau "mein Leben außergewöhnlich macht, einfach nur weil ich es gesehen habe. Solche schönen Dinge gesehen zu haben. Sich in ihrer Mitte zu befinden. Ohne jede Wahl." Dinge, die das Leben außergewöhnlich machen, nur weil man sie gesehen hat. Das Glücksgefühl kenne ich, ohne einen Satz dafür gehabt zu haben. Jetzt gibt es ihn. Danke, Maggie Nelson, das Buch werde ich Weihnachten sehr häufig verschenken.
Julia Voss
Maggie Nelson: "Bluets". Aus dem Englischen von Jan Wilm. Hanser Berlin, 112 Seiten, 17 Euro
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Als ich dieses Buch zum ersten Mal gelesen habe, musste ich es plötzlich zuklappen. Das war mir noch nie passiert. Oder jedenfalls nicht aus demselben Grund. Man hört auf, Bücher zu lesen, weil sie langweilig oder doof sind. Maggie Nelsons Sätze aber fand ich zu schön, um sie einfach alle auf einmal wegzulesen. Ich war im Schwimmbad und stellte mir vor, wie mich diese Sätze abends im Bett glücklich machen könnten. Oder in einem verspäteten Zug. Oder sogar beim Vorlesen, mit jemandem zusammen. In den folgenden Tagen habe ich tatsächlich die Seiten streng rationiert. Es sind leider nicht besonders viele, nur 112. Was an ihnen so toll ist?
Sie handeln von einer gescheiterten Liebe und von der Farbe Blau. "Würde ich heute auf meinem Sterbebett liegen", schreibt die amerikanische Autorin Maggie Nelson, "würde ich meine Liebe für die Farbe Blau und Sex mit dir die zwei süßesten Sinneserfahrungen nennen, die ich auf der Erde gekannt habe." Damit wären wir bei Nelsons besonderer Art zu schreiben. Es heißt "Sex mit dir", wie in einem Brief oder einer Beichte an die geliebte Person. Jedes Geständnis ist im Buch ein Abschnitt, der eine Nummer trägt. Wer manchmal religiöse Literatur liest, kennt diese Form. Im Katechismus sind Fragen und Antworten oft durchnumeriert. Bei Maggie Nelson gibt es 240 Antworten auf eine Frage. Sie lautet: Warum lieben wir, was wir lieben?
Maggie Nelson lässt viele zu Wort kommen, wie bereits in ihrem großartigen Buch "Die Argonauten", das zuletzt auf Deutsch erschien. Sie erzählt Trauriges, Lustiges, Schönes und Abseitiges. Goethe und seine Farbenlehre sind natürlich dabei, die Philosophin Simone Weil oder die Malerin Joan Mitchell. Es geht um die Stimmung, die im Englischen "feeling blue" heißt, oder um Biologen, mit denen sie sich über Tiere unterhält, die der Farbe Blau komplett verfallen sind, wie etwa der Laubenvogel. Er schmückt sein Nest mit blauen Fundstücken. Nelson schreibt: "Wenn ich Fotos von diesen blauen Laubenvögeln sehe, fühle ich so viel Verlangen, dass ich mich frage, ob ich vielleicht in die falsche Spezies hineingeboren wurde."
Jetzt aber zum großen Kunststück dieses Buchs: Maggie Nelson schreibt Sätze, die auch dann wahr bleiben, wenn man selbst nicht von Blau besessen ist. Über den Ozean hält sie fest, dass sein Blau "mein Leben außergewöhnlich macht, einfach nur weil ich es gesehen habe. Solche schönen Dinge gesehen zu haben. Sich in ihrer Mitte zu befinden. Ohne jede Wahl." Dinge, die das Leben außergewöhnlich machen, nur weil man sie gesehen hat. Das Glücksgefühl kenne ich, ohne einen Satz dafür gehabt zu haben. Jetzt gibt es ihn. Danke, Maggie Nelson, das Buch werde ich Weihnachten sehr häufig verschenken.
Julia Voss
Maggie Nelson: "Bluets". Aus dem Englischen von Jan Wilm. Hanser Berlin, 112 Seiten, 17 Euro
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 09.01.2019Blau wie der Himmel und das Nichts
Maggie Nelson schreibt autobiografisch und philosophisch über die Verführung wie
keine andere. In ihrem Buch „Bluets“ macht sie eine Liebeserklärung an eine Farbe
VON MEREDITH HAAF
Bleuet“ bedeutet Kornblume auf Französisch, sie ist das französische Symbol der Solidarität mit Witwen, Waisen und anderen Opfern des Krieges. In dem Wort schwingt also sinnliche Erregung mit – weniges überrascht und erfreut schließlich ein über die Landschaft streifendes Auge wie das Blitzen einer blauen Blüte. Es konnotiert aber auch einschneidenden Verlust. Zugleich steckt Hoffnung darin: Im Blühen wie in der Geste der Gemeinschaft, die eine „Bleuet“, nach der Katastrophe ans Revers geheftet, ausdrückt.
Die Farbe Blau grundiert Meditationen über Schönheit und Lust, Trauer und Verlassenheit, Hoffnung und Freude auch in „Bluets“, einem außergewöhnlichen kleinen Buch der amerikanischen Autorin Maggie Nelson. Es ist in einer lapislazulifarbenen, höchst einladend gestalteten Ausgabe bei Hanser erschienen. In 240 Textabschnitten, die sie „Propositionen“ nennt, denkt sich Nelson mit Hilfe von Wittgenstein, Goethe und Nina Simone durch eine Farbe, zu der sie eine emotionale, sinnliche und intellektuelle Hingabe empfindet. Die Form erinnert an Susan Sontag oder Roland Barthes, der Inhalt ist wie nichts, was man jemals gelesen hat.
Nelson sammelt seit ihrer Jugend obsessiv blaue Objekte – Steine, Kacheln, Plastikstücke, und lässt sich von Bekannten und Freunden „blaue Berichte“ von deren Entdeckungen schicken. Grün ist die Farbe der Hoffnung, Rot wird mit Lust und Geborgenheit assoziiert – kleine Babys etwa fühlen sich nachweislich zu Rottönen hingezogen. Doch irgendwann werden Babys groß und die meisten von ihnen entscheiden sich währenddessen für die Farbe Blau. Sie ist die Lieblingsfarbe der meisten Menschen auf der Welt – aber was genau macht sie so verführerisch? Goethe beschreibt sie in seiner Farbenlehre an einer Stelle als „reizendes Nichts“. Er schreibt aber auch, und das erklärt vielleicht so manches: „So wie gelb immer Licht mit sich führt, kann man sagen, dass Blau immer etwas Dunkles in sich führt.“
Damit ist das Wesen einer Verführung umrissen: Wer sich ihr hingibt, lebt zwischen Erhabenheit und Abgrund. Nelsons Buch beginnt mit einem Geständnis, so seltsam wie einleuchtend: „Und so verliebte ich mich in eine Farbe – in diesem Fall in die Farbe blau –, wie durch eine Verzauberung, eine Verzauberung, die ich verteidigte, und gegen die ich mich wehrte – immer im Wechsel.“ Man ahnt schon auf der ersten Seite, dass es Nelson unmöglich nur um ihre Chromophilie gehen kann. Und tatsächlich beginnt sie bald von einem ganz und gar nicht guten Liebesverhältnis zu berichten, das auf dem Höhepunkt ihrer Blauobsession zerbrach. Um diese Zeit erleidet eine gute Freundin einen schweren Unfall, der sie für Jahre ans Bett fesselt. Zeitweilig sind ihre eisblauen Augen das einzige, was sich an ihr rührt. Aus allem, was so blau ist, setzt Nelson ein emotional-intellektuelles Prisma zusammen: „Ich will mich nicht nach blauen Dingen sehnen und um Gottes Willen nicht nach irgendeiner ,Blauhaftigkeit‘“, schreibt sie in Anspielung an Goethes Farbenlehre: „Vor allem will ich damit aufhören, dich zu vermissen.“ Das kann sich an den Geliebten richten, es spricht aber auch für die Freundin, deren Körper nur noch Grundfunktionen ausübt.
„Bluets“ ist eines der ungewöhnlichsten Bücher des letzten Jahres: Eine mitreißende Kritik der reinen Sinnlichkeit einerseits. Andererseits sucht das Buch aufrichtig Sinn und Trost in Zeiten unkontrollierbarer Gefühle und tiefer Untröstlichkeit. Es ist ein hervorragender Einstieg in das Werk dieser besonderen Autorin, die in ihrer Heimat längst als literarische Ausnahmeerscheinung gilt.
„Bluets“ (man spricht das „falsch“ aus, also so, dass es klingt wie „Duett“) ist in den USA bereits vor knapp zehn Jahren erschienen und genießt dort eine Art Kultstatus – ähnlich wie Maggie Nelson selbst. Die Schriftstellerin, Jahrgang 1973, unterrichtet Literatur an der University of Southern California und wurde unter anderem mit dem renommierten „Genius Grant“ der Mac-Arthur-Stiftung ausgezeichnet. Einer ihrer wichtigsten Einflussgeber ist Ludwig Wittgenstein, dessen Idee von dem Unaussprechlichen, das im Sagbaren liegt, sie als Schaffensmotor bezeichnet. Und auch Judith Butler beeinflusst sie: Nelson ist in amerikanischen Literaturkreisen seit Jahren als queerfeministische Autorin bekannt, bei der ohne großes Aufheben Passagen stehen, wie: „Und wir haben bisher noch nicht genügend – wenn überhaupt – über das Starren der Frau gehört, den female gaze. Über den versengenden Blick, während die Augen dabei im Kopf verbleiben. ,Ich liebe es beim Ausziehen von weitem dem verheißungsvollen Schwanz zu betrachten‘, schreibt Catherine Millet in ihrem wunderschönen Sex-Memoir“.
Bis auf einen Lyrikband und eine kritische Abhandlung über die Ästhetik der Grausamkeit lassen sich auch Nelsons Bücher zum Genre des Memoirs rechnen. Nicht zu verwechseln mit der Autobiografie: Über persönliche Erlebnisse, ihre Beziehungen, Vorlieben und Ängste erarbeitet sich Nelson ihren Zugang zur Realität und zu deren philosophischer Interpretation.
Erkenntnis erwächst hier aus persönlichem Verlangen, und das sexuelle Verlangen ist davon nicht ausgeschlossen. Im Buch „Die Argonauten“ (deutsch bei Hanser Berlin, 2017), mit dem ihr endgültig der Durchbruch gelang, steht als vierter Satz: „Stattdessen purzeln mir die Worte ich liebe dich wie eine Zauberformel aus dem Mund, als du mich das erste Mal in den Arsch fickst.“ Eine Kritik, die das hervorhebt, mag sich verdächtig machen, aber es ist nun einmal so, dass „ficken“ bei Nelson sprachlich und inhaltlich eine wichtige Rolle spielt. Das gilt für „Bluets“ mindestens genauso wie für die „Argonauten“.
Susan Sontag hat einst statt einer Hermeneutik eine Erotik der Kunst gefordert – Maggie Nelson baut Text für Text eine Erotik der Identität aus. Indem sie das Höchstpersönliche erkenntnistheoretisch begreift, gelingt es ihr profund über Geschlecht zu schreiben ohne die üblichen genderkritischen Strategien von Abgrenzung und Gegenüberstellung. Das tut sie unter anderem, indem sie den Sex, und ihre Rolle darin, in ein produktives Verhältnis zu ihren Erzählungen setzt. Die handelt in „Die Argonauten“ von ihrer großen Liebe zu Harry Dodge, einem Künstler, der als Frau geboren wurde, und der in einer „entzückenden Junggesellenwohnung“ lebt, mit einem „Haufen Dildos in einer schattigen, unbenutzten Duschkabine“. Lange ist sie sich nicht sicher, mit welchem Personalpronomen sie ihn ansprechen soll „obwohl – oder weil – wir jede freie Minute im Bett verbrachten und schon darüber sprachen, zusammen zu ziehen.“ Nelson stellt fest: „Man muss lernen, etwas auszuhalten was über die Vorstellung von Zweien hinaus geht, und das gerade dann, wenn du versuchst, eine Partnerschaft darzustellen – sogar eine Vermählung“.
Die Liebe und der Sex sind hier noch der einfache Teil: Harry bringt ein Kind mit in die Beziehung, zu dem Maggie Nelson bald eine Bindung aufbaut. In den USA verstärkt sich das homosexuellenfeindliche Klima, in Kalifornien wird per Volksentscheid die gleichgeschlechtliche Ehe verhindert (das Buch beginnt 2008), Harry will eine medizinische Geschlechtsumwandlung und Maggie will ein Kind. So beginnen sie beide eine Reise mit Hormonspritzen und durch Behandlungsräume und profunde körperliche und emotionale Veränderungen, während derer sie aber Liebende bleiben wollen.
Der Titel „Argonauten“ spielt auf ein Fragment aus Roland Barthes’ „Über mich selbst“ an: Darin schreibt er, ein Subjekt, das sage „Ich liebe dich“, ähnele den Argonauten, den mythischen Matrosen, die mit Jason das Goldene Vlies suchten und ihr Schiff während der Reise vollkommen erneuerten – nur der Name „Argo“ blieb bestehen. So muss sich eine Liebe auch durch permanente Umbau- und Ausbaumaßnahmen erhalten, muss gleich bleiben im Wandel.
Und auch von der Liebe abgesehen: Das kontinuierliche Verfeinern, Abwerfen, Austauschen ist Teil jeder Persönlichkeitsentwicklung, nicht nur der des Paares. Dazu gehört es, sich zwischendurch gegen Veränderung zu wehren: „Denn sich zu wünschen, man könne vergessen, wie sehr man jemanden geliebt hat, und dann tatsächlich zu vergessen – das kann sich zeitweilig anfühlen wie das Schlachten eines schönen Vogels, der sich durch nichts weniger als durch Gnade dazu entschieden hat, in deinem Herzen sein Nest zu bauen“, schreibt Nelson in „Bluets“. Wie Vogelkenner wissen, sind es aber nicht viele Vögel, die ihr Nest nicht zeitweilig oder für immer verlassen. Die Schlachtung ist nicht zwingend nötig, lehrt „Bluets“ eindrücklich, solange man Zeit aufbringt, im tiefen Tal des Unglücks die Hoffnung einmal woanders zu suchen, als dort, wo man sie vermutet hat. Nelson endet mit einem Zitat von Simone Weil: „Liebe ist kein Trost. Sie ist Licht.“ Der Himmel ist immer blau, in tiefster Nacht und am hellen Tag und ganz besonders in der Dämmerung.
Maggie Nelson: Bluets. Aus dem Englischen von Jan Wilm. Hanser Berlin, München 2018. 111 Seiten, 17 Euro.
Susan Sontag hat eine Erotik der
Kunst gefordert. Nelson baut
eine Erotik der Identität aus
„So wie gelb immer Licht mit sich führt, kann man sagen, dass Blau immer etwas Dunkles in sich führt“, schrieb Goethe.
Foto: Markus Keller / imago
Meisterin des Essays: Maggie Nelson, geboren 1973.
Foto: Dan Tuffs / mauritius
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Maggie Nelson schreibt autobiografisch und philosophisch über die Verführung wie
keine andere. In ihrem Buch „Bluets“ macht sie eine Liebeserklärung an eine Farbe
VON MEREDITH HAAF
Bleuet“ bedeutet Kornblume auf Französisch, sie ist das französische Symbol der Solidarität mit Witwen, Waisen und anderen Opfern des Krieges. In dem Wort schwingt also sinnliche Erregung mit – weniges überrascht und erfreut schließlich ein über die Landschaft streifendes Auge wie das Blitzen einer blauen Blüte. Es konnotiert aber auch einschneidenden Verlust. Zugleich steckt Hoffnung darin: Im Blühen wie in der Geste der Gemeinschaft, die eine „Bleuet“, nach der Katastrophe ans Revers geheftet, ausdrückt.
Die Farbe Blau grundiert Meditationen über Schönheit und Lust, Trauer und Verlassenheit, Hoffnung und Freude auch in „Bluets“, einem außergewöhnlichen kleinen Buch der amerikanischen Autorin Maggie Nelson. Es ist in einer lapislazulifarbenen, höchst einladend gestalteten Ausgabe bei Hanser erschienen. In 240 Textabschnitten, die sie „Propositionen“ nennt, denkt sich Nelson mit Hilfe von Wittgenstein, Goethe und Nina Simone durch eine Farbe, zu der sie eine emotionale, sinnliche und intellektuelle Hingabe empfindet. Die Form erinnert an Susan Sontag oder Roland Barthes, der Inhalt ist wie nichts, was man jemals gelesen hat.
Nelson sammelt seit ihrer Jugend obsessiv blaue Objekte – Steine, Kacheln, Plastikstücke, und lässt sich von Bekannten und Freunden „blaue Berichte“ von deren Entdeckungen schicken. Grün ist die Farbe der Hoffnung, Rot wird mit Lust und Geborgenheit assoziiert – kleine Babys etwa fühlen sich nachweislich zu Rottönen hingezogen. Doch irgendwann werden Babys groß und die meisten von ihnen entscheiden sich währenddessen für die Farbe Blau. Sie ist die Lieblingsfarbe der meisten Menschen auf der Welt – aber was genau macht sie so verführerisch? Goethe beschreibt sie in seiner Farbenlehre an einer Stelle als „reizendes Nichts“. Er schreibt aber auch, und das erklärt vielleicht so manches: „So wie gelb immer Licht mit sich führt, kann man sagen, dass Blau immer etwas Dunkles in sich führt.“
Damit ist das Wesen einer Verführung umrissen: Wer sich ihr hingibt, lebt zwischen Erhabenheit und Abgrund. Nelsons Buch beginnt mit einem Geständnis, so seltsam wie einleuchtend: „Und so verliebte ich mich in eine Farbe – in diesem Fall in die Farbe blau –, wie durch eine Verzauberung, eine Verzauberung, die ich verteidigte, und gegen die ich mich wehrte – immer im Wechsel.“ Man ahnt schon auf der ersten Seite, dass es Nelson unmöglich nur um ihre Chromophilie gehen kann. Und tatsächlich beginnt sie bald von einem ganz und gar nicht guten Liebesverhältnis zu berichten, das auf dem Höhepunkt ihrer Blauobsession zerbrach. Um diese Zeit erleidet eine gute Freundin einen schweren Unfall, der sie für Jahre ans Bett fesselt. Zeitweilig sind ihre eisblauen Augen das einzige, was sich an ihr rührt. Aus allem, was so blau ist, setzt Nelson ein emotional-intellektuelles Prisma zusammen: „Ich will mich nicht nach blauen Dingen sehnen und um Gottes Willen nicht nach irgendeiner ,Blauhaftigkeit‘“, schreibt sie in Anspielung an Goethes Farbenlehre: „Vor allem will ich damit aufhören, dich zu vermissen.“ Das kann sich an den Geliebten richten, es spricht aber auch für die Freundin, deren Körper nur noch Grundfunktionen ausübt.
„Bluets“ ist eines der ungewöhnlichsten Bücher des letzten Jahres: Eine mitreißende Kritik der reinen Sinnlichkeit einerseits. Andererseits sucht das Buch aufrichtig Sinn und Trost in Zeiten unkontrollierbarer Gefühle und tiefer Untröstlichkeit. Es ist ein hervorragender Einstieg in das Werk dieser besonderen Autorin, die in ihrer Heimat längst als literarische Ausnahmeerscheinung gilt.
„Bluets“ (man spricht das „falsch“ aus, also so, dass es klingt wie „Duett“) ist in den USA bereits vor knapp zehn Jahren erschienen und genießt dort eine Art Kultstatus – ähnlich wie Maggie Nelson selbst. Die Schriftstellerin, Jahrgang 1973, unterrichtet Literatur an der University of Southern California und wurde unter anderem mit dem renommierten „Genius Grant“ der Mac-Arthur-Stiftung ausgezeichnet. Einer ihrer wichtigsten Einflussgeber ist Ludwig Wittgenstein, dessen Idee von dem Unaussprechlichen, das im Sagbaren liegt, sie als Schaffensmotor bezeichnet. Und auch Judith Butler beeinflusst sie: Nelson ist in amerikanischen Literaturkreisen seit Jahren als queerfeministische Autorin bekannt, bei der ohne großes Aufheben Passagen stehen, wie: „Und wir haben bisher noch nicht genügend – wenn überhaupt – über das Starren der Frau gehört, den female gaze. Über den versengenden Blick, während die Augen dabei im Kopf verbleiben. ,Ich liebe es beim Ausziehen von weitem dem verheißungsvollen Schwanz zu betrachten‘, schreibt Catherine Millet in ihrem wunderschönen Sex-Memoir“.
Bis auf einen Lyrikband und eine kritische Abhandlung über die Ästhetik der Grausamkeit lassen sich auch Nelsons Bücher zum Genre des Memoirs rechnen. Nicht zu verwechseln mit der Autobiografie: Über persönliche Erlebnisse, ihre Beziehungen, Vorlieben und Ängste erarbeitet sich Nelson ihren Zugang zur Realität und zu deren philosophischer Interpretation.
Erkenntnis erwächst hier aus persönlichem Verlangen, und das sexuelle Verlangen ist davon nicht ausgeschlossen. Im Buch „Die Argonauten“ (deutsch bei Hanser Berlin, 2017), mit dem ihr endgültig der Durchbruch gelang, steht als vierter Satz: „Stattdessen purzeln mir die Worte ich liebe dich wie eine Zauberformel aus dem Mund, als du mich das erste Mal in den Arsch fickst.“ Eine Kritik, die das hervorhebt, mag sich verdächtig machen, aber es ist nun einmal so, dass „ficken“ bei Nelson sprachlich und inhaltlich eine wichtige Rolle spielt. Das gilt für „Bluets“ mindestens genauso wie für die „Argonauten“.
Susan Sontag hat einst statt einer Hermeneutik eine Erotik der Kunst gefordert – Maggie Nelson baut Text für Text eine Erotik der Identität aus. Indem sie das Höchstpersönliche erkenntnistheoretisch begreift, gelingt es ihr profund über Geschlecht zu schreiben ohne die üblichen genderkritischen Strategien von Abgrenzung und Gegenüberstellung. Das tut sie unter anderem, indem sie den Sex, und ihre Rolle darin, in ein produktives Verhältnis zu ihren Erzählungen setzt. Die handelt in „Die Argonauten“ von ihrer großen Liebe zu Harry Dodge, einem Künstler, der als Frau geboren wurde, und der in einer „entzückenden Junggesellenwohnung“ lebt, mit einem „Haufen Dildos in einer schattigen, unbenutzten Duschkabine“. Lange ist sie sich nicht sicher, mit welchem Personalpronomen sie ihn ansprechen soll „obwohl – oder weil – wir jede freie Minute im Bett verbrachten und schon darüber sprachen, zusammen zu ziehen.“ Nelson stellt fest: „Man muss lernen, etwas auszuhalten was über die Vorstellung von Zweien hinaus geht, und das gerade dann, wenn du versuchst, eine Partnerschaft darzustellen – sogar eine Vermählung“.
Die Liebe und der Sex sind hier noch der einfache Teil: Harry bringt ein Kind mit in die Beziehung, zu dem Maggie Nelson bald eine Bindung aufbaut. In den USA verstärkt sich das homosexuellenfeindliche Klima, in Kalifornien wird per Volksentscheid die gleichgeschlechtliche Ehe verhindert (das Buch beginnt 2008), Harry will eine medizinische Geschlechtsumwandlung und Maggie will ein Kind. So beginnen sie beide eine Reise mit Hormonspritzen und durch Behandlungsräume und profunde körperliche und emotionale Veränderungen, während derer sie aber Liebende bleiben wollen.
Der Titel „Argonauten“ spielt auf ein Fragment aus Roland Barthes’ „Über mich selbst“ an: Darin schreibt er, ein Subjekt, das sage „Ich liebe dich“, ähnele den Argonauten, den mythischen Matrosen, die mit Jason das Goldene Vlies suchten und ihr Schiff während der Reise vollkommen erneuerten – nur der Name „Argo“ blieb bestehen. So muss sich eine Liebe auch durch permanente Umbau- und Ausbaumaßnahmen erhalten, muss gleich bleiben im Wandel.
Und auch von der Liebe abgesehen: Das kontinuierliche Verfeinern, Abwerfen, Austauschen ist Teil jeder Persönlichkeitsentwicklung, nicht nur der des Paares. Dazu gehört es, sich zwischendurch gegen Veränderung zu wehren: „Denn sich zu wünschen, man könne vergessen, wie sehr man jemanden geliebt hat, und dann tatsächlich zu vergessen – das kann sich zeitweilig anfühlen wie das Schlachten eines schönen Vogels, der sich durch nichts weniger als durch Gnade dazu entschieden hat, in deinem Herzen sein Nest zu bauen“, schreibt Nelson in „Bluets“. Wie Vogelkenner wissen, sind es aber nicht viele Vögel, die ihr Nest nicht zeitweilig oder für immer verlassen. Die Schlachtung ist nicht zwingend nötig, lehrt „Bluets“ eindrücklich, solange man Zeit aufbringt, im tiefen Tal des Unglücks die Hoffnung einmal woanders zu suchen, als dort, wo man sie vermutet hat. Nelson endet mit einem Zitat von Simone Weil: „Liebe ist kein Trost. Sie ist Licht.“ Der Himmel ist immer blau, in tiefster Nacht und am hellen Tag und ganz besonders in der Dämmerung.
Maggie Nelson: Bluets. Aus dem Englischen von Jan Wilm. Hanser Berlin, München 2018. 111 Seiten, 17 Euro.
Susan Sontag hat eine Erotik der
Kunst gefordert. Nelson baut
eine Erotik der Identität aus
„So wie gelb immer Licht mit sich führt, kann man sagen, dass Blau immer etwas Dunkles in sich führt“, schrieb Goethe.
Foto: Markus Keller / imago
Meisterin des Essays: Maggie Nelson, geboren 1973.
Foto: Dan Tuffs / mauritius
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