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Warum führen Menschen Krieg? Nicht der Aggressionstrieb oder die Jagd stehen am Ursprung seiner Geschichte, sondern die - in blutigen Ritualen stets neu inszenierte - Angst, selbst Opfer zu sein. Aus evolutionsgeschichtlicher Sicht entwickelt die amerikanische Publizistin Barbara Ehrenreich in diesem in Amerika bereits heiß diskutierten Buch eine Theorie, die unser Verständnis des Krieges und der Faszination der Gewalt revolutioniert.

Produktbeschreibung
Warum führen Menschen Krieg? Nicht der Aggressionstrieb oder die Jagd stehen am Ursprung seiner Geschichte, sondern die - in blutigen Ritualen stets neu inszenierte - Angst, selbst Opfer zu sein. Aus evolutionsgeschichtlicher Sicht entwickelt die amerikanische Publizistin Barbara Ehrenreich in diesem in Amerika bereits heiß diskutierten Buch eine Theorie, die unser Verständnis des Krieges und der Faszination der Gewalt revolutioniert.
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 03.02.1998

Den allerletzten beißt der Mensch
Barbara Ehrenreich jagt den Kriegsgewinnler der Naturgeschichte

Der Mensch war ursprünglich nicht Jäger, sondern Beute. Mit dem Mut zum Einfachen hat die amerikanische Journalistin Barbara Ehrenreich ihre Sache auf nichts als diese These gestellt. Sie bedeutet: Eigentlich ist der Mensch gut. So gut wie auch die Gewalt, die der Mensch, zuerst wehrlos und unschuldig wie ein Kind, in dunkler Vorzeit zur Selbstverteidigung gegen allgegenwärtige und übermächtige wilde Tiere auszuüben lernen mußte. Aber woher, wenn denn nicht aus einem Aggressionstrieb, aus der angeborenen Wolfsnatur des Jägers und Sammlers, kommt dann die Lust an der Gewalt gegen Artgenossen? Wie also kam das "Böse" in die Welt?

Ehrenreichs "Blutrituale" gleichen einer spekulativen Treibjagd durchs Unterholz der anthropologischen, ethnologischen, mythologischen, historischen, biologischen Forschung. Was ihr in den Weg kommt, wird aufgespießt und dient zur empirischen Unterfütterung dieser furiosen Gewalttheorie: der Mensch als Beute, als sehr langsamer, aber am Ende übers Ziel hinausschießender Karrierist der Nahrungskette. Akademisch hochgezüchtete Differenzierungen müssen da vielleicht manchmal auf der Strecke bleiben. Aber was ist dagegen zu sagen bei einem Buch, das für klassische Fragen eine einfache Antwort anbietet, ohne flach zu sein?

Die naturgeschichtlichen Beutestücke, die Ehrenreich heimträgt, besudeln das Nest unserer parvenühaften Überlegenheitsgefühle. Unsere Vorfahren waren nicht nur hilflose Beute von Leoparden, Tigern oder Wölfen, sondern sie profitierten gleichzeitig auf unappetitliche Weise von ihren Jägern: als Aasfresser verschlangen sie die liegengebliebenen Reste anderer Beutetiere. Besonders schwächere Hordenmitglieder verschwanden immer wieder im Rachen bösartiger Ungeheuer; menschliche Selbstbehauptung machte aus dieser Not eine Tugend. Einzelne wurden als Sündenböcke geopfert. So konnte die Gruppe Zeit zum Fliehen gewinnen. Um die Demütigung dieser vorauseilenden Opferbereitschaft zu kaschieren, erfand eine blutige Religion den Wiederholungszwang religiöser Menschenopfer.

Aus Raubtieren wurden zornige, aber auch nahrungspendende Götter. Unsere Vorfahren mußten sie durch Opfergaben anlocken und beschenken, um sie andererseits wieder mit Mut und Geschicklichkeit von ihrer Beute vertreiben zu können. Umgekehrt verwandeln sich die menschlichen Beutetiere durch religiöse Riten selbst in raubtierhafte Wesen: Der Priester, der das Blut von Opfertieren vergießt, setzt den Menschen an die Stelle seiner fleischfressenden Götter; den Drachentöter, der sich selbst opfert und die menschlichen Herdentiere schützt, verklärt die verängstigte Horde zum märchenhaften Helden und Halbgott. In der verzweifelten Rebellion gegen die Götter entsteht zunächst das geschlechtsübergreifende rauschhafte Gefühl defensiver Solidarität - für Ehrenreich die Quelle aller erhebenden Gefühle, die wir dem Krieg entgegenbringen. Zuerst berauschte uns der Mut machende Lärm der Meute, dann eine männliche Lust an der Gewalt, schließlich die massenmedial angeheizte Kriegsbegeisterung, die triumphiert über alle Gegensätze von Klasse, Rasse, Religion, Geschlecht, Bildung. Doch wie wurden zuerst Verteidigungsmittel in Angriffswaffen umgeschmiedet, wie wuchs sich dann der Krieg gegen Tiere zum heiligen Krieg gegen Menschen aus?

Die Autorin gewährt sich einen argumentativen Spielraum von Kontinenten und Jahrtausenden, in denen sie Menschen und Tiere vor sich her treibt. Eine Überzahl von Tieren begünstigt die Evolution von Gemeinschaften, deren kreischende Solidarität dem Fluchtinstinkt trotzt; wenn die Beutetiere knapp werden, müssen Raubtiere durch Opfer angelockt werden; hohe Tierbestände erlauben den menschlichen Gemeinschaften lärmende Hetzjagden, um das Wild in Sümpfe oder über Felsklippen zu treiben: eine zurückgehende Fauna hat die Technik der leisen, geduldigen Pirschjagd zur Folge. Sie bleibt dem männlichen Heldenkrieger und seinen Distanzwaffen Pfeil und Bogen vorbehalten und beendet die Herrschaft der Raubtier-Göttin. Das Aussterben ganzer Arten am Ende der Eiszeit führt zur Erfindung des Ackerbaus und des Krieges. Denn den Menschen droht Hunger und den Helden Prestigeverlust, wenn es nichts mehr zu töten gibt. Der jagende Mensch war ein Faktor bei der Dezimierung des Tierbestands; er selbst schuf so die Notwendigkeit, bei der Trophäenjagd auf den Mitmenschen als Opfer auszuweichen.

Die ersten Kriege hatten danach keinen wirtschaftlichen Zweck; sie befriedigten einen sportlichen Ehrgeiz. Dabei konnten einerseits religiöse Wahnvorstellungen diesem Treiben den Anschein von Sinn geben; andererseits war der Zwang zur Verteidigung bereits im Rüstungswettlauf der Mittleren Steinzeit durchaus keine Einbildung. Der Krieg wurde zum Selbstläufer. Er beherrscht nicht nur die Gefühle, er prägt auch die materielle Verfassung der Kultur. Aus der Form der Waffen folgt in vielem die Struktur der politischen Ökonomie. Die gesellschaftliche Arbeitsteilung ermöglicht die mehr oder weniger komplizierten Waffentechniken; die Gewalt dieser Waffen schweißt die Menschen ihrerseits zusammen, indem sie sie terrorisiert, kontrolliert, begeistert, berauscht, in Ekstase versetzt. Krieg macht Staaten.

Der mitreißende spekulative Schwung dieser nicht immer neuen Thesen erhält einen zusätzlichen Impetus durch einen Vergleich nationalistischer Opferkulte: des faschistischen, japanischen und amerikanischen. Und nach einem Durchlauf durch die Militärgeschichte bis zum Golfkrieg entlädt er sich in einer Systemtheorie des Krieges als einer sich selbst reproduzierenden, quasibiologischen kulturellen Einheit. Ein paar hundert Jahre Aufklärung vermögen wenig gegen religiöse Instinkte, die seit Jahrtausenden in unserer sozialen Existenz eingefleischt sind. Die Sakralisierung der Gewalt war das Produkt existentieller Bedrohung. Man muß wohl wie die Autorin Bürger einer Nation mit Supermachtstatus sein, um glauben zu können, daß ein Sieg über das Raubtier möglich sei, das wir in uns herangezüchtet haben. CHRISTOPH ALBRECHT

Barbara Ehrenreich: "Blutrituale". Ursprung und Geschichte der Lust am Krieg. Aus dem Englischen von Wolfgang Heuss. Verlag Antje Kunstmann, München 1997. 328 S., geb., 42,- DM.

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