Groß, gelb, gelassen: mit berückender Selbstverständlichkeit liegt eines Nachts ein Löwe im Arbeitszimmer des angesehenen Philosophen Blumenberg. Die Glieder bequem auf dem Bucharateppich ausgestreckt, die Augen ruhig auf den Hausherrn gerichtet. Der gerät, mit einiger Mühe, nicht aus der Fassung, auch nicht, als der Löwe am nächsten Tag in seiner Vorlesung den Mittelgang herabtrottet, sich hin und her wiegend nach Raubkatzenart. Die Bänke sind voll besetzt, aber keiner der Zuhörer scheint ihn zu sehen. Ein raffinierter Studentenulk? Oder nicht doch viel eher eine Auszeichnung von höchster Stelle - für den letzten Philosophen, der diesen Löwen zu würdigen versteht? Das Auftauchen des Tieres wirkt in mehrerlei Leben hinein, nicht nur in das Leben Blumenbergs. Ohne es zu merken, gerät auch eine Handvoll Studenten in seinen Bann, unter ihnen der fadendünne Gerhard Optatus Baur, ein glühender Blumenbergianer, und die zarte, hochfahrende Isa, die sich mit vollen Segeln in den Falschen verliebt.
»Blumenberg« ist nur nebenbei eine Hommage an einen großen Philosophen, vor allem ist es ein Roman voll mitreißendem Sprachwitz, ein Roman über einen hochsympathischen Weltbenenner, dem das Unbenennbare in Gestalt eines umgänglichen Löwen begegnet.
»Blumenberg« ist nur nebenbei eine Hommage an einen großen Philosophen, vor allem ist es ein Roman voll mitreißendem Sprachwitz, ein Roman über einen hochsympathischen Weltbenenner, dem das Unbenennbare in Gestalt eines umgänglichen Löwen begegnet.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 08.10.2011Zu große Nähe kann alles zerstören
Das kommt vor, wenn der ständige Umgang mit Gedankendingen die Lebenswelt ausmacht: Sibylle Lewitscharoffs Roman "Blumenberg" ist ein königliches Lesevergnügen.
Von Patrick Bahners
Unter dem Titel "Beschreibung des Menschen" hat Manfred Sommer vor fünf Jahren Texte zur Anthropologie aus dem Nachlass Hans Blumenbergs zu einem Buch vereinigt. Der Herausgeber ordnet die Manuskripte Vorlesungen zu, die Blumenberg um 1980 an der Universität Münster hielt. Ein Leitmotiv dieser Überlegungen zu einer möglichen Wissenschaft vom Menschen ist die Sichtbarkeit, in die der Mensch sich schickte, als er den Urwald verließ, um auf zwei Beinen zu gehen. Auf der leeren Fläche kann er sich nicht mehr verstecken. Und er kann vor den Feinden nicht mehr fliehen, die auf ihren vier Beinen mindestens doppelt so schnell laufen wie er. Er bleibt stehen und darf hoffen, den Verfolger zur Strecke zu bringen. Denn er hat die Hände frei. Indem er sich Waffen zurechtlegt, trifft er Vorsorge gegen Gefahren, die ihm in seinem Rücken drohen.
Der Kulturkritik, die der Unmittelbarkeit nachtrauert, hält Blumenberg ihre Naivität vor. Mittelbarkeit ist für die Menschen überlebensnotwendig: die Fähigkeit zur actio per distans, zum Handeln aus der räumlichen Distanz und im zeitlichen Vorgriff. Die Kultur ist dem Menschen zweite Natur geworden. Damit ist ein Risiko der Selbstschädigung gegeben: Die Optimierung von Vorsichtsmaßnahmen kann Sicherheiten zerstören, selbstverständlich gewordene Lernerfolge der Gattung. Normalerweise ist es dem Weiterleben dienlich, dass dem Menschen, der sein Leben Revue passieren lässt, bestimmte Ereignisse aus dem Blick geraten sind. Der klinische Befund der Amnesie ist die pathologische Version eines alltäglichen Zustands. Blumenberg spielt ein Science-Fiction-Szenario durch: Die "Vorsorgemedizin" könnte den Gedächtnisverlust durch Vorführung biographischer Dokumentarfilme heilen wollen, die den Patienten ihre verdrängten Täterschaften zweifelsfrei vor Augen führen würden. "Die Fiktion idealer Prophylaxe für amnestische Traumata lässt schaudern."
Blumenberg begnügt sich nicht mit der Evidenz dieser Feststellung, sondern führt ein Indiz aus der Kulturproduktion seiner Epoche an. Die "technisch dauerhaft realisierte Visibilität" wäre schlechthin unerträglich - das belege "die Erinnerung an einen schändlichen Jokus der frühen Fernsehzeit, das Arbeiten mit versteckter Kamera auf in Verlegenheiten gebrachte Passanten". Der Universalismus von Blumenbergs Referenzen verblüfft immer wieder. Diese Stelle frappiert aber auch, weil hier nebenbei Blumenbergs Kulturoptimismus hervortritt. Die versteckte Kamera war für ihn vollkommen fraglos ein Apparat der Vergangenheit. Ihm dämmerte nicht, was, nach gattungsgeschichtlichem Zeitmaß, unmittelbar bevorstand: der Eintritt des Fernsehens ins Zeitalter einer durch unverborgene Kameras hergestellten permanenten Rundumsichtbarkeit - unter ironischer Bezugnahme auf George Orwell.
Wenn nun aber der mit moralischen Bewertungen jederzeit knauserige Philosoph schon den harmlosen Schabernack eines Chris Howland mit dem Fluchwort des Schändlichen belegte - wie müsste Hans Blumenberg es dann aufnehmen, dass die Schriftstellerin Sibylle Lewitscharoff ihn mit den Mitteln ihrer Kunst in den Zustand der Visibilität versetzt und dass sie ihr Äquivalent der Kamera dort installiert, wo Blumenberg sich allen Blicken entzog: im Arbeitszimmer in seinem Haus in Altenberge? Er empfing dort keine Besucher, sondern nahm lediglich in großen Abständen Telefonanrufe handverlesener Gesprächspartner entgegen. Die Unüberschreitbarkeit der Schwelle zum Rückzugsraum war nach den Usancen des bürgerlichen Umgangs dadurch gesichert, dass alle Aktivität im Arbeitszimmer sich in der Nacht abspielte.
Von Telefonfreunden Blumenbergs kann man sprechen, wenn man den Begriff in strikter Analogie zu den Brieffreunden früherer Kindergenerationen bildet, die durch einen Zwischenraum von der Art des Atlantiks getrennt waren. Drei abwesende Vertraute sollen in die Gestalt des Redakteurs eingegangen sein, der in Sibylle Lewitscharoffs Roman den Philosophen zu überreden versucht, eine Glosse darüber zu schreiben, warum er sich weigert, über Gut und Böse zu philosophieren: zwei Berufskollegen der Romanfigur und ein Verleger (aber nicht der Verleger von Blumenbergs Büchern). Man erzählt sich, dass die beiden Zeitungsredakteure, die viel für die Verbreitung und Erklärung von Blumenbergs Werk unternahmen, ihn nie zu Gesicht bekommen haben.
Das Ansinnen, sich vor diesem Hintergrund Hans Blumenberg als Leser des Romans "Blumenberg" vorzustellen, provoziert die Einrede, dieser Versuch sei selbst eine solche Grenzüberschreitung, wie sie nach Durchführung des Versuchs der Autorin womöglich vorgeworfen werden müsste. Blumenbergs Beschreibungen des Menschen kreisen freilich um die Frage, wie wir überhaupt zu Innenansichten fremder Subjektivität gelangen. Wenn ein Mensch, so ein Wesen, das mit leeren Händen am Urwaldrand auftaucht, in Gedanken die Stelle eines anderen Menschen einnimmt, der ihn mit einem Steinwurf töten könnte, heißt das dann schon, dass er sich, wie die Formel lautet, in den anderen hineinversetzt? Ob sich Menschenkenntnis im Gedankenexperiment gewinnen lässt, erkundet Blumenberg durch Gedankenexperimente. Mit diesen phänomenologischen Analysen teilt der Roman "Blumenberg" die heikle Materie und die Subtilität der Methode.
Der Blumenberg des Romans versieht 1982 seine Dienstgeschäfte als bestallter Professor der Universität Münster, indem er seine Sichtbarkeit auf das unausweichliche Minimum reduziert. Er betritt den Hörsaal im Schloss durch eine Seitentür und verlässt ihn nach pünktlichem Schluss der Stunde auf gleichem Wege ebenso rasch, wie er gekommen ist. Mantel und Homburghut signalisieren, dass er nicht aufgehalten zu werden wünscht. Das Vertrackte an der Situation ist, dass gerade die Unauffälligkeit von Aufund Abtritt die Sichtbarkeit des Professors in den Augen der Studenten oder jedenfalls einiger Studenten enorm steigert. Vier Hörer von Blumenbergs Vorlesung nennt der Erzähler mit Namen, die an Blumenberg etwas bemerken, wofür ihre Kommilitonen kein Organ haben. Isa, Gerhard, Richard und Hansi nehmen die Aura ihres Professors wahr. "Es war, als hätten sie etwas gerochen, mit feinen Instinkthärchen etwas erspürt, das üblicherweise nicht in einen Vorlesungssaal gehörte."
Für die eigentümliche Ausstrahlung Blumenbergs an diesem sonst nicht weiter bemerkenswerten Nachmittag bietet der Roman eine rationale Erklärung in Gestalt einer mythischen Erzählung. Da ist wirklich etwas um Blumenberg. Er hat einen Begleiter bei sich, ein Tier, das sich auf der rechten Seite des Saals niedergelassen hat, "malerisch anzusehen", allerdings nur für Blumenberg. Isa auf ihrem Stammplatz ganz vorne sieht immerhin, dass der Professor einen Fleck nahe der Wand fixiert. Das Tier sieht auch sie nicht. Es hatte in der Nacht vor der Vorlesung auf einmal auf dem Teppich in Blumenbergs Arbeitszimmer gelegen: "Groß, gelb, atmend; unzweifelhaft ein Löwe."
So widerfährt dem Philosophen, dass er kurz vor der Emeritierung in die Ursituation der Menschwerdung versetzt wird: Wie der Urmensch, der den Urwald an der falschen Stelle verlassen hat, sieht er sich seinem geborenen Feind gegenüber, dem stärksten Raubtier. Allerdings macht der Löwe keine Anstalten, sein Gegenüber zu verschlingen. Es scheint tollkühn, dass Blumenberg sich einbildet, ihn schütze "der große schwere Schreibtisch", aber er soll recht behalten. Wie hat der Mensch überlebt? Blumenbergs Antwort in den anthropologischen Schriften: durch Begriffe. Um eine Löwenfalle zu bauen, muss der Mensch sich vorstellen, wie der Löwe in die Falle geht, das heißt: sich das abwesende Tier anwesend denken. Es ist der Witz der Begriffsbildung, dass man diese Arbeit am Schreibtisch verrichten kann. Ein Zoologe muss den Löwen nicht sehen und erst recht nicht riechen, um ihn wissenschaftlich zu bestimmen. Der Blumenberg des Romans ist nun aber so erfolgreich in der Beschwörung des Abwesenden, dass ihn der Löwe eines Tages mit seiner Anwesenheit belohnt. So kann es gehen, wenn der ständige Umgang mit Gedankendingen die Lebenswelt ausmacht.
Blumenberg versteht den Löwen sofort richtig: als Assistenzfigur des tapferen Philosophen, als symbolische Anerkennung für sein Lebenswerk. Zur ersten Tagung der Forschungsgruppe Poetik und Hermeneutik trug Hans Blumenberg 1964 ein Referat über Wirklichkeitsbegriff und Möglichkeit des Romans bei. Für den Romancier, führte er aus, gibt es keine evident wirklichen Einzeldinge. Wirklichkeit stellt sich nur im Kontext her, als durchgehaltener syntaktischer Zusammenhang. Sibylle Lewitscharoffs "Blumenberg" ist ein königliches Lesevergnügen, weil es im Kontext der Romanwirklichkeit absolut glaubwürdig ist, dass in der Studierstube eines an die Einsamkeit gewöhnten Philosophen eines Nachts ein Löwe erscheint.
Die Zweifel an der Wirklichkeit des Löwen sind Teil der Wirklichkeit des Romans, bleiben aber, um den Blumenberg von 1964 zu zitieren, "immer noch in zu viel imaginativ vorausgesetzte und miterzeugte Welt eingebettet, als dass die blanke Absurdität wirklich je zum Thema werden könnte". Hochkomisch ist es, dass Blumenberg nicht aus der Rolle fällt, sich erst gar nicht auf den Abwehrzauber der Abstraktion einlässt, den Versuch, sich den anwesenden Löwen abwesend zu denken.
Die Vorlesungsstunde, in die der Löwe Blumenberg begleitet, hat dasselbe Thema wie ein Kapitel der von Sommer edierten Aufzeichnungen: Trostbedürfnis und Untröstlichkeit des Menschen. Das moderne Denken, legt der Blumenberg des Nachlasses dar, hält den Trost für eine Selbsttäuschung, weil er "eine Vermeidung von Bewusstsein ist". Der Blumenberg des Romans fügt unter den Augen des Löwen an: "Die Bewusstseinsprogramme, die wir uns verschrieben haben, die fortwährenden Ansporne, mehr Bewusstsein zu schaffen, sie nötigen uns dazu, unsere Entscheidungen nach Maßgabe des Realismus zu treffen. Das herrische Einfallen der Sachen in die Worte beraubt uns der Fähigkeit, Trost zu spenden, Trost zu empfangen."
Vom Löwen sieht Blumenberg sich getröstet und von der Pflicht zum Realismus entlastet. Er verzichtet darauf, mit der Hand die Probe darauf zu machen, ob tatsächlich ein leibhaftiger Löwe vor ihm sitzt. "Blumenberg war schon im Begriff, aufzustehen und zu ihm hinüberzugehen, doch rechtzeitig besann er sich auf das Gebot der actio per distans und blieb sitzen. Zu große Nähe konnte alles zerstören."
Die Studentin Isa behält aus der Vorlesung den Imperativ im Gedächtnis, man müsse "den Absolutismus der Wirklichkeit abbauen und zu einer Figur der schönen Resignation werden". Sie findet keinen Tröster und stürzt sich von einer Autobahnbrücke in den Tod. Der Professor bemerkt das Fehlen des Mädchens, das immer in der ersten Reihe saß, stellt aber keine Verbindung zur Zeitungsnotiz über die Selbstmörderin her.
Allen vier Studenten, die aus der Masse heraustreten, dichtet der Erzähler einen frühen und grausamen Tod an. Als Blumenberg des Löwen ansichtig wird, weiß er, welche Rolle ihm höheren Orts zugedacht ist: Mit dem Gefährten des Kirchenvaters Hieronymus ist das Bild des asketischen Gelehrten komplett. Auf vier ergänzenden kleinen Tafeln schildert der Erzähler, dass die philosophische Lebensform lebensgefährlich ist. Man kann die Selbstzerstörung begabter Studenten als Fernwirkung der rednerischen Handlungen des charismatischen Lehrers ansehen.
Auf dem letzten Blatt der Notizen zum Trostbedürfnis gibt Blumenberg andererseits zugunsten der Rhetorik zu bedenken, sie habe immer Bedeutung gehabt "für die Herbeiführung gehobener Gestimmtheit und Lebensfreude des Menschen". Gewiss verschleiere sie oft die wahren Gründe für das menschliche Elend, doch sei das als wahr Erkannte deshalb noch nicht behebbar. Diskret lüftet Sibylle Lewitscharoff den Schleier der lebensgeschichtlichen Erfahrungen, die begreifen lassen, warum Blumenberg den Löwenbezähmer Hieronymus nicht als Sonderling abtat, sondern die gesamte Kultur ins Bild des Gehäuses fasste, eines Gebäudes der kunstreichen Sicherungen. Der Erzähler lässt Blumenberg sich nach der Vorlesung aus dem fahrenden Gehäuse des Automobils heraus am Anblick der im Dunkel versinkenden Landschaft freuen. "Er war in gehobener Stimmung und erwartete die Nacht."
Der Roman "Blumenberg" ist erstaunlich kurz. Die emblematische Absicht stiftet perspektivische Einheit im Reichtum der biographischen und sozialhistorischen Details. Der Leser dieser Legende eines weltlichen Heiligen wird in gehobene Stimmung versetzt und erwartet den Tag.
Sibylle Lewitscharoff: "Blumenberg". Roman.
Suhrkamp Verlag, Berlin 2011. 221 S., geb., 21,90 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Das kommt vor, wenn der ständige Umgang mit Gedankendingen die Lebenswelt ausmacht: Sibylle Lewitscharoffs Roman "Blumenberg" ist ein königliches Lesevergnügen.
Von Patrick Bahners
Unter dem Titel "Beschreibung des Menschen" hat Manfred Sommer vor fünf Jahren Texte zur Anthropologie aus dem Nachlass Hans Blumenbergs zu einem Buch vereinigt. Der Herausgeber ordnet die Manuskripte Vorlesungen zu, die Blumenberg um 1980 an der Universität Münster hielt. Ein Leitmotiv dieser Überlegungen zu einer möglichen Wissenschaft vom Menschen ist die Sichtbarkeit, in die der Mensch sich schickte, als er den Urwald verließ, um auf zwei Beinen zu gehen. Auf der leeren Fläche kann er sich nicht mehr verstecken. Und er kann vor den Feinden nicht mehr fliehen, die auf ihren vier Beinen mindestens doppelt so schnell laufen wie er. Er bleibt stehen und darf hoffen, den Verfolger zur Strecke zu bringen. Denn er hat die Hände frei. Indem er sich Waffen zurechtlegt, trifft er Vorsorge gegen Gefahren, die ihm in seinem Rücken drohen.
Der Kulturkritik, die der Unmittelbarkeit nachtrauert, hält Blumenberg ihre Naivität vor. Mittelbarkeit ist für die Menschen überlebensnotwendig: die Fähigkeit zur actio per distans, zum Handeln aus der räumlichen Distanz und im zeitlichen Vorgriff. Die Kultur ist dem Menschen zweite Natur geworden. Damit ist ein Risiko der Selbstschädigung gegeben: Die Optimierung von Vorsichtsmaßnahmen kann Sicherheiten zerstören, selbstverständlich gewordene Lernerfolge der Gattung. Normalerweise ist es dem Weiterleben dienlich, dass dem Menschen, der sein Leben Revue passieren lässt, bestimmte Ereignisse aus dem Blick geraten sind. Der klinische Befund der Amnesie ist die pathologische Version eines alltäglichen Zustands. Blumenberg spielt ein Science-Fiction-Szenario durch: Die "Vorsorgemedizin" könnte den Gedächtnisverlust durch Vorführung biographischer Dokumentarfilme heilen wollen, die den Patienten ihre verdrängten Täterschaften zweifelsfrei vor Augen führen würden. "Die Fiktion idealer Prophylaxe für amnestische Traumata lässt schaudern."
Blumenberg begnügt sich nicht mit der Evidenz dieser Feststellung, sondern führt ein Indiz aus der Kulturproduktion seiner Epoche an. Die "technisch dauerhaft realisierte Visibilität" wäre schlechthin unerträglich - das belege "die Erinnerung an einen schändlichen Jokus der frühen Fernsehzeit, das Arbeiten mit versteckter Kamera auf in Verlegenheiten gebrachte Passanten". Der Universalismus von Blumenbergs Referenzen verblüfft immer wieder. Diese Stelle frappiert aber auch, weil hier nebenbei Blumenbergs Kulturoptimismus hervortritt. Die versteckte Kamera war für ihn vollkommen fraglos ein Apparat der Vergangenheit. Ihm dämmerte nicht, was, nach gattungsgeschichtlichem Zeitmaß, unmittelbar bevorstand: der Eintritt des Fernsehens ins Zeitalter einer durch unverborgene Kameras hergestellten permanenten Rundumsichtbarkeit - unter ironischer Bezugnahme auf George Orwell.
Wenn nun aber der mit moralischen Bewertungen jederzeit knauserige Philosoph schon den harmlosen Schabernack eines Chris Howland mit dem Fluchwort des Schändlichen belegte - wie müsste Hans Blumenberg es dann aufnehmen, dass die Schriftstellerin Sibylle Lewitscharoff ihn mit den Mitteln ihrer Kunst in den Zustand der Visibilität versetzt und dass sie ihr Äquivalent der Kamera dort installiert, wo Blumenberg sich allen Blicken entzog: im Arbeitszimmer in seinem Haus in Altenberge? Er empfing dort keine Besucher, sondern nahm lediglich in großen Abständen Telefonanrufe handverlesener Gesprächspartner entgegen. Die Unüberschreitbarkeit der Schwelle zum Rückzugsraum war nach den Usancen des bürgerlichen Umgangs dadurch gesichert, dass alle Aktivität im Arbeitszimmer sich in der Nacht abspielte.
Von Telefonfreunden Blumenbergs kann man sprechen, wenn man den Begriff in strikter Analogie zu den Brieffreunden früherer Kindergenerationen bildet, die durch einen Zwischenraum von der Art des Atlantiks getrennt waren. Drei abwesende Vertraute sollen in die Gestalt des Redakteurs eingegangen sein, der in Sibylle Lewitscharoffs Roman den Philosophen zu überreden versucht, eine Glosse darüber zu schreiben, warum er sich weigert, über Gut und Böse zu philosophieren: zwei Berufskollegen der Romanfigur und ein Verleger (aber nicht der Verleger von Blumenbergs Büchern). Man erzählt sich, dass die beiden Zeitungsredakteure, die viel für die Verbreitung und Erklärung von Blumenbergs Werk unternahmen, ihn nie zu Gesicht bekommen haben.
Das Ansinnen, sich vor diesem Hintergrund Hans Blumenberg als Leser des Romans "Blumenberg" vorzustellen, provoziert die Einrede, dieser Versuch sei selbst eine solche Grenzüberschreitung, wie sie nach Durchführung des Versuchs der Autorin womöglich vorgeworfen werden müsste. Blumenbergs Beschreibungen des Menschen kreisen freilich um die Frage, wie wir überhaupt zu Innenansichten fremder Subjektivität gelangen. Wenn ein Mensch, so ein Wesen, das mit leeren Händen am Urwaldrand auftaucht, in Gedanken die Stelle eines anderen Menschen einnimmt, der ihn mit einem Steinwurf töten könnte, heißt das dann schon, dass er sich, wie die Formel lautet, in den anderen hineinversetzt? Ob sich Menschenkenntnis im Gedankenexperiment gewinnen lässt, erkundet Blumenberg durch Gedankenexperimente. Mit diesen phänomenologischen Analysen teilt der Roman "Blumenberg" die heikle Materie und die Subtilität der Methode.
Der Blumenberg des Romans versieht 1982 seine Dienstgeschäfte als bestallter Professor der Universität Münster, indem er seine Sichtbarkeit auf das unausweichliche Minimum reduziert. Er betritt den Hörsaal im Schloss durch eine Seitentür und verlässt ihn nach pünktlichem Schluss der Stunde auf gleichem Wege ebenso rasch, wie er gekommen ist. Mantel und Homburghut signalisieren, dass er nicht aufgehalten zu werden wünscht. Das Vertrackte an der Situation ist, dass gerade die Unauffälligkeit von Aufund Abtritt die Sichtbarkeit des Professors in den Augen der Studenten oder jedenfalls einiger Studenten enorm steigert. Vier Hörer von Blumenbergs Vorlesung nennt der Erzähler mit Namen, die an Blumenberg etwas bemerken, wofür ihre Kommilitonen kein Organ haben. Isa, Gerhard, Richard und Hansi nehmen die Aura ihres Professors wahr. "Es war, als hätten sie etwas gerochen, mit feinen Instinkthärchen etwas erspürt, das üblicherweise nicht in einen Vorlesungssaal gehörte."
Für die eigentümliche Ausstrahlung Blumenbergs an diesem sonst nicht weiter bemerkenswerten Nachmittag bietet der Roman eine rationale Erklärung in Gestalt einer mythischen Erzählung. Da ist wirklich etwas um Blumenberg. Er hat einen Begleiter bei sich, ein Tier, das sich auf der rechten Seite des Saals niedergelassen hat, "malerisch anzusehen", allerdings nur für Blumenberg. Isa auf ihrem Stammplatz ganz vorne sieht immerhin, dass der Professor einen Fleck nahe der Wand fixiert. Das Tier sieht auch sie nicht. Es hatte in der Nacht vor der Vorlesung auf einmal auf dem Teppich in Blumenbergs Arbeitszimmer gelegen: "Groß, gelb, atmend; unzweifelhaft ein Löwe."
So widerfährt dem Philosophen, dass er kurz vor der Emeritierung in die Ursituation der Menschwerdung versetzt wird: Wie der Urmensch, der den Urwald an der falschen Stelle verlassen hat, sieht er sich seinem geborenen Feind gegenüber, dem stärksten Raubtier. Allerdings macht der Löwe keine Anstalten, sein Gegenüber zu verschlingen. Es scheint tollkühn, dass Blumenberg sich einbildet, ihn schütze "der große schwere Schreibtisch", aber er soll recht behalten. Wie hat der Mensch überlebt? Blumenbergs Antwort in den anthropologischen Schriften: durch Begriffe. Um eine Löwenfalle zu bauen, muss der Mensch sich vorstellen, wie der Löwe in die Falle geht, das heißt: sich das abwesende Tier anwesend denken. Es ist der Witz der Begriffsbildung, dass man diese Arbeit am Schreibtisch verrichten kann. Ein Zoologe muss den Löwen nicht sehen und erst recht nicht riechen, um ihn wissenschaftlich zu bestimmen. Der Blumenberg des Romans ist nun aber so erfolgreich in der Beschwörung des Abwesenden, dass ihn der Löwe eines Tages mit seiner Anwesenheit belohnt. So kann es gehen, wenn der ständige Umgang mit Gedankendingen die Lebenswelt ausmacht.
Blumenberg versteht den Löwen sofort richtig: als Assistenzfigur des tapferen Philosophen, als symbolische Anerkennung für sein Lebenswerk. Zur ersten Tagung der Forschungsgruppe Poetik und Hermeneutik trug Hans Blumenberg 1964 ein Referat über Wirklichkeitsbegriff und Möglichkeit des Romans bei. Für den Romancier, führte er aus, gibt es keine evident wirklichen Einzeldinge. Wirklichkeit stellt sich nur im Kontext her, als durchgehaltener syntaktischer Zusammenhang. Sibylle Lewitscharoffs "Blumenberg" ist ein königliches Lesevergnügen, weil es im Kontext der Romanwirklichkeit absolut glaubwürdig ist, dass in der Studierstube eines an die Einsamkeit gewöhnten Philosophen eines Nachts ein Löwe erscheint.
Die Zweifel an der Wirklichkeit des Löwen sind Teil der Wirklichkeit des Romans, bleiben aber, um den Blumenberg von 1964 zu zitieren, "immer noch in zu viel imaginativ vorausgesetzte und miterzeugte Welt eingebettet, als dass die blanke Absurdität wirklich je zum Thema werden könnte". Hochkomisch ist es, dass Blumenberg nicht aus der Rolle fällt, sich erst gar nicht auf den Abwehrzauber der Abstraktion einlässt, den Versuch, sich den anwesenden Löwen abwesend zu denken.
Die Vorlesungsstunde, in die der Löwe Blumenberg begleitet, hat dasselbe Thema wie ein Kapitel der von Sommer edierten Aufzeichnungen: Trostbedürfnis und Untröstlichkeit des Menschen. Das moderne Denken, legt der Blumenberg des Nachlasses dar, hält den Trost für eine Selbsttäuschung, weil er "eine Vermeidung von Bewusstsein ist". Der Blumenberg des Romans fügt unter den Augen des Löwen an: "Die Bewusstseinsprogramme, die wir uns verschrieben haben, die fortwährenden Ansporne, mehr Bewusstsein zu schaffen, sie nötigen uns dazu, unsere Entscheidungen nach Maßgabe des Realismus zu treffen. Das herrische Einfallen der Sachen in die Worte beraubt uns der Fähigkeit, Trost zu spenden, Trost zu empfangen."
Vom Löwen sieht Blumenberg sich getröstet und von der Pflicht zum Realismus entlastet. Er verzichtet darauf, mit der Hand die Probe darauf zu machen, ob tatsächlich ein leibhaftiger Löwe vor ihm sitzt. "Blumenberg war schon im Begriff, aufzustehen und zu ihm hinüberzugehen, doch rechtzeitig besann er sich auf das Gebot der actio per distans und blieb sitzen. Zu große Nähe konnte alles zerstören."
Die Studentin Isa behält aus der Vorlesung den Imperativ im Gedächtnis, man müsse "den Absolutismus der Wirklichkeit abbauen und zu einer Figur der schönen Resignation werden". Sie findet keinen Tröster und stürzt sich von einer Autobahnbrücke in den Tod. Der Professor bemerkt das Fehlen des Mädchens, das immer in der ersten Reihe saß, stellt aber keine Verbindung zur Zeitungsnotiz über die Selbstmörderin her.
Allen vier Studenten, die aus der Masse heraustreten, dichtet der Erzähler einen frühen und grausamen Tod an. Als Blumenberg des Löwen ansichtig wird, weiß er, welche Rolle ihm höheren Orts zugedacht ist: Mit dem Gefährten des Kirchenvaters Hieronymus ist das Bild des asketischen Gelehrten komplett. Auf vier ergänzenden kleinen Tafeln schildert der Erzähler, dass die philosophische Lebensform lebensgefährlich ist. Man kann die Selbstzerstörung begabter Studenten als Fernwirkung der rednerischen Handlungen des charismatischen Lehrers ansehen.
Auf dem letzten Blatt der Notizen zum Trostbedürfnis gibt Blumenberg andererseits zugunsten der Rhetorik zu bedenken, sie habe immer Bedeutung gehabt "für die Herbeiführung gehobener Gestimmtheit und Lebensfreude des Menschen". Gewiss verschleiere sie oft die wahren Gründe für das menschliche Elend, doch sei das als wahr Erkannte deshalb noch nicht behebbar. Diskret lüftet Sibylle Lewitscharoff den Schleier der lebensgeschichtlichen Erfahrungen, die begreifen lassen, warum Blumenberg den Löwenbezähmer Hieronymus nicht als Sonderling abtat, sondern die gesamte Kultur ins Bild des Gehäuses fasste, eines Gebäudes der kunstreichen Sicherungen. Der Erzähler lässt Blumenberg sich nach der Vorlesung aus dem fahrenden Gehäuse des Automobils heraus am Anblick der im Dunkel versinkenden Landschaft freuen. "Er war in gehobener Stimmung und erwartete die Nacht."
Der Roman "Blumenberg" ist erstaunlich kurz. Die emblematische Absicht stiftet perspektivische Einheit im Reichtum der biographischen und sozialhistorischen Details. Der Leser dieser Legende eines weltlichen Heiligen wird in gehobene Stimmung versetzt und erwartet den Tag.
Sibylle Lewitscharoff: "Blumenberg". Roman.
Suhrkamp Verlag, Berlin 2011. 221 S., geb., 21,90 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Perlentaucher-Notiz zur FR-Rezension
Als "fabelhafte Hommage" an den Philosophen Hans Blumenberg liest Judith von Sternburg den neuen Roman von Sibylle Lewitscharoff. Das Werk zeigt für sie einen Blumenberg in "Hochform". Erstaunlich findet sie schon die Eröffnung des Romans, in der der Philosoph in seinem Arbeitszimmer einen leibhaftigen Löwen begegnet, die Fassung bewahrt und über den Löwen in Natur, Kultur und Religion nachdenkt. Und auch später taucht der Löwe immer wieder auf, etwa bei einer Vorlesung, nur dass ihn die Studenten nicht sehen können. Zudem folgt der Roman zur Freude Sternburgs auch den Wegen von vier Studenten und Blumenberg-Verehrern. Das wirkt auf sie nie zu "possierlich", dafür kombiniert Lewitscharoff das Ganze viel zu gekonnt mit dem Pessimistischen, vor allem aber sehr klug: "Alles ist sinnlos, aber bedeutungsvoll."
© Perlentaucher Medien GmbH
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»Enorme Sprachkunst, feiner Witz und metaphorische Vertracktheit könnten den Roman zu einem Star des Herbstes werden lassen.«
Matthias Waha, Süddeutsche Zeitung 31.08.2011
Matthias Waha, Süddeutsche Zeitung 31.08.2011
»... und schon jetzt kann man sagen, dass sie in Berlin lebende Schriftstellerin damit einen der bedeutensten und wohl auch erfolgreichsten Romane in diessem herbst vorgelegt hat.«