Die Historiker Sönke Neitzel und Bastian Matteo Scianna legen die erste Gesamtdarstellung der deutschen Syrienpolitik seit Beginn des Bürgerkriegs 2011 vor. Sie zeigen die Probleme einer Außenpolitik auf, die angesichts der katastrophalen Lage in Syrien in Schockstarre verfiel. Neitzel und Scianna konstatieren eine Diskrepanz zwischen der wirtschaftlichen Macht der Bundesrepublik und der geringen Bereitschaft, einer gewachsenen politischen Verantwortung im internationalen Krisenmanagement gerecht zu werden.
Ihr Fazit: Es fehlt hierzulande eine strategische Kultur im Umgang mit militärischen Konflikten. Stattdessen besteht die deutsche Außenpolitik oftmals aus einer handlungsarmen, aber selbstgerechten Ratschlaggeberei von der Seitenlinie, die eine gemeinsame westliche Haltung erschwert.
Ihr Fazit: Es fehlt hierzulande eine strategische Kultur im Umgang mit militärischen Konflikten. Stattdessen besteht die deutsche Außenpolitik oftmals aus einer handlungsarmen, aber selbstgerechten Ratschlaggeberei von der Seitenlinie, die eine gemeinsame westliche Haltung erschwert.
Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
Rezensent Rainer Hermann sieht sich bestätigt mit dem Buch der Militärhistoriker Sönke Neitzel und Bastian Matteo Scianna: Deutschland wird seiner Verantwortung in der Welt nicht gerecht, zumindest, was die Krisen in Syrien und Libyen angeht. Das verdeutlichen die Autoren laut Hermann durch ihre Analyse des Handelns beziehungsweise Nichthandelns und Abwartens Deutschlands im internationalen Krisenmanagement. Dass die Autoren die Gründe dafür in einer fehlenden strategischen Kultur bei militärischen Konflikten vermuten, kann Hermann nachvollziehen. Für den Rezensenten ein niederschmetterndes Fazit.
© Perlentaucher Medien GmbH
© Perlentaucher Medien GmbH
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 11.05.2021"Vorreiter der moralischen Entrüstung"
Folgen der deutschen Kultur der Zurückhaltung am Beispiel des Konflikts in Syrien
Starker Tobak: Deutschland habe wohl nicht zu jedem Zeitpunkt des Syrien-Konflikts abseitsgestanden. Vor allem sei dies aber dann der Fall gewesen, "wenn innerhalb der westlichen Allianz ein verstärktes Eingreifen diskutiert oder praktiziert wurde". Mit seinem Nichthandeln habe sich Deutschland gegenüber den Partnern nicht als ein verlässlicher Partner erwiesen, und für die syrische Bevölkerung sei diese verheerend, "gewissermaßen eine ,blutige Enthaltung'".
Diese Anklage erheben zwei Wissenschaftler vom Historischen Institut der Universität Potsdam. Sönke Neitzel ist dort Lehrstuhlinhaber für Militärgeschichte und Kulturgeschichte der Gewalt, Bastian Matteo Scianna wissenschaftlicher Mitarbeiter. Am Beispiel des Syrien-Konflikts untersuchen sie die Haltung Deutschlands in internationalen Krisen und zeichnen dabei überzeugend nach, wie das wirtschaftlich starke Deutschland den gestiegenen Erwartungen in der Welt nicht gerecht wird und wie es im internationalen Krisenmanagement auch keine politische Verantwortung übernimmt. Verantwortlich dafür machen sie unter anderem das Fehlen einer strategischen Kultur im Umgang mit militärischen Konflikten.
Dabei hatte im Februar 2014 Bundespräsident Joachim Gauck eine aktivere Rolle Deutschlands in der internationalen Politik gefordert, um unsere Werte glaubhaft zu verteidigen. Deutschland solle "sich als guter Partner früher, entschiedener und substantieller einbringen", es dürfe nicht "vor Bedrohungen fliehen" und bei der Frage eines Einsatz der Bundeswehr "nicht aus Prinzip nein" sagen, forderte Gauck. Geändert hat sein Appell nicht viel. Und so rechnen Neitzel und Scianna mit dieser deutschen "Kultur der strategischen Zurückhaltung" ab.
Begonnen haben die Proteste gegen das Regime von Baschar al-Assad im März 2011. Die meisten westlichen Analysten rechneten mit seinem baldigen Sturz, und so entwickelten die Regierungen auch keine Pläne für den Fall, dass sich Assad doch an der Macht halten kann. Dann schaute der Westen zu, als die Nachbarstaaten im Sommer 2011 Syrien zum Schlachtfeld eines regionalen Stellvertreterkriegs machten. Schon da zeigte sich zum ersten Mal die fehlende Bereitschaft Deutschlands, einen Beitrag zur Beendigung des Konflikts zu leisten.
Kaum hatte UN-Generalsekretär Ban Ki-moon im Februar 2012 eine internationale Friedensmission vorgeschlagen, hatte die schwarz-gelbe Regierung eine Beteiligung daran schon ausgeschlossen. An die neue UNSMIS-Mission entsandte Deutschland gerade einmal einen Stabsoffizier, während andere europäische Staaten schneller und entschlossener handelten. Als dann die Nato Ende 2012 Pläne für ein militärisches Eingreifen ausarbeitete, kritisierte Berlin das scharf. Deutschland war nicht bereit, am selbstformulierten Ziel, Assads Herrschaft zu beenden, mitzuwirken. Und so fehlte eine glaubhafte Drohkulisse, und die Forderungen nach einer politischen Lösung verpufften.
Dass eine solche Wirkung hat, zeigte sich, als US-Präsident Barack Obama nach einem Giftgasangriff im August 2013 mit Luftangriffen drohte. Andere schlossen sich an. Was tat da die Bundesregierung? Sie unterstützte die Partner nicht einmal politisch, sondern wollte UN-Berichte abwarten und untergrub so eine gemeinsame westliche Haltung. Das Regime erklärte jedoch seine Bereitschaft, seine Chemiewaffen aufzugeben. Jedoch war die Bundesregierung nicht bereit, in Syrien selbst bei der Vernichtung der Chemiewaffenbestände zu helfen. Und so zeichnete sich das bekannte Muster ab: "Unterstützungsbekundungen für eine internationale Mission gefolgt von Wegducken bei der Frage nach aktiver deutscher Hilfe." Wieder einmal war Deutschland "Vorreiter der moralischen Entrüstung und des Einforderns von Einsätzen, die andere ausführen sollten".
Zu einem vorsichtige Umdenken führten erst der Terror des IS und der mögliche Genozid an den Jesiden im Sommer 2014. Im Syrien-Konflikt blieb die Bundesregierung zwar weiterhin passiv, sie lieferte aber nun an die kurdischen Peschmerga im Irak Waffen und unterstützte die Ausbildung der irakischen Armee. So konnte die Bundesregierung sagen, sie tue etwas. Damit wendete sie aber auch eine stärkere Verwicklung in den Konflikt ab. Selbst wenn nach den Terroranschlägen vom 13. November 2015 in Paris der deutsche Beitrag im Kampf gegen den IS aufgestockt wurde, blieb er im Vergleich zu anderen, oft kleineren Nationen begrenzt. Das gilt auch für die Sahelzone, die neue Front im Kampf gegen den Terror. Selbst mittelgroße Staaten wie Dänemark und Norwegen leisten mehr als Deutschland, das sich "in einer oftmals grotesken nationalen Nabelschau hochlobte", so das harte Urteil der Autoren.
Das bekannte Muster setzte sich auch in der aktuell letzten Phase des Syrien-Konflikts fort: politischer Druck in internationalen Gremien, wirtschaftliche Sanktionen, aber bitte keine militärische Operation. Eine solche war aber erforderlich geworden, als das Assad-Regime im April 2018 wieder Giftgas einsetzte. Als Antwort feuerten amerikanische, französische und britische Flugzeuge rund 100 Marschflugkörper gegen Ziele in Syrien ab. Die Korvette Magdeburg, die mit schweren Flugkörpern ausgestattet vor der Küste Libanons im Einsatz war, beteiligte sich nicht. Deutschland stand wieder einmal als Zuschauer abseits von seinen engsten Partnern. Als Verteidigungsministerin Annegret Kramp-Karrenbauer im Juli 2019 eine internationale Sicherheitszone in Nordsyrien mit deutscher Beteiligung vorschlug, zermalmte Außenminister Heiko Maas das Projekt umgehend.
Was für Syrien gilt, trifft auch für Libyen zu. Auch dort hat das deutsche Nichthandeln andere zum Eingreifen ermuntert. Dabei trägt Deutschland als Zielland der ausgelösten Fluchtbewegungen die Folgen der Konflikte. Das Fazit der Autoren ist niederschmetternd: Die deutsche Haltung bestehe in leeren Worthülsen und in der Hoffnung, dass sich alles irgendwie von selbst lösen möge, schreiben sie. "Deutschland - ein verlässlicher Partner, wenn es kracht und zischt? Wohl kaum." Die Autoren haben recht: Ein solches Deutschland wird seiner Verantwortung in der Welt nicht gerecht. Der Vorwurf, Trittbrettfahrer auf Kosten von Dritten zu sein, ist nicht aus der Luft gegriffen.
RAINER HERMANN
Sönke Neitzel/ Bastian Matteo Scianna: Blutige Enthaltung. Deutschlands Rolle im Syrienkrieg.
Herder Verlag, Freiburg 2021. 160 S., 18,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Folgen der deutschen Kultur der Zurückhaltung am Beispiel des Konflikts in Syrien
Starker Tobak: Deutschland habe wohl nicht zu jedem Zeitpunkt des Syrien-Konflikts abseitsgestanden. Vor allem sei dies aber dann der Fall gewesen, "wenn innerhalb der westlichen Allianz ein verstärktes Eingreifen diskutiert oder praktiziert wurde". Mit seinem Nichthandeln habe sich Deutschland gegenüber den Partnern nicht als ein verlässlicher Partner erwiesen, und für die syrische Bevölkerung sei diese verheerend, "gewissermaßen eine ,blutige Enthaltung'".
Diese Anklage erheben zwei Wissenschaftler vom Historischen Institut der Universität Potsdam. Sönke Neitzel ist dort Lehrstuhlinhaber für Militärgeschichte und Kulturgeschichte der Gewalt, Bastian Matteo Scianna wissenschaftlicher Mitarbeiter. Am Beispiel des Syrien-Konflikts untersuchen sie die Haltung Deutschlands in internationalen Krisen und zeichnen dabei überzeugend nach, wie das wirtschaftlich starke Deutschland den gestiegenen Erwartungen in der Welt nicht gerecht wird und wie es im internationalen Krisenmanagement auch keine politische Verantwortung übernimmt. Verantwortlich dafür machen sie unter anderem das Fehlen einer strategischen Kultur im Umgang mit militärischen Konflikten.
Dabei hatte im Februar 2014 Bundespräsident Joachim Gauck eine aktivere Rolle Deutschlands in der internationalen Politik gefordert, um unsere Werte glaubhaft zu verteidigen. Deutschland solle "sich als guter Partner früher, entschiedener und substantieller einbringen", es dürfe nicht "vor Bedrohungen fliehen" und bei der Frage eines Einsatz der Bundeswehr "nicht aus Prinzip nein" sagen, forderte Gauck. Geändert hat sein Appell nicht viel. Und so rechnen Neitzel und Scianna mit dieser deutschen "Kultur der strategischen Zurückhaltung" ab.
Begonnen haben die Proteste gegen das Regime von Baschar al-Assad im März 2011. Die meisten westlichen Analysten rechneten mit seinem baldigen Sturz, und so entwickelten die Regierungen auch keine Pläne für den Fall, dass sich Assad doch an der Macht halten kann. Dann schaute der Westen zu, als die Nachbarstaaten im Sommer 2011 Syrien zum Schlachtfeld eines regionalen Stellvertreterkriegs machten. Schon da zeigte sich zum ersten Mal die fehlende Bereitschaft Deutschlands, einen Beitrag zur Beendigung des Konflikts zu leisten.
Kaum hatte UN-Generalsekretär Ban Ki-moon im Februar 2012 eine internationale Friedensmission vorgeschlagen, hatte die schwarz-gelbe Regierung eine Beteiligung daran schon ausgeschlossen. An die neue UNSMIS-Mission entsandte Deutschland gerade einmal einen Stabsoffizier, während andere europäische Staaten schneller und entschlossener handelten. Als dann die Nato Ende 2012 Pläne für ein militärisches Eingreifen ausarbeitete, kritisierte Berlin das scharf. Deutschland war nicht bereit, am selbstformulierten Ziel, Assads Herrschaft zu beenden, mitzuwirken. Und so fehlte eine glaubhafte Drohkulisse, und die Forderungen nach einer politischen Lösung verpufften.
Dass eine solche Wirkung hat, zeigte sich, als US-Präsident Barack Obama nach einem Giftgasangriff im August 2013 mit Luftangriffen drohte. Andere schlossen sich an. Was tat da die Bundesregierung? Sie unterstützte die Partner nicht einmal politisch, sondern wollte UN-Berichte abwarten und untergrub so eine gemeinsame westliche Haltung. Das Regime erklärte jedoch seine Bereitschaft, seine Chemiewaffen aufzugeben. Jedoch war die Bundesregierung nicht bereit, in Syrien selbst bei der Vernichtung der Chemiewaffenbestände zu helfen. Und so zeichnete sich das bekannte Muster ab: "Unterstützungsbekundungen für eine internationale Mission gefolgt von Wegducken bei der Frage nach aktiver deutscher Hilfe." Wieder einmal war Deutschland "Vorreiter der moralischen Entrüstung und des Einforderns von Einsätzen, die andere ausführen sollten".
Zu einem vorsichtige Umdenken führten erst der Terror des IS und der mögliche Genozid an den Jesiden im Sommer 2014. Im Syrien-Konflikt blieb die Bundesregierung zwar weiterhin passiv, sie lieferte aber nun an die kurdischen Peschmerga im Irak Waffen und unterstützte die Ausbildung der irakischen Armee. So konnte die Bundesregierung sagen, sie tue etwas. Damit wendete sie aber auch eine stärkere Verwicklung in den Konflikt ab. Selbst wenn nach den Terroranschlägen vom 13. November 2015 in Paris der deutsche Beitrag im Kampf gegen den IS aufgestockt wurde, blieb er im Vergleich zu anderen, oft kleineren Nationen begrenzt. Das gilt auch für die Sahelzone, die neue Front im Kampf gegen den Terror. Selbst mittelgroße Staaten wie Dänemark und Norwegen leisten mehr als Deutschland, das sich "in einer oftmals grotesken nationalen Nabelschau hochlobte", so das harte Urteil der Autoren.
Das bekannte Muster setzte sich auch in der aktuell letzten Phase des Syrien-Konflikts fort: politischer Druck in internationalen Gremien, wirtschaftliche Sanktionen, aber bitte keine militärische Operation. Eine solche war aber erforderlich geworden, als das Assad-Regime im April 2018 wieder Giftgas einsetzte. Als Antwort feuerten amerikanische, französische und britische Flugzeuge rund 100 Marschflugkörper gegen Ziele in Syrien ab. Die Korvette Magdeburg, die mit schweren Flugkörpern ausgestattet vor der Küste Libanons im Einsatz war, beteiligte sich nicht. Deutschland stand wieder einmal als Zuschauer abseits von seinen engsten Partnern. Als Verteidigungsministerin Annegret Kramp-Karrenbauer im Juli 2019 eine internationale Sicherheitszone in Nordsyrien mit deutscher Beteiligung vorschlug, zermalmte Außenminister Heiko Maas das Projekt umgehend.
Was für Syrien gilt, trifft auch für Libyen zu. Auch dort hat das deutsche Nichthandeln andere zum Eingreifen ermuntert. Dabei trägt Deutschland als Zielland der ausgelösten Fluchtbewegungen die Folgen der Konflikte. Das Fazit der Autoren ist niederschmetternd: Die deutsche Haltung bestehe in leeren Worthülsen und in der Hoffnung, dass sich alles irgendwie von selbst lösen möge, schreiben sie. "Deutschland - ein verlässlicher Partner, wenn es kracht und zischt? Wohl kaum." Die Autoren haben recht: Ein solches Deutschland wird seiner Verantwortung in der Welt nicht gerecht. Der Vorwurf, Trittbrettfahrer auf Kosten von Dritten zu sein, ist nicht aus der Luft gegriffen.
RAINER HERMANN
Sönke Neitzel/ Bastian Matteo Scianna: Blutige Enthaltung. Deutschlands Rolle im Syrienkrieg.
Herder Verlag, Freiburg 2021. 160 S., 18,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 31.05.2021Die Friedensmacht,
die sich wegduckt
Eine Abrechnung über Berlins Rolle im Syrien-Krieg
Der Kampf gegen den gewaltigen Klimawandel und seine Finanzierung: Na klar. Pflege, Gesundheit, Corona-Politik: Muss ja. Identitätspolitik und gendergerechte Sprache: Aber hallo. Außen- und Verteidigungspolitik, Menschenrechte und Fluchtursachen hingegen: Eher weniger bis kein bisschen.
Der Bundestagswahlkampf geht in die Aufwärmphase, und die Themen, die Politiker platzieren, zeigen wieder einmal eine deutliche Lücke: Während die Deutschen sich mit hoher Frequenz selbst umkreisen und ausgiebig bespiegeln, richten sie nur dann einen Blick nach außen, wenn es sich kaum vermeiden lässt – etwa, weil Verbündete das Thema Nord Stream 2 penetrant aufs Tapet bringen. Und wenn sich der Co-Vorsitzende der Grünen auf Frontbesuch in der Ukraine zum Thema Waffenlieferungen verplappert, ist das eher ein Versehen – das zu Hause als Störung wahrgenommen und schnell korrigiert wird.
In diese auffällige Stille hinein rufen Sönke Neitzel und Bastian Matteo Scianna vom Historischen Institut der Universität Potsdam. Mit „Blutige Enthaltung – Deutschlands Rolle im Syrienkrieg“ haben die beiden einen schmalen Band hingelegt, der nicht die Ambition hat, Preise in der Kategorie erzählendes Sachbuch abzuräumen. Die beiden empfinden keine dramatischen Geheimdienstbriefings, nächtliche Entscheidungsrunden im Kanzleramt oder hitzige Telefonate mit Washington reportagehaft nach, sie geben in nüchternem Stil einen Anstoß zum Nachdenken: Am Beispiel des nun zehn Jahre andauernden Blutvergießens in Nahost deklinieren sie die seltsame außenpolitische Zurückhaltung durch, die in Deutschland gerne als besonnenes Handeln einer Friedensmacht verklärt wird, von den Verbündeten aber ziemlich oft eher als Kneifen empfunden wird.
Obwohl der Konflikt in Syrien durch die dadurch entfesselte Fluchtbewegung immense Auswirkungen auf Deutschland hat – um zurück zum inneren Gleichgewicht zu finden, wird die Bundesrepublik nicht nur eine Million Flüchtlinge, sondern auch eine noch höhere Zahl an AfD-Wählern (wieder) integrieren müssen–, verfiel Berlin laut der Analyse von Neitzel und Scianna in ein altbekanntes Muster: „Unterstützungsbekundungen für eine internationale Mission gefolgt von Wegducken bei der Frage nach aktiver deutscher Hilfe jenseits von Finanzmitteln.“
Ob der Außenminister nun Westerwelle, Steinmeier oder Maas hieß: Deutschland sei immer vorne mit dabei gewesen, wenn es darum ging, Menschenrechtsverletzungen mit eindeutigen Worten zu verurteilen, analysieren die Autoren – und sehr weit hinten, wenn es darum ging, etwas zu tun. Am einprägsamsten illustriert das die Farce um die kurzlebige UN-Überwachungsmission UNSMIS für Syrien 2012: Berlin versprach, immerhin zehn der 300 vorgesehenen Beobachter zu stellen. Entsandt wurde dann ein einzelner Verbindungsoffizier – der aber nie in Syrien ankam, weil die Mission vorher abgebrochen wurde.
Als „Vorreiter beim Einfordern internationaler Einsätze, die andere ausführen sollen“, gerate Deutschland „in die Rolle des ungeliebten reichen Onkels“, der nur noch deshalb dazugebeten wird, „weil irgendjemand die Zeche zahlen muss“. Das ist freilich polemisch, internationale Politik besteht aus mehr als nur dem Entsenden von Soldaten für Beobachtungs- und Friedensmissionen (an denen sich die Bundeswehr in Afghanistan im Übrigen seit fast zwanzig beteiligt). Wohl, weil mit Verhandlungen und sanftem Druck bei Charakteren wie Baschar al-Assad, Wladimir Putin und Ali Chamenei nur wenig zu erreichen ist, beleuchten die Autoren die Rolle der deutschen Diplomatie in dem Konflikt nur wenig. Und dass etwa die Geberkonferenzen für Syrien ohne den reichen Onkel eine ziemlich traurige Veranstaltung geworden wären – und die Not der Syrer im eigenen Land und in den Nachbarstaaten noch erheblich größer –, könnte man durchaus stärker gewichten. Im März etwa sammelten UN und EU insgesamt 5,3 Milliarden Euro Hilfe ein und blieben damit weit hinter dem Ziel. Während Länder mit aktivistischerer Außenpolitik sich vornehm zurückhielten, leistete Deutschland mit 1,7 Milliarden Euro eine Rekordspende.
Dennoch ist „Blutige Enthaltung“ ein Beitrag, der in Berlin und im Rest der Republik wahrgenommen werden sollte. Über Außenpolitik wird in diesem Land zu wenig diskutiert, nicht nur im Wahlkampf, der einfache Parolen verlangt, die so weit entfernten wie komplexen Konflikten kaum gerecht werden können. Doch abgesehen vom äußersten linken und rechten Rand scheint unter den Parteien ein außenpolitischer Konsens zu herrschen, eine ganz große Koalition, deren Politik oft als alternativlos dargestellt wird. Was sie jedoch nicht ist, wie das Beispiel Syrien zeigt: Zu Recht beklagen Neitzel und Scianna, dass Bundeskanzlerin Angela Merkel und ihre jeweiligen Außenminister mit Blick auf die Umfragen aus innenpolitischem Kalkül mehrfach militärische Drohkulissen eingerissen haben, bevor diese überhaupt Wirkung auf Damaskus entfalten konnten.
Natürlich birgt eine Politik, die mit Ultimaten, Truppenaufmärschen und scheinbar begrenzten Interventionen operiert, immer die Gefahr, Dynamiken zu entfachen, die später schwer zu kontrollieren sind. Neitzel und Scianna deklinieren das selbst am Beispiel Libyen durch. Doch auch, wenn der Eingriff dort rückblickend gesehen ziemlich schiefging, ist der Militärhistoriker Neitzel keiner, der die Truppe nur zum Brunnenbauen einsetzen möchte. „Wir brauchen den Soldaten als Kämpfer und Krieger, müssen das Kriegshandwerk wieder lernen“, sagte er vergangenes Jahr bei einem Gespräch über sein vielbeachtetes Buch „Deutsche Krieger“ (Propyläen, 2020), in dem er das Selbstverständnis deutscher Soldaten vom Kaiserreich bis heute untersuchte.
Diese Sicht kann man als die eines Interventionisten geißeln, man kann und muss an die deutsche Geschichte erinnern, die bis heute die Außenpolitik der Bundesrepublik prägt. Doch man sollte sich mit den Argumenten von Neitzel und Scianna auseinandersetzen. Denn dass „leere Worthülsen“ Berlins und die „Hoffnung, dass sich alles irgendwie selbst lösen möge“, nicht nachhaltig sind, zeigt eine Wahl, die eben zu Ende ging: In einer Show-Abstimmung hat sich Syriens Dauerherrscher Baschar al-Assad vergangene Woche wiederwählen lassen, nach 21 Jahren an der Macht tritt er nun die vierte Amtszeit an. Wenn die 2028 abläuft, wird die brutale Herrschaft seiner Familie über das Land fast 60 Jahre gedauert haben. Und diese Art von Kontinuität kann nicht das Ziel deutscher Außenpolitik sein.
MORITZ BAUMSTIEGER
Menschenrechtsverletzungen
anprangern: Ja; etwas konkretes
dagegen tun: Nein
„Wir brauchen den
Soldaten als Krieger“,
findet Sönke Neitzel
Sönke Neitzel,
Bastian Matteo Scianna:
Blutige Enthaltung. Deutschlands Rolle im Syrienkrieg. Herder-Verlag, Freiburg 2021,
160 Seiten, 18 Euro.
DIZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.sz-content.de
die sich wegduckt
Eine Abrechnung über Berlins Rolle im Syrien-Krieg
Der Kampf gegen den gewaltigen Klimawandel und seine Finanzierung: Na klar. Pflege, Gesundheit, Corona-Politik: Muss ja. Identitätspolitik und gendergerechte Sprache: Aber hallo. Außen- und Verteidigungspolitik, Menschenrechte und Fluchtursachen hingegen: Eher weniger bis kein bisschen.
Der Bundestagswahlkampf geht in die Aufwärmphase, und die Themen, die Politiker platzieren, zeigen wieder einmal eine deutliche Lücke: Während die Deutschen sich mit hoher Frequenz selbst umkreisen und ausgiebig bespiegeln, richten sie nur dann einen Blick nach außen, wenn es sich kaum vermeiden lässt – etwa, weil Verbündete das Thema Nord Stream 2 penetrant aufs Tapet bringen. Und wenn sich der Co-Vorsitzende der Grünen auf Frontbesuch in der Ukraine zum Thema Waffenlieferungen verplappert, ist das eher ein Versehen – das zu Hause als Störung wahrgenommen und schnell korrigiert wird.
In diese auffällige Stille hinein rufen Sönke Neitzel und Bastian Matteo Scianna vom Historischen Institut der Universität Potsdam. Mit „Blutige Enthaltung – Deutschlands Rolle im Syrienkrieg“ haben die beiden einen schmalen Band hingelegt, der nicht die Ambition hat, Preise in der Kategorie erzählendes Sachbuch abzuräumen. Die beiden empfinden keine dramatischen Geheimdienstbriefings, nächtliche Entscheidungsrunden im Kanzleramt oder hitzige Telefonate mit Washington reportagehaft nach, sie geben in nüchternem Stil einen Anstoß zum Nachdenken: Am Beispiel des nun zehn Jahre andauernden Blutvergießens in Nahost deklinieren sie die seltsame außenpolitische Zurückhaltung durch, die in Deutschland gerne als besonnenes Handeln einer Friedensmacht verklärt wird, von den Verbündeten aber ziemlich oft eher als Kneifen empfunden wird.
Obwohl der Konflikt in Syrien durch die dadurch entfesselte Fluchtbewegung immense Auswirkungen auf Deutschland hat – um zurück zum inneren Gleichgewicht zu finden, wird die Bundesrepublik nicht nur eine Million Flüchtlinge, sondern auch eine noch höhere Zahl an AfD-Wählern (wieder) integrieren müssen–, verfiel Berlin laut der Analyse von Neitzel und Scianna in ein altbekanntes Muster: „Unterstützungsbekundungen für eine internationale Mission gefolgt von Wegducken bei der Frage nach aktiver deutscher Hilfe jenseits von Finanzmitteln.“
Ob der Außenminister nun Westerwelle, Steinmeier oder Maas hieß: Deutschland sei immer vorne mit dabei gewesen, wenn es darum ging, Menschenrechtsverletzungen mit eindeutigen Worten zu verurteilen, analysieren die Autoren – und sehr weit hinten, wenn es darum ging, etwas zu tun. Am einprägsamsten illustriert das die Farce um die kurzlebige UN-Überwachungsmission UNSMIS für Syrien 2012: Berlin versprach, immerhin zehn der 300 vorgesehenen Beobachter zu stellen. Entsandt wurde dann ein einzelner Verbindungsoffizier – der aber nie in Syrien ankam, weil die Mission vorher abgebrochen wurde.
Als „Vorreiter beim Einfordern internationaler Einsätze, die andere ausführen sollen“, gerate Deutschland „in die Rolle des ungeliebten reichen Onkels“, der nur noch deshalb dazugebeten wird, „weil irgendjemand die Zeche zahlen muss“. Das ist freilich polemisch, internationale Politik besteht aus mehr als nur dem Entsenden von Soldaten für Beobachtungs- und Friedensmissionen (an denen sich die Bundeswehr in Afghanistan im Übrigen seit fast zwanzig beteiligt). Wohl, weil mit Verhandlungen und sanftem Druck bei Charakteren wie Baschar al-Assad, Wladimir Putin und Ali Chamenei nur wenig zu erreichen ist, beleuchten die Autoren die Rolle der deutschen Diplomatie in dem Konflikt nur wenig. Und dass etwa die Geberkonferenzen für Syrien ohne den reichen Onkel eine ziemlich traurige Veranstaltung geworden wären – und die Not der Syrer im eigenen Land und in den Nachbarstaaten noch erheblich größer –, könnte man durchaus stärker gewichten. Im März etwa sammelten UN und EU insgesamt 5,3 Milliarden Euro Hilfe ein und blieben damit weit hinter dem Ziel. Während Länder mit aktivistischerer Außenpolitik sich vornehm zurückhielten, leistete Deutschland mit 1,7 Milliarden Euro eine Rekordspende.
Dennoch ist „Blutige Enthaltung“ ein Beitrag, der in Berlin und im Rest der Republik wahrgenommen werden sollte. Über Außenpolitik wird in diesem Land zu wenig diskutiert, nicht nur im Wahlkampf, der einfache Parolen verlangt, die so weit entfernten wie komplexen Konflikten kaum gerecht werden können. Doch abgesehen vom äußersten linken und rechten Rand scheint unter den Parteien ein außenpolitischer Konsens zu herrschen, eine ganz große Koalition, deren Politik oft als alternativlos dargestellt wird. Was sie jedoch nicht ist, wie das Beispiel Syrien zeigt: Zu Recht beklagen Neitzel und Scianna, dass Bundeskanzlerin Angela Merkel und ihre jeweiligen Außenminister mit Blick auf die Umfragen aus innenpolitischem Kalkül mehrfach militärische Drohkulissen eingerissen haben, bevor diese überhaupt Wirkung auf Damaskus entfalten konnten.
Natürlich birgt eine Politik, die mit Ultimaten, Truppenaufmärschen und scheinbar begrenzten Interventionen operiert, immer die Gefahr, Dynamiken zu entfachen, die später schwer zu kontrollieren sind. Neitzel und Scianna deklinieren das selbst am Beispiel Libyen durch. Doch auch, wenn der Eingriff dort rückblickend gesehen ziemlich schiefging, ist der Militärhistoriker Neitzel keiner, der die Truppe nur zum Brunnenbauen einsetzen möchte. „Wir brauchen den Soldaten als Kämpfer und Krieger, müssen das Kriegshandwerk wieder lernen“, sagte er vergangenes Jahr bei einem Gespräch über sein vielbeachtetes Buch „Deutsche Krieger“ (Propyläen, 2020), in dem er das Selbstverständnis deutscher Soldaten vom Kaiserreich bis heute untersuchte.
Diese Sicht kann man als die eines Interventionisten geißeln, man kann und muss an die deutsche Geschichte erinnern, die bis heute die Außenpolitik der Bundesrepublik prägt. Doch man sollte sich mit den Argumenten von Neitzel und Scianna auseinandersetzen. Denn dass „leere Worthülsen“ Berlins und die „Hoffnung, dass sich alles irgendwie selbst lösen möge“, nicht nachhaltig sind, zeigt eine Wahl, die eben zu Ende ging: In einer Show-Abstimmung hat sich Syriens Dauerherrscher Baschar al-Assad vergangene Woche wiederwählen lassen, nach 21 Jahren an der Macht tritt er nun die vierte Amtszeit an. Wenn die 2028 abläuft, wird die brutale Herrschaft seiner Familie über das Land fast 60 Jahre gedauert haben. Und diese Art von Kontinuität kann nicht das Ziel deutscher Außenpolitik sein.
MORITZ BAUMSTIEGER
Menschenrechtsverletzungen
anprangern: Ja; etwas konkretes
dagegen tun: Nein
„Wir brauchen den
Soldaten als Krieger“,
findet Sönke Neitzel
Sönke Neitzel,
Bastian Matteo Scianna:
Blutige Enthaltung. Deutschlands Rolle im Syrienkrieg. Herder-Verlag, Freiburg 2021,
160 Seiten, 18 Euro.
DIZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.sz-content.de