Anfang Juli 1941 begann Rumänien an der Seite Deutschlands seinen Vernichtungskrieg im Osten. In den ersten Kriegstagen kam es in der Nordbukowina und in Bessarabien zu Massenmorden an der jüdischen Bevölkerung. Täter waren meist rumänische Soldaten und Gendarmen. Vielerorts beteiligten sich die Nachbarn der Juden an den Massakern oder initiierten selbst Pogrome. Simon Geissbühler schildert die Vorgeschichte der antisemitischen Radikalisierung im Rumänien der Zwischenkriegszeit und rekonstruiert minutiös die bislang kaum untersuchten blutigen Ereignisse des Sommers 1941. Er analysiert die Motive und Handlungsspielräume der Täter und fügt die wenigen Zeugnisse zusammen, die vom Leiden der Opfer berichten. Die Suche nach der Erinnerung an die jüdische Geschichte und den Holocaust in Rumänien macht der Autor zum Thema des letzten Teils des Buches. Beeindruckende Fotografien verfallender Mahnmale, Massengräber und Friedhöfe zeigen: Viel ist nicht geblieben; die jüdische Vergangenheitwurde weitgehend aus der öffentlichen Wahrnehmung verbannt. Ein eindringliches Buch, das durch den Blick aufs Detail neue Einsichten in die regionalen Variationen des Holocausts in Osteuropa eröffnet und die historische Analyse mit dem kritischen Blick auf die Gegenwart verbindet.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 21.10.2013Antonescus Vernichtungsfeldzug
Die rumänische Führung und die Massaker an Juden im Jahr 1941: Suche nach Erinnerungsorten
Welchen Anteil hatten die mit Deutschland verbündeten Länder an der Vernichtung des europäischen Judentums? In Rumänien war diese Frage lange tabu. Zwar konnte im vergangenen Jahrzehnt eine internationale Kommission zeigen, dass das Regime Antonescus bei der Durchführung des Holocaust aus ureigenstem Antrieb mitwirkte. In der rumänischen Historiographie und Öffentlichkeit wirken Verdrängung und Leugnung dennoch fort. Wenig erforscht sind die Ereignisse in der Nordbukowina und in Bessarabien im Juli 1941, also in jenen Gebieten, die Rumänien 1940 an Stalin abtreten musste und die es nach dem deutschen Angriff auf die Sowjetunion mit Unterstützung der Wehrmacht zurückeroberte.
Auf Grundlage der Sekundärliteratur sowie von Autobiographien, Memoiren und Interviews Überlebender zeichnet Simon Geissbühler die gezielten Mordaktionen rumänischer Soldaten und Polizeikräfte gegen die jüdische Bevölkerung nach. Die zentrale These ist, dass die Verantwortung für die frühen pogromartigen Erschießungen ganz auf Seiten der rumänischen Führung und ihrer Armee liegt. Aber auch einfache Nachbarn wirkten an der Verfolgung, an Plünderungen und Massentötungen mit. Ihre Motivlage ist nur schwer zu eruieren. Wahrscheinlich handelten sie aus ideologischen und ökonomischen Motiven oder ließen sich vom Gruppendruck verleiten. Die Beweggründe der Haupttäter, Kollaborateure und Mitläufer waren jedenfalls so stark, dass es spezifischer Befehle aus Bukarest oder Berlin gar nicht bedurfte. Der Autor schätzt, dass allein im Juli und August 1941 in den "befreiten" Gebieten mindestens 43 500 Juden ermordet wurden. Insgesamt fielen 300 000 bis 400 000 Juden im Machtbereich Rumäniens dem Holocaust zum Opfer.
Geissbühler folgt der Interpretation der internationalen Holocaust-Kommission, indem er gegen das traditionelle Geschichtsbild in Rumänien anschreibt, das alle Schuld für das Morden bei den Deutschen sah. Hingegen führte Antonescu im eigenen Machtbereich einen Vernichtungsfeldzug gegen die jüdische Bevölkerung, der auf einen tief in der Gesellschaft verwurzelten Antisemitismus zurückzuführen ist und an dem sich viele Menschen offenbar freiwillig beteiligten. Der Massenmord war demnach kein Nebenprodukt des Krieges, sondern gewollt und geplant. Zwar führte von antijüdischen Stimmungen der Zwischenkriegszeit kein direkter Weg zur Vernichtung der Juden, jedoch gab es seit den dreißiger Jahren einen kumulativen Radikalisierungsprozess, der die Logik der Eskalation unumkehrbar machte. Juden wurden als Fremde ausgegrenzt, zu Sündenböcken gestempelt und schließlich zu gefährlichen Staatsfeinden erklärt, die man ausplündern durfte und die es zu eliminieren galt. Die Judenvernichtung erscheint so als Fortsetzung antisemitischer Gewalt im radikalisierten Kontext des Eroberungskrieges.
Das Buch des Historikers und Diplomaten Geissbühler nahm mit der Beobachtung seinen Ausgang, dass es heute kaum noch Spuren jüdischen Lebens in der Nordbukowina und in Bessarabien gibt. Als Fotograf und Reiseschriftsteller suchte er häufig vergeblich nach jüdischen Erinnerungsorten. Ihre historische Präsenz wurde fast vollkommen aus der öffentlichen Wahrnehmung verbannt. So fing er an, gegen das Nicht-wissen-Wollen und die Kultur der Verdrängung anzuarbeiten, dokumentierte die Massaker vom Juli 1941 im ländlichen Raum und forschte nach den Motiven des Vergessens. Zuweilen hat die Erschütterung über die Leugnung der Vergangenheit den Autor dieses lesenswerten Überblickswerkes davongetragen. So nimmt er die Ereignisse vom Juli 1941 zum Maßstab, den Antisemitismus und die Judenpolitik in Rumänien an sich zu deuten. Weil die ersten Kriegswochen aber eine Ausnahmesituation darstellten und das Geschehen nicht in längeren zeitlichen und breiteren räumlichen Zusammenhängen eingeordnet wird, entsteht ein etwas verzerrtes Bild.
Welche Beschlüsse Antonescus Regime wann und warum fasste, verliert sich im Narrativ des rumänischen "Dauerpogroms". Ebenso bleibt die Rolle Deutschlands unterbelichtet. Immerhin marschierten mit den rumänischen auch deutsche Truppen in die Bukowina und nach Bessarabien ein. Dass die Wehrmacht faktisch als Besatzungsmacht auftrat und die Einsatzgruppe D dem in den Ostgebieten üblichen Mordgeschäft nachging, findet kaum Beachtung. So bleibt unklar, auf welche Art deutsche und rumänische Stellen bei der antisemitischen Verfolgung in Rumänien zusammenwirkten und wie sich das alles in Hitlers großen Plan zur Vernichtung der europäischen Juden einordnete. Dass die rumänische Führung einen erheblichen Anteil an der Durchführung des Holocaust in Rumänien hat, ist nicht zu leugnen, auch wenn sie im Frühjahr 1943 die Deportationen einstellte. Es wäre an der Zeit, den deutschen und den rumänischen Tat-Anteil im Zusammenhang zu beleuchten und die Ereignisse multiperspektivisch aufzuarbeiten.
JEAN-MARIE CALIC.
Simon Geissbühler: Blutiger Juli. Rumäniens Vernichtungskrieg und der vergessene Massenmord an den Juden 1941. Verlag Ferdinand Schöningh, Paderborn 2013. 229 S., 26,90 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Die rumänische Führung und die Massaker an Juden im Jahr 1941: Suche nach Erinnerungsorten
Welchen Anteil hatten die mit Deutschland verbündeten Länder an der Vernichtung des europäischen Judentums? In Rumänien war diese Frage lange tabu. Zwar konnte im vergangenen Jahrzehnt eine internationale Kommission zeigen, dass das Regime Antonescus bei der Durchführung des Holocaust aus ureigenstem Antrieb mitwirkte. In der rumänischen Historiographie und Öffentlichkeit wirken Verdrängung und Leugnung dennoch fort. Wenig erforscht sind die Ereignisse in der Nordbukowina und in Bessarabien im Juli 1941, also in jenen Gebieten, die Rumänien 1940 an Stalin abtreten musste und die es nach dem deutschen Angriff auf die Sowjetunion mit Unterstützung der Wehrmacht zurückeroberte.
Auf Grundlage der Sekundärliteratur sowie von Autobiographien, Memoiren und Interviews Überlebender zeichnet Simon Geissbühler die gezielten Mordaktionen rumänischer Soldaten und Polizeikräfte gegen die jüdische Bevölkerung nach. Die zentrale These ist, dass die Verantwortung für die frühen pogromartigen Erschießungen ganz auf Seiten der rumänischen Führung und ihrer Armee liegt. Aber auch einfache Nachbarn wirkten an der Verfolgung, an Plünderungen und Massentötungen mit. Ihre Motivlage ist nur schwer zu eruieren. Wahrscheinlich handelten sie aus ideologischen und ökonomischen Motiven oder ließen sich vom Gruppendruck verleiten. Die Beweggründe der Haupttäter, Kollaborateure und Mitläufer waren jedenfalls so stark, dass es spezifischer Befehle aus Bukarest oder Berlin gar nicht bedurfte. Der Autor schätzt, dass allein im Juli und August 1941 in den "befreiten" Gebieten mindestens 43 500 Juden ermordet wurden. Insgesamt fielen 300 000 bis 400 000 Juden im Machtbereich Rumäniens dem Holocaust zum Opfer.
Geissbühler folgt der Interpretation der internationalen Holocaust-Kommission, indem er gegen das traditionelle Geschichtsbild in Rumänien anschreibt, das alle Schuld für das Morden bei den Deutschen sah. Hingegen führte Antonescu im eigenen Machtbereich einen Vernichtungsfeldzug gegen die jüdische Bevölkerung, der auf einen tief in der Gesellschaft verwurzelten Antisemitismus zurückzuführen ist und an dem sich viele Menschen offenbar freiwillig beteiligten. Der Massenmord war demnach kein Nebenprodukt des Krieges, sondern gewollt und geplant. Zwar führte von antijüdischen Stimmungen der Zwischenkriegszeit kein direkter Weg zur Vernichtung der Juden, jedoch gab es seit den dreißiger Jahren einen kumulativen Radikalisierungsprozess, der die Logik der Eskalation unumkehrbar machte. Juden wurden als Fremde ausgegrenzt, zu Sündenböcken gestempelt und schließlich zu gefährlichen Staatsfeinden erklärt, die man ausplündern durfte und die es zu eliminieren galt. Die Judenvernichtung erscheint so als Fortsetzung antisemitischer Gewalt im radikalisierten Kontext des Eroberungskrieges.
Das Buch des Historikers und Diplomaten Geissbühler nahm mit der Beobachtung seinen Ausgang, dass es heute kaum noch Spuren jüdischen Lebens in der Nordbukowina und in Bessarabien gibt. Als Fotograf und Reiseschriftsteller suchte er häufig vergeblich nach jüdischen Erinnerungsorten. Ihre historische Präsenz wurde fast vollkommen aus der öffentlichen Wahrnehmung verbannt. So fing er an, gegen das Nicht-wissen-Wollen und die Kultur der Verdrängung anzuarbeiten, dokumentierte die Massaker vom Juli 1941 im ländlichen Raum und forschte nach den Motiven des Vergessens. Zuweilen hat die Erschütterung über die Leugnung der Vergangenheit den Autor dieses lesenswerten Überblickswerkes davongetragen. So nimmt er die Ereignisse vom Juli 1941 zum Maßstab, den Antisemitismus und die Judenpolitik in Rumänien an sich zu deuten. Weil die ersten Kriegswochen aber eine Ausnahmesituation darstellten und das Geschehen nicht in längeren zeitlichen und breiteren räumlichen Zusammenhängen eingeordnet wird, entsteht ein etwas verzerrtes Bild.
Welche Beschlüsse Antonescus Regime wann und warum fasste, verliert sich im Narrativ des rumänischen "Dauerpogroms". Ebenso bleibt die Rolle Deutschlands unterbelichtet. Immerhin marschierten mit den rumänischen auch deutsche Truppen in die Bukowina und nach Bessarabien ein. Dass die Wehrmacht faktisch als Besatzungsmacht auftrat und die Einsatzgruppe D dem in den Ostgebieten üblichen Mordgeschäft nachging, findet kaum Beachtung. So bleibt unklar, auf welche Art deutsche und rumänische Stellen bei der antisemitischen Verfolgung in Rumänien zusammenwirkten und wie sich das alles in Hitlers großen Plan zur Vernichtung der europäischen Juden einordnete. Dass die rumänische Führung einen erheblichen Anteil an der Durchführung des Holocaust in Rumänien hat, ist nicht zu leugnen, auch wenn sie im Frühjahr 1943 die Deportationen einstellte. Es wäre an der Zeit, den deutschen und den rumänischen Tat-Anteil im Zusammenhang zu beleuchten und die Ereignisse multiperspektivisch aufzuarbeiten.
JEAN-MARIE CALIC.
Simon Geissbühler: Blutiger Juli. Rumäniens Vernichtungskrieg und der vergessene Massenmord an den Juden 1941. Verlag Ferdinand Schöningh, Paderborn 2013. 229 S., 26,90 [Euro].
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Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
Der Themenkomplex harrt immer noch seiner multiperspektivischen Aufarbeitung, meint Rezensent Jean-Marie Calic. Die Studie des Historikers Simon Geissbühler findet er zwar lobenswert, da der Autor gegen das Vergessen und das traditionelle Geschichtsbild in Rumänien anschreibt, indem er aus Autobiografien und Interviews Überlebender den Radikalisierungsprozess aufzeigt, der den Massenmord an den rumänischen Juden unter Beteiligung der Staatsführung und der rumänischen Bevölkerung zur Folge hatte. Das so entstehende Bild scheint dem Rezensenten allerdings unvollständig, da es die Rolle Deutschlands unterbelichtet, wie er schreibt, und seinen Tat-Anteil verschweigt.
© Perlentaucher Medien GmbH
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